GEAS, Meloni und die Lage in Tunesien
Juni 21st, 2023 - von: migration-control.info
Beitragsbild: Bei einem Besuch in Sfax sprach Präsident Kais Saïed über die Situation irregulärer Migrant*innen und betonte, dass Tunesien sich weigere, den Türhüter für Europa zu spielen. Credit: Tunigate
GEAS
Die Beschlüsse der Innenminister*innen und des EU Rats zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem vom 8. Juni 2023 sind vielerorts auf Empörung gestoßen. Zahlreiche Initiativen und Organisationen, Kirchenverbände, die Flüchtlingsanwält*innen, die Linke und die grüne Jugend haben protestiert, so wie auch viele Aktivist*innen innerhalb und außerhalb Europas.
Die Asylverfahrensverordnung (AVVO) und die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMM-VO) werden nach Annahme durch das EU-Parlament in allen Mitgliedstaaten gültig sein. Wer sich durch die Verordnungen hindurcharbeiten will, findet diese hier:
- Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds],
- Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU.
Pro Asyl hat seit Wochen auf die Gefahren der AVVO und der AMM-VO hingewiesen und die Veränderungen kommentiert. Auch der Mediendienst Migration hat fünf Fragen formuliert, welche die neuen Verfahren problematisieren. Eine zusammenfassende Kritik hat Clara Taxis im Disorient-Magazin veröffentlicht. Anwält*innen im Migrationsrecht haben die Beschlüsse in ihrer großen Anzeige als “Ausverkauf der Rechte von Schutzsuchenden” bezeichnet. Was werden die Beschlüsse außer dieser Entrechtung mit sich bringen?
Geld, Waffen, Hot-Spots und ein Fragezeichen
Die GEAS-Beschlüsse enthalten besondere Hilfen für Ankunftsstaaten, mit denen der Grenzschutz verstärkt und neue Hot-Spots mit EU-Geldern errichtet werden können. Hot-Spots wie die neuen „closed controlled access centres“ werden auch in Italien, Spanien, vielleicht auch im Polen oder Bulgarien, errichtet werden.
Es ist von 30 000 Haftplätzen die Rede. Aber die Zahl der Geflüchteten und Migrant*innen ist zehnmal so hoch. Was soll mit all diesen entrechteten Menschen passieren? Werden sie auf unbestimmte Zeit, womöglich jahrelang festgehalten, so wie in den griechischen Lagern auf Lesvos, Samos oder Kos geschah? Ein Teil der Häftlinge wird schließlich Asyl bekommen und umverteilt werden. Alle anderen sollen zügig deportiert werden – aber wohin? FRONTEX steht allen Mitgliedsstaaten zur Verfügung, die Zahl der Abschiebungsflüge zu steigern, aber die Herkunftsländer sind seit Jahren nicht bereit, gegen die eigenen Interessen zu kooperieren.
Die Beschlüsse streben zudem eine effektive Begrenzung der Moblilität der Geflüchteten und Migrant*innen zwischen den Mitgliedstaaten an. Wie soll das bewerkstelligt werden? Noch mehr Racial Profiling? Oder eher eine Ausweitung digitaler und biometrischer Überwachungssysteme wie Gesichtskontrollen? Die Verhandlungen über entsprechende Vorordnungen laufen bereits. Freizügigkeit ade.
Die Chance, dass die Beschlüsse in der parlamentarischen Prozedur auf EU-Ebene noch groß geändert werden, ist gering. Auch Frauen und Kinder werden hinter Gittern landen. Aber vielleicht merken einige der Mitgliedsstaaten noch rechtzeitig, dass der GEAS-Kompromiss ihnen nichts bringen wird?
„Es ist noch nicht sicher, ob aus diesem Kompromiss am Ende ein Gesetz wird. Das ist ein nicht umsetzbarer Vorschlag, der in der Praxis auch die Zahl jener, die irregulär in die EU kommen, nicht reduzieren wird. Ich denke, auch Griechenland, Italien und Deutschland werden, wenn sie den Beschluss in Ruhe analysieren, bald feststellen: Eigentlich bringt uns das nichts“,
meint Gerald Knaus, eigentlich ein Freund und Vordenker des „Migrationsmanagement“. Auf Nachfrage des Tagesspiegel: Und was ist, wenn der Beschluss der EU-Innenminister*innen am Ende doch mehr oder weniger unverändert in Kraft treten sollte?, führt er aus:
„Spätestens dann wird man bemerken, dass er keines der akuten Probleme löst. Nehmen wir Griechenland. Griechenland führt seit drei Jahren Pushbacks durch, also rechtswidrige Zurückweisungen von Asylbewerbern. Nach dem Beschluss der EU-Innenminister müsste Griechenland jetzt stattdessen Lager errichten und viele Grenzverfahren durchführen, ohne eine Idee, was danach passieren soll. Warum sollte Athen illegale Pushbacks einstellen, die seit 2020 keine andere Regierung in der EU klar kritisiert? Wo ist die alternative humane Kontrolle im Beschluss der Innenminister?“
Trotz des deutschen Koteau, trotz Opferung des Schutzes für Frauen und Kinder, allein der Einheit der EU zuliebe, wird der neue Asyldeal nicht funktionieren. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf FRONTEX und Aufrüstung der Grenzen noch stets einigen können, aber auf mehr eben nicht. Die Koalition hat Frauen und Kinder, die Recht migrierender Menschen, geopfert für etwas, das genau so schlecht funktionieren wird wie zu Joschka Fischers Zeiten der Jugoslawienkrieg. Der Schaden für Europa, vor allem aber für die betroffenen Menschen, ist unabsehbar.
Tunesien
Die GEAS-Beschlüsse sehen vor, dass Geflüchtete und Migrant*innen künftig ohne inhaltliche Prüfung ihres Asylgesuchs auf angeblich sichere Drittstaaten verwiesen werden können, selbst wenn sie dort keinen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchlingskonvention (GFK) erhalten. Das könnte auf sog. “sichere Herkunftsstaaten” wie Tunesien, Marokko und Algerien, aber auch Indien sowie Moldau zutreffen. Der Guardian schrieb gleich am 08.06.2023:
At the weakest interpretation of the “connection” rule, a member state that wants to return a migrant to a third country may need only to demonstrate that an applicant has stayed in the country, which would enable Italy, for example, to transfer migrants to “a transition country” such as Tunisia. Italy’s interior minister, Matteo Piantedosi, said: “Today is a day where something is beginning. We are not arriving; we are setting off.”
Tatsächlich reisten drei Tage später Italiens postfaschistische Ministerpräsidentin Meloni, die Kommissionspräsidentin von der Leyen und der niederländische Regierungschef Rutte nach Tunis und boten dem greisen Präsidenten mehr als 1 Milliarden Euro, wenn das Land entsprechende Verträge zur Verhinderung der Migration unterzeichnen würde.
"Der für seinen autokratischen Regierungsstil noch kürzlich von dem EU-Parlament kritisierte Saïed erhält eine üppige Aufstockung der Zahlungen aus Brüssel. 100 Millionen Euro sollen für Grenz-Such- und Rettungsaktionen, Maßnahmen gegen Schleuser und Rückführungen von Migranten fließen. 150 Millionen Budgethilfe werden nach Tunis überwiesen, sobald ein für Ende des Monats geplantes Memorandum zwischen Tunesien und der EU verabschiedet sein wird. Eine makroökonomische Finanzspritze von 900 Millionen Euro soll noch in diesem Jahr fließen", so Mirco Keilberth in der SZ.
In ihrer Presseerklärung beschrieb v.d. Leyen die “fünf Säulen” der neuen Partnerschaft und sagte:
"We both have an interest in breaking the cynical business model of smuggler. It is horrible to see how they deliberately risk human lives for profit. We will work together on an Anti-Smuggling Operational Partnership. And we will support Tunisia with border management. This year, the EU will provide EUR 100 million to Tunisia for border management, but also search and rescue, anti-smuggling and return."
Es ist hier anzumerken, dass es in Tunesien, anders als in Libyen, keine "Menschenschmuggler" gibt. Es gibt eine kleine Industrie in Sfax, die (leider sehr schlechte) Boote verkauft und die Boat People technisch einweist. Junge Tunesier bilden Gruppen, kaufen ein größeres Boot und versuchen, aus dem Norden des Landes nach Sizilien zu gelangen.
Tunesien, das kurz vor dem Staatsbankrott steht, erscheint den GEAS-Strateg*innen als leichtes Opfer. Über den Hintergrund der rassistischen Entwicklung dort haben wir geschrieben. Das Land ist nicht sicher. Saied hat die Wahl zwischen Bankrott oder Aufstand. Hätte er Milliarden, so würden diese von Schuldendienst und Subventionen aufgegessen. Und würde er die Bedingungen des aktuellen IMF-Diktats annehmen und die Lebensmittelsubventionen streichen, stünde eine nächste Aufstandswelle bevor.
"Tunisia agreed to a loan from the IMF, but subsequently rejected the conditions with Saied saying the demanded cuts to subsidies and restructuring of state-owned companies risked igniting social unrest," schrieb Al Jazeera am 11.06.2023.
Zu gern würde Meloni “ihren Diktator” subventionieren und ihn gegenüber dem IMF unterstützen, aber dazu reicht ihre Macht nicht.
Diktatoren sind keine stabile Lösung
Pläne zur Auslagerung des europäischen Grenzmanagements nach Nordafrika waren in den frühen 2000er Jahren schon einmal ziemlich weit vorangeschritten. Damals sollte ein “global network of safe havens” die Flüchtenden aus Europa fernhalten. Der damalige Innenminister Schily sprach von “Begrüßungslagern”, die in Nordafrika zu errichten seien. Aber alles kam dann ganz anders: die Arabische Revolution brachte den Diktatoren in Tunesien, Libyen und Ägypten, auf die Europa gesetzt hatte, ein jähes Ende. Assad blieb und führte einen anhaltenden Krieg gegen die syrische Bevölkerung; eine Folge davon waren die großen Migrationsbewegungen von 2015. 2018 schließlich stürzte auch Al Bashir im Sudan.
In Ermangelung stabiler Verhältnisse setzte die EU – der italienische Geheimdienst voran – auf changierende Allianzen mit Warlords und Milizen, insbesondere in Libyen und dem Sudan. Mit den Folterlagern in Libyen und den Verbrechen der RSF wollte die EU nichts zu tun haben, aber diese waren direkte Folge ihrer geheimen Politik.
In Tunesien wagt sich die EU nun zurück in die Legalität; wie ein Magnet wirkt das Land auf die EU-Politiker*innen. Saied ist senil, aber schlau; seine Politik erscheint erratisch, aber er möchte das menu peuple auf keinen Fall gegen sich aufbringen. Meloni, von der Leyen & Co bauen ihre Lager und Strukturen auf flüchtigem Sand. Allein schon die Rücknahme von tunesischen Migrant*innen könnte Aufstände triggern, so wie die Gesetze zur Verhinderung der Ausreise im Jahr 2011 zum Sturz Ben Alis beitrugen. Alles schon vergessen?
Nancy Faeser in Tunis und 150 Millionen mehr
An diesem 19. Juni 2023 sind Faeser und Darmanin in Tunis, die Innenminister*innen aus Deutschland und Frankreich, auf den Spuren von Meloni und von der Leyen in Tunesien unterwegs. Der Deal, den sie anbieten, heißt “Talentpartnerschaften”: ausgebildete tunesische Fachkräfte gegen Rücknahme abgelehnter Tunesier*innen. Eine solche Partnerschaft würde wiederum die tunesischen urbanen Mittelschichten bevorzugen und die Jugendlichen aus dem Hinterland, welche die Mehrzahl der Boat People stellen, weiter benachteiligen. Es ist sehr fraglich, ob Saied glaubt, sich das leisten zu können.
Pünktlich vor dem Abflug von Faeser und Darmanin hat die EU-Kommission angekündigt, weitere 150 Millionen Euro aus dem außenpolitischen Fonds NDICI für "Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung" bereitzustellen. Darmanin hatte zudem 25 Millionen aus Frankreich im Gepäck. Schon im Mai hatte die tunesische Regierung ihre Wünsche an die EU übermittelt: Drohnen verschiedener Größe, Hubschrauber, Küstenwachschiffe und -boote – insgesamt über 200 Mio. Euro, die Hälfte für die Armee. Der Rat wird diese Anfrage auf seinem Gipfel Ende Juni in Brüssel entscheiden. Aufrüstung geht immer.
Refugees in Tunisia
Zwischen der EU und dem Saied-Regime sind die Refugees in Tunisia zwischen die Fronten geraten. Sie haben vor dem IOM-Gebäude ein Camp errichtet und beim UNHCR Schutz gesucht. Ihre Forderungen sind einfach: Sicherheit, Überlebensmittel, Zukunft. Einer der Protestierenden erklärte:
"No one wants to find a solution for us and we are left with no other option than to leave everything behind, just to get out of this messy experience we have been going through. No one would risk his or her life to cross the Mediterranean. But because we are not safe, we have no choice. We want our dreams to come true. Some people might think that we are happy risking our life crossing the Mediterranean. This is not true. It is the situation in Tunisia that is pushing us to take this risk. We are not happy to put our family, our wives, our sons and us, in a boat to cross the Mediterranean Sea."