Fluchtgeschichte und fragwürdige Abschiebepraxis

Abdul besitzt, wie viele Asylsuchende, keine Identitätspapiere. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Einige Asylsuchende haben nie welche besessen, manche ihre Papiere auf der Flucht verloren, andere haben sie aus Angst vor Abschiebungen vernichtet. Für die europäischen Zielstaaten ist das ein Problem, denn in einer Welt voller Grenzen und Behörden gibt es ohne Papiere auch keine Abschiebungen. So begann die Bundesrepublik Deutschland damit, Delegationen aus Herkunftsstaaten einzuladen, damit diese abgelehnten Asylsuchenden Passersatzpapiere ausstellen – womit die Abschiebung der Geflüchteten ermöglicht wird. [...]

Der Freitag berichtete schon 2016 von Falschidentifizierungen. Der damalige Artikel zitiert ein Bremer Gericht, das kritisierte, dass Papiere wohl auch auf Basis von Kopf- und Körperformen ausgestellt würden. Ein Sprecher der Innenverwaltung erklärte auf taz-Nachfrage, derartige Praktiken gebe es in Berlin nicht. Dagegen fragt Aissatou Cherif Balde von der Initiative Guinée Solidaire: „Wie sollen die Delegationen sonst entscheiden, wenn die Begutachteten sich weigern zu sprechen? Und selbst wenn sie reden: Die Grenzen in Afrika sind fiktiv, von europäischen Kolonialherren mit dem Lineal gezogen. Das Ganze ist Wahnsinn.“

„Neokoloniale Abhängigkeiten“

Laut Balde haben afrikanische Regierung häufig keine andere Wahl, als mit den europäischen Staaten zu kooperieren. Sie seien „in die neokolonialen Abhängigkeiten des globalen Kapitalismus eingebunden“. Wie aus Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht, werden die Tätigkeiten der De­le­ga­ti­ons­mit­glie­der zudem durch finanzielle Aufwendungen versüßt: So erhielt etwa die guineische Delegation 2020 Tagesgelder von 100 Euro pro Person – neben insgesamt über 20.000 Euro für Unterkunft, Verpflegung, Anreise, Dol­met­sche­r:in­nen und „sonstige Kosten“. Delegierte anderer westafrikanischer Länder lassen sich pro ausgestelltem Passpapier – also pro Abschiebung – bezahlen.

Full titleBerliner Schandtaten: Berlin lässt abgelehnte Asyl­be­wer­be­r von Delegationen aus vermuteten Herkunftsländern „begutachten“. Auch Abdul A. droht deshalb die Abschiebung.
AuthorUnspecified
PublisherTAZ
Year2021
Media typeArticle
Linkhttps://taz.de/Fragwuerdige-Abschiebepraxis/!5758976/
Topics Detention, Deportation & Pushbacks, Migration Routes & Transport, Perspectives on Migration
Regions Europe

Back to index