„Ziel ist Migrationsverhinderung“

taz: Herr Ziai, 1960 wurde das Solidaritätskomitee der DDR gegründet, 1961 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Was hat die deutsche Entwicklungspolitik in 60 Jahren für soziale Gerechtigkeit getan?

Aram Ziai: Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Entwicklungspolitik für globale soziale Gerechtigkeit sorgen soll. Ich denke, dass das ein verkürztes Verständnis ist. Der Entstehungskontext der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zeigt, dass es nicht nur darum geht, den „armen Menschen im globalen Süden zu helfen“. Geopolitische und außenwirtschaftliche Motive waren und sind immer präsent. Nach dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, vor dem Hintergrund antikolonialer Bewegungen hatte die EZ auch die Funktion, Versprechen zu geben. [...]

12,43 Milliarden Euro, die Deutschland 2021 für EZ ausgibt, sind doch kein kleines Licht.

Doch. Der Umfang der staatlichen Gelder, die als Entwicklungshilfe nach Süden gehen, liegt weltweit pro Jahr zwischen 150 bis 200 Milliarden US-Dollar. Die BRD hat einen relativ großen Anteil daran. Der Nettotransfer von Süden nach Norden aber beträgt jedes Jahr 1.000 Milliarden. Dabei spielen Profite, die in den Norden zurückfließen, eine Rolle, Schuldendienst oder eben Steuerflucht. Die Entwicklungspolitik versucht seit Langem, Armutsbekämpfung zu betreiben, ohne den Reichen auf die Füße zu treten. Eine konsequente Politik müsste eingestehen: Wenn die entscheidenden Parameter für Ungleichheit in der Weltwirtschaft zu finden sind, müssten eben auch diese Strukturen in den Blick geraten und auf das Ziel der Armutsbekämpfung ausgerichtet werden. [...]

[Der scheidende Entwicklungsminister] Müller wurde auch dafür gelobt, dass der Entwicklungshaushalt auf die von der UNO vorgesehenen 0,7 Prozent des BIP anwuchs

Das 0,7-Prozent-Ziel wurde nach 2015 erreicht, und zwar deswegen, weil die Aufwendungen für Geflüchtete zum Entwicklungsbudget gerechnet wurden. Damit einher ging aber – das ist auch Minister Müller anzurechnen –, dass Entwicklungspolitik noch mal stärker zu Migrationspolitik wurde. Das zeigt, wie sich die Entwicklungspolitik daran orientiert, was innenpolitisch gerade gefragt ist. Das kommt als Viertes zu den bereits erwähnten drei Motiven hinzu: das übergreifende Ziel seit 2015 ist „Flucht­ursachenbekämpfung“, wenn man es böswillig auslegt „Migrationsverhinderung“. Organisationen wie Medico International fordern hingegen das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen. In diesem Bereich lässt die Politik der BRD und der EU allgemein zu wünschen übrig.

Full titleExperte über deutsche Entwicklungspolitik: „Ziel ist Migrationsverhinderung"
AuthorUnspecified
PublisherTAZ
Year2021
Media typeUnspecified
Linkhttps://taz.de/Experte-ueber-deutsche-Entwicklungspolitik/!5789748/
Topics Perspectives on Migration, European Externalization Policies & Cash Flows
Regions Europe

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