Zwischen Notwendigkeit und Verbot der Migration: Eine Bilanz der senegalesischen (Im-)Mobilitätspolitik im Jahr 2023

März 26th, 2024 - von: Ibrahima Konate

Der vorliegende Artikel beschreibt die Behinderung der internationalen Mobilität und die Verletzung der Rechte von Migrant*innen im Senegal im Jahr 2023. Der innenpolitische Kontext ist von einem starken Rückgang der Demokratie und der tödlichen Niederschlagung von Demonstrationen geprägt. Der vorliegende Text wurde in einer Zeit verfasst, in der Menschenrechtsverletzungen im Senegal zunehmen: Rechte in Bezug auf Migration — wie das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Mitgliedsländer der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten —, aber auch das Recht auf Information oder das Recht zu demonstrieren. Die schweren Verstöße gegen die Grundrechte stellen eine Gefahr für die gesamte senegalesische Gesellschaft dar und gefährden eine positive Entwicklung des Landes in der Zukunft.

Einführung

Seit etwa 20 Jahren wird die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger durch eine immer repressivere Politik verletzt, die dem Staat Senegal von der Europäischen Union (EU) aufgezwungen wird. Das klare Ziel ist, die sogenannte "irreguläre" Migration nach Europa zu verhindern. Es geht darum, die Mobilität an der Wurzel zu stoppen, indem afrikanische Staatsangehörige in ihren Herkunftsländern gehalten werden. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Maßnahmen zur Externalisierung der europäischen Grenzen und zur Bekämpfung von Ausreisewilligen eingeführt.

Von all diesen Mechanismen ist der sichtbarste die Operation Hera, ein 2006 eingeführtes Instrument zur Steuerung der Migrationsströme auf See. Hera wird von Frontex, der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, koordiniert und besteht unter anderem darin, Pirogen mit Migranten abzufangen und sie an die afrikanische Küste zurückzuschieben. Während Hera 2019 ihren Betrieb eingestellt hat, ist das spanische Schiff noch immer in senegalesischen Gewässern präsent. Nicht zu vergessen sind aber auch die zahlreichen Projekte, die durch das NDICI (Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit) und den EUTF (2015 eingerichteter EU-Nothilfe-Treuhandfonds zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen) finanziert werden. Ihr Ziel: Begierden vorzubeugen und Abwanderungsversuche zu unterbinden.

Das Jahr 2023 war für die senegalesische Bevölkerung ein besonders hartes Jahr. National wurden Mobilisierungen zur Unterstützung der von Ousmane Sonko getragenen Oppositionspartei Pastef von den Ordnungskräften gewaltsam unterdrückt. Sonko wurde im Juli 2023 inhaftiert. Bei Demonstrationen im Juni wurden mindestens 29 Menschen getötet und fast 1.000 Menschen willkürlich ohne Gerichtsverfahren festgenommen. In der jüngeren Geschichte Senegals hatte die Bevölkerung noch nie derartige Angriffe auf ihr Recht, zu demonstrieren oder ihre Meinung zu äußern, erlebt. Abgesehen von den individuellen Freiheiten wurde dadurch das gesamte demokratische System geschwächt.

Parallel dazu brach das Jahr 2023 den traurigen Rekord der Anzahl der Menschen, die bei dem Versuch starben, von der senegalesischen Küste aus die Kanarischen Inseln zu erreichen.[1] Die atlantische Zone zwischen Westafrika und dem spanischen Archipel hat sich zur tödlichsten Migrationsroute der Welt entwickelt, mit 6.007 Todesfällen nach einer Schätzung der NGO Caminando Fronteras. Dieser morbide Befund ist die direkte Folge der Intensivierung der restriktiven Migrationspolitik, die den Zugang zu Visa für die meisten afrikanischen Staatsangehörigen weiter erschwert. Diese Menschen sind de facto vom Zugang zur sogenannten legalen Mobilität ausgeschlossen.

Angesichts der sich verschlechternden Situation ist es wichtig, diese Realität, die sehr oft für politische Zwecke missbraucht oder instrumentalisiert wird, zu analysieren. Anhand von Felddaten, die ich im Kontakt mit den ersten Betroffenen an den Kreuzungen der Migrationsrouten, im Rahmen meiner militanten Aktivitäten an der Seite des Vereins Boza Fii sowie im Rahmen meiner persönlichen Forschung gesammelt habe, präsentiere ich meine Analyse der Auswirkungen der Migrationspolitik auf die Grundrechte der senegalesischen Bevölkerung.

Wenn Migration zur Notwendigkeit wird

Was in den offiziellen Reden von Regierungen und Institutionen sehr oft als Wahl dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eine Nicht-Wahl: Niemand entscheidet sich dafür, sein Leben zu riskieren, um zu migrieren. Wenn Personen dies tut, dann weil sie keine andere Alternative haben, als sich in Gefahr zu begeben, um die ihnen geraubte Freiheit durch Migration wiederzuerlangen. Wenn senegalesische Menschen diese Risiken eingehen, dann deshalb, weil ihnen der Zugang zu Reisegenehmigungen (Visa) verwehrt wird, während es Europäer*innen freisteht, nach Belieben auf unseren Kontinent zu kommen. Wenn sich Senegales*innen auf Pirogen zu den Kanarischen Inseln einschiffen, liegt das auch daran, dass die Ressourcen ihres Landes von externen Wirtschaftsakteuren geplündert werden.

Die senegalesischen Personen, die sich dem Fischfang widmen und die mehr als 17% der Erwerbsbevölkerung ausmachen, sind mit einer ständigen Verknappung der Fischereiressourcen konfrontiert. Dieser Mangel an Fischbeständen verschärft die prekäre Lage aller Beschäftigten im Fischereisektor, die zunehmend Schwierigkeiten haben, von ihrer Tätigkeit zu leben. Dennoch wird das Fischereiabkommen mit der EU immer wieder verlängert. Es werden immer noch Fanglizenzen an chinesische Schiffe vergeben (die notdürftig als senegalesische Schiffe getarnt sind) und es wird nicht wirklich gegen ausländische Trawler, insbesondere russische, vorgegangen, die die senegalesischen Gewässer illegal plündern. Ebenso wie die Aneignung von Agrarland und die Ausbeutung von Ölfeldern,[2] veranschaulicht dies die Enteignung der senegalesischen Ressourcen zum Nachteil der Bevölkerung und zugunsten multinationaler Firmen. Menschlich ist es ebenso verheerend, wie wirtschaftlich und ökologisch.

Diese Faktoren werden im vorherrschenden politischen Diskurs über Migration meist nicht erwähnt. Sie sind jedoch entscheidend, um zu verstehen, in welcher Sackgasse sich senegalesische Menschen befinden. Aufgrund fehlender Perspektiven vor Ort müssen sie auswandern.

Die Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 und der Krieg in der Ukraine im Jahr 2022, versetzten der Wirtschaft schwere Schläge. Sie heizten die Inflation an und mit ihr die Verarmung. Zahlreiche Senegales*innen, die bislang vom Fischfang, der Landwirtschaft oder dem informellen Sektor lebten, stehen seitdem vor dem unmöglichen Dilemma, entweder um ihr Überleben vor Ort zu kämpfen oder unter Lebensgefahr in der Hoffnung auf neue Horizonte aufzubrechen.

Alle Bedingungen sind vorhanden, um die Kluft zwischen den wenigen Reichen im Senegal und dem Rest der Bevölkerung weiter zu vergrößern. Es gibt eine eklatante Entwicklungsungleichheit zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Wenig überraschend leiden Jugendliche und Frauen am meisten unter dieser Situation.

Das Potential der Demokratiekrise für einen Wandel

Im Laufe des Jahres 2023 wurde die Hoffnung zerschlagen, die Ousmane Sonko den jungen Senegales*innen brachte. Er sprach sich gegen Korruption und Imperialismus aus. Doch der Oppositionspolitiker wurde inhaftiert, seine Partei aufgelöst und seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen am 25. Februar 2024 für ungültig erklärt. Zwar blieb die Motivation der Oppositionsbewegung intakt, doch 2023 liess die Kraft der Opposition unter den Schlägen der staatlichen Repression nach.

Die jüngsten Ereignisse in diesem März 2024 stellen jedoch einen Wendepunkt dar: Ousmane Sonko und sein Ersatzkandidat Bassirou Diomaye Faye wurden aus dem Gefängnis entlassen. Wenn die Wahl, die auf den 24. März 2024 verschoben wurde, ordnungsgemäß verläuft, hat letzterer eine reelle Chance auf den Sieg.

Was auch immer in der Zukunft geschehen mag, die Zunahme der Ausreisen von Senegales*innen auf sogenannten irregulären Wegen im Jahr 2023, steht in direktem Zusammenhang mit der Gesamtsituation des Landes, das von Instabilität bedroht ist. Die wirtschaftliche, soziale und politische Krise; die Verletzung grundlegender Menschenrechte; die Verschärfung der Zugangswege zu Visa; Fischereiabkommen und -lizenzen usw. sind allesamt Faktoren, die eine allgemeine Unzufriedenheit schüren.

Die staatlichen Autoritäten unterdrücken die Opposition, die Medien und die Zivilgesellschaft. Und das Versprechen von Präsident Macky Sall, eine faire Wahl abzuhalten, steht in völligem Widerspruch zu der Tatsache, dass die Behörden die Gefängnisse in den letzten drei Jahren mit Hunderten von politischen Gegnern gefüllt haben. Zahlreiche Personen wurden wegen simpler kritischer Posts in sozialen Netzwerken inhaftiert.

Trotz der von den senegalesischen Behörden angewandten Mittel zur Einschüchterung von Demonstrant*innen, organisiert sich die senegalesische Jugend weiter und bringt ihren Unmut zum Ausdruck. Dennoch ist die zunehmende politische Unterdrückung für viele junge Menschen zu einem weiteren Grund geworden, das Land zu verlassen. Die Zeit nach der Verurteilung von Ousmane Sonko zu zwei Jahren Haft Anfang Juni, war durch einen starken Anstieg von Migrant*innen aus dem Senegal gekennzeichnet.

Ein 15-jähriger Senegalese, der in einem Zentrum für unbegleitete Minderjährige untergebracht wurde, nachdem er an Bord einer Piroge an der Seite von über 200 Menschen auf die Kanarischen Inseln gelangt war, erklärte uns im Oktober 2023 folgendes: "Ich habe dieses Opfer gebracht, um mich zu retten, um an einen Ort zu gelangen, an dem ich ohne Angst leben kann [...]. Nach zehn Tagen auf See, ohne etwas zu essen während der Fahrt, habe ich den Tod aus nächster Nähe gesehen. Einige meiner Gefährten haben nicht überlebt. Und das alles nur, um dem tyrannischen Wahnsinn zu entfliehen, der im Senegal herrscht."[3]

Und das ist nur einer von Tausenden von Fällen. Im Laufe des Jahres 2023 war die Atlantikroute Schauplatz schrecklicher Dramen und immer schwerwiegenderer Menschenrechtsverletzungen. Auf dieser Route, die die Küsten Westafrikas mit den Kanarischen Inseln verbindet, gab es allein im Jahr 2023 Zehntausende von Abfahrten.

Unter denjenigen, die sicher auf die Kanarischen Inseln (Spanien) gelangt sind, befinden sich neben Männern auch Frauen, Minderjährige und sogar Babys. Frauen und Minderjährige sind noch mehr Gewalt ausgesetzt.

Rekordzahlen trotz tausender Interventionen

Bateau chaviré à Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate
Bateau chaviré à Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate

Gekentertes Boot in Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate

Im Senegal hat die Organisation Boza Fii allein zwischen Juni und Dezember 2023 mehr als 270 Abfahrten von Pirogen von der senegalesischen Küste in Richtung Kanarische Inseln gezählt. Die Küstenorte, von denen aus gestartet wird, variieren: die Umgebung von Dakar (von Yarakh über Bargny und Rufisque bis Thiaroye), die Nordküste (Gandiol, Saint-Louis, Cayar, Fass Boye), der Süden von Dakar (Mbour, Joal, Djiffer, die Saloum-Inseln) und sogar die Casamance (Kafountine). Die von Boza Fii gesammelten Daten legen nahe, dass der Großteil der Abfahrten Mitte Juni begann, wobei zwischen Juni und Dezember mehr als 210 Pirogen mit 24.256 Menschen an Bord aufbrachen, von denen die meisten aus dem Senegal stammten. Diese Menschen kamen auf verschiedenen Kanarischen Inseln an und verteilten sich wie folgt:

  • Teneriffa: 6.967 Männer, 391 Frauen, 455 Minderjährige, 43 Babys und 43 Leichen, insgesamt 7.899 Migrantinnen und Migranten.
  • El Hierro: 12.564 Männer, 458 Frauen, 447 Minderjährige, 20 Babys und 8 Leichen, insgesamt 13.497 Migrantinnen und Migranten.
  • Gran Canaria: 2.719 Männer, 75 Frauen, 15 Minderjährige, 1 Baby und 14 Leichen, insgesamt 2.824 Migrant/inn/en.
  • Gomera: 36 Männer.

Der Zeitraum von Juni bis November 2023 erinnert an die sogenannten "Cayucos-Krise" (spanische Bezeichnung für die für die Überfahrten verwendeten Pirogen) zwischen 2006 und 2009. Die Zahlen von 2023 übertreffen jedoch die von damals. Im letzten Jahr gelang es nach Angaben des spanischen Innenministeriums 39.910 Menschen, von der westafrikanischen Küste auf die Kanaren zu gelangen.

Diese Zahl hätte noch höher sein können, wenn die senegalesische Marine in den letzten sieben Monaten des Jahres nicht 9.141 Auswanderungswillige abgefangen hätte.

Am 20. August 2023 wurden ausserdem 184 senegalesische Personen von der spanischen Guardia Civil vor der Küste Mauretaniens abgefangen und nach einigen Tagen auf spanischen Patrouillenbooten an die senegalesische Marine übergeben. Laut der NGO Boza Fii identifizierte die DNLT (Division de lutte contre le trafic de migrants et pratiques assimilées, eine Einheit der senegalesischen Luft- und Grenzpolizei) acht dieser Migranten, die nun wegen krimineller Vereinigung, Beihilfe zur Schleusung von Migranten auf dem Seeweg und Gefährdung des Lebens anderer Personen strafrechtlich verfolgt werden.[4]

Guardia Civil à Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate
Guardia Civil à Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate

Guardia Civil in Gandiol, 2023 (c) Ibrahima Konate

Stärkung der Strafverfolgung: In den letzten Jahren wurden die Grenzkontrollen in Westafrika durch den Einsatz von Küstenwachen, modernster Technologie und automatisierten Informationssystemen (z. B. MIDAS) erheblich verstärkt,[5] insbesondere in Mali, Guinea Conakry, Burkina Faso und Niger. Diese Verschärfung nährt die zivilgesellschaftlichen Debatten um die Frage des Rechts auf Mobilität von Personen. Die senegalesische Regierung, die von der Europäischen Union unter Druck gesetzt wurde, hat 2020 eine eigene Stelle eingerichtet: das Interministerielle Komitee gegen irreguläre Migration (CILMI). Dessen Arbeit sowie die der Abteilung zur Bekämpfung von Menschenhandel und ähnlichen Praktiken (DNLT, gegründet 2018), werden von der Zivilgesellschaft zunehmend kritisiert. Am 27. Juli 2023 bestätigte Premierminister Amadou Ba in den Salons des Luxushotels Terrou-Bi in Dakar die "Nationale Strategie zur Bekämpfung der irregulären Migration" in Senegal. Dies ist ein übergreifender Aktionsplan, der verschiedene öffentliche Politikbereiche abdeckt. Am 4. August, mitten in einer politischen Krise und nur wenige Tage nach der Verhaftung von Ousmane Sonko, weihten die Europäische Union und die senegalesische Regierung den neuen Sitz der senegalesischen Luft- und Grenzpolizei (DPAF) ein, der von der EU mit 9 Millionen Euro finanziert wurde.

Tausende Tote

Das Jahr 2023 war für den Senegal ein tragisches Jahr, in dem mehrere Tausend Auswanderungswillige bei dem Versuch, die spanische Küste an Bord von Cayucos zu erreichen, ums Leben kamen. Allein zwischen Juni und Dezember starben auf der "Kanarenroute" von Senegal aus 3.176 Menschen, was mehr als die Hälfte der 6.007 Opfer ausmacht, die von den Küsten Westafrikas aus starteten.

Der Sommer war eine einzige Aneinanderreihung von Tragödien. Ende Juni verschwand zum Beipsiel eine Piroge, die mit 200 Personen an Bord von Kafountine aus gestartet war, auf hoher See.Am 12. Juli kenterte ein anderes Boot in der Nähe von Saint-Louis, mindestens acht Menschen kamen ums Leben. Am 24. Juli kenterte eine Piroge vor dem Strand von Ouakam in Dakar. Laut mehreren übereinstimmenden Zeugenaussagen wurde sie von einer Seepatrouille verfolgt, als sie auf Felsen auflief. Bei dem Schiffbruch kamen mindestens 16 Menschen ums Leben. Am 14. August wurde 277 km vor der Insel Sal auf den Kapverden eine Piroge gefunden. Ihr Ziel waren die Kanarischen Inseln, doch da ihr Motor ausgefallen war, trieb sie viele Wochen lang auf dem Meer. Da ihre Wasser- und Nahrungsvorräte aufgebraucht waren, gingen die Passagiere durch die Hölle. Es gab nur 38 Überlebende und 63 Tote.

Die senegalesische Öffentlichkeit war tief bewegt von diesen wiederholten Dramen, über die in der nationalen und internationalen Presse ausführlich berichtet wurde.

Es ist notwendig, die Entwicklung ab 2020 zu betrachten, dem Jahr, in dem sich die Ausreisen, nach einem "ruhigeren" Jahrzehnt auf der Atlantikroute, intensivierten.[6] Im Jahr 2020 starben (oder verschwanden) laut der NGO Caminando Fronteras 1.851 Menschen bei dem Versuch, von der westafrikanischen Küste zu den Kanarischen Inseln zu übersetzen. Insgesamt kamen in jenem Jahr 2.170 Menschen bei dem Versuch, nach Spanien zu gelangen, ums Leben: ein Anstieg um 143 % im Vergleich zu 2019. Dies hat in der senegalesischen Gesellschaft eine Protestbewegung ausgelöst, die sich zunächst in sozialen Netzwerken und dann auf der Straße manifestierte.

Ende Oktober 2020 verschwanden bei einer Reihe von Schiffbrüchen innerhalb einer Woche etwa 480 Menschen auf See. Das "Kollektiv 480" entsteht daraufhin aus dem Zusammenschluss verschiedener senegalesischer Bewegungen (Y en a marre, Doyna, Frapp, France Dégage). Das Ziel des Kollektivs ist es, mit dem Finger auf die Verantwortung der Regierenden für diese Tragödien zu zeigen: Die Schiffbrüche sind eine direkte Folge der verstärkten Unterdrückung der Migration durch die senegalesischen und europäischen (insbesondere spanischen) Behörden, verbunden mit der Vergabe neuer Fanglizenzen an ausländische Industrieschiffe, während die handwerkliche Fischerei bereits am Boden liegt.

Import von Anti-Migrationskonzepten

In den Augen der Zivilgesellschaft, die sich für dieses Thema engagiert, schweigen die politischen Akteure im Senegal viel zu sehr über die Opfer an den Grenzen. Schlimmer noch, das westliche Vokabular, dass Migrant*innen kriminalisiert, wurde in den Senegal importiert. Dies verstärkt den künstlichen Gegensatz zwischen Migranten, die als legitim wahrgenommen werden, und anderen, die als illegitim oder sogar kriminell angesehen werden.

SNLMI, 2023, (c) Ibrahima Konate
SNLMI, 2023, (c) Ibrahima Konate

SNLMI, 2023, (c) Ibrahima Konate

Internationale Organisationen haben auch den seltsamen Begriff des "potenziellen Migranten" eingeführt, der Menschen bezeichnet, die möglicherweise migrieren wollen und in ihrer Heimatregion immobilisiert werden sollten. Der Begriff "potenzielle Migranten" wird vor allem in den Anti-Migrations-Präventionskampagnen internationaler Organisationen wie der IOM (Internationale Organisation für Migration) verwendet,[7] die, anstatt die strukturellen (wirtschaftlichen und politischen) Ursachen der Abwanderung zu bekämpfen, die Risiken und Gefahren des Migrationsprozesses hervorheben, mit dem Ziel, von der Abwanderung abzuschrecken. Dies führt zu Schuldzuweisungen und Stigmatisierung von Migrant*innen und ihren Familien.

All diese Begriffe und Konzepte, die die Migration kriminalisieren, stoßen mit voller Wucht auf alte gesellschaftliche Normen: Im Senegal sind Migration und das Recht auf Freizügigkeit historisch kulturell verankert. Es gibt sogar ein Wolof-Sprichwort: "Ku dul tukki do xam fu dëkk nexee”. Es besagt, ”Wer nicht gereist ist, weiß nicht, wo es sich gut leben lässt".

Das Vokabular, das Migration kriminalisiert, und die damit einhergehenden Praktiken der Migrationsverhinderung stehen auch im Widerspruch zu den Rechtsnormen der ECOWAS (Gemeinschaft Westafrikanischer Staaten), die die Freizügigkeit innerhalb des Gemeinschaftsraums für alle Staatsangehörigen der Vertragsstaaten garantieren. All dies verstößt auch gegen Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN, 1948), in dem es heißt, dass "jeder das Recht hat, jedes Land zu verlassen, einschließlich seines eigenen".

Kriminalisierte Auswanderung: In der senegalesischen Zivilgesellschaft betonen viele Akteure, dass das Gesetz von 2005 die Auswanderung kriminalisiert.[8] Angeblich zur Bekämpfung des Menschenhandels gedacht, ermöglicht dieses Gesetz in Wirklichkeit die Kriminalisierung der sogenannten irregulären Auswanderung aus dem senegalesischen Hoheitsgebiet. Artikel 4 besagt: "Mit 5 bis 10 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 1.000.000 bis 5.000.000 CFA-Francs wird die organisierte illegale Migration auf dem Land-, See- oder Luftweg bestraft, unabhängig davon, ob das nationale Hoheitsgebiet als Herkunfts-, Transit- oder Zielgebiet dient."[9]

Was können wir von den Präsidentschaftswahlen 2024 erwarten?

Die ursprünglich für den 24. Februar angesetzten Präsidentschaftswahlen 2024 wurden von Präsident Macky Sall am Vorabend der Eröffnung des Wahlkampfs auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Die Nationalversammlung verschob die Wahl daraufhin auf den 15. Dezember, doch der Verfassungsrat hob dies wieder auf. Letztendlich soll die Wahl am Sonntag, den 24. März stattfinden. Sicher ist jedoch, dass sich der Senegal nach den Wahlen mit wichtigen Fragen in Bezug auf die Achtung der Grundrechte und der wirtschaftlichen Rechte auseinandersetzen muss.

Wir können nur bedauern, dass sich von den 19 offiziell zur Wahl stehenden Kandidatinnen und Kandidaten keiner wirklich zur Frage der Migration und der Verletzung der Rechte von Migrantinnen und Migranten geäußert hat. Dieses Schweigen lässt befürchten, dass sich eine ähnliche Migrationspolitik wie unter Macky Sall wiederholen wird, die dem europäischen Willen folgt: eine repressive und menschenrechtsverletzende Politik.[10]

Soweit uns bekannt ist, hat sich von der Vielfalt der Parteien, die sich um die Präsidentschaft bewerben, nur Ousmane Sonkos Pastef offen für die Reisefreiheit ausgesprochen. Doch Worte allein reichen nicht aus: Wenn der Kandidat der Pastef (Bassirou Diomaye Faye) an die Macht kommt, müssen konkrete Maßnahmen umgesetzt werden.[11]

Schlussfolgerung

Im Einklang mit der IOM und der Europäischen Union haben mehrere Akteure der senegalesischen Zivilgesellschaft den Kampf gegen die sogenannte "irreguläre" Migration auf ihre Aktionsagenda gesetzt. Auf staatlicher Ebene kündigt die Regierung von Macky Sall immer wieder an, die bereits bestehenden Maßnahmen in diesem Bereich zu verstärken. Diese Reden und Positionierungen dienen sicherheitspolitischen und rassistischen Zielen.

In Europa wird Migration nicht mehr als humanitäre Notlage behandelt, sondern als Sicherheitsbedrohung, die dazu benutzt wird, das Ungerechtfertigte zu rechtfertigen. Nicht nur die "illegale Migration" wird ins Visier genommen, sondern die Migrant*innen selbst werden kriminalisiert, ebenso wie die Solidaritätsbewegungen, die sie unterstützen. In Wirklichkeit wird ihnen nicht so sehr vorgeworfen, was sie tun (zu migrieren), sondern wer sie sind (afrikanische, schwarze Menschen). Das Bild des schwarzen Migranten wird in den Mittelpunkt des von den europäischen Regierungen erdachten und gefürchteten Invasionsmythos gestellt. Der rassistische Charakter eines solchen Denksystems ist nicht mehr zu leugnen: Der eklatante Unterschied zwischen der Aufnahme, die ukrainischen Flüchtlingen gewährt wird, und der, die Exilant*innen aus dem Nahen Osten und Afrika verweigert wird, ist ein deutlicher Ausdruck davon.

Afrikanische Migrant*innen werden als Schwerverbrecher abgestempelt und zu "unerwünschten Personen" degradiert, die nur mit Unterrechten ausgestattet sind und deren Leben geopfert werden kann. Nein, es sind nicht die Grenzen, die töten, sondern die Staaten, die sie verursachen: Militarisierung, Sammlung biometrischer Daten, Infraroterkennung, Drohnen, Bereitstellung tödlicher Waffen für die Küstenwache und Erhöhung der Barrieren. Die Grenzräume sind zu Kriegsgebieten geworden — ein Krieg, den die Europäische Union erklärt hat.

Für die künftige senegalesische Regierung, die in den nächsten Wochen vom Volk gewählt wird, steht viel auf dem Spiel. Denn auch wenn es viele Schuldzuweisungen an Europa gibt, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die afrikanischen Staaten, insbesondere Senegal, sich auf verschiedene Weise an den kriminellen Unternehmungen beteiligen. Indem sie sich beispielsweise weigern, effektiv nach Personen zu suchen, die bei der Migration gestorben oder verschwunden sind, verstoßen sie gegen ihre grundlegendsten Verpflichtungen. In der Migrationsfrage ist eine radikale Änderung des Ansatzes unerlässlich.

Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, müssen auf interner Ebene offizielle Untersuchungen der Gewalttaten der letzten drei Jahre durchgeführt werden. Das am 6. März 2024 verabschiedete Amnestiegesetz, das zwar die Freilassung willkürlich inhaftierter Personen ermöglichte, muss aufgehoben werden, damit die Verantwortlichen für die Ermordung von Demonstrant*innen zur Rechenschaft gezogen werden können. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und friedliche Demonstrationen muss wiederhergestellt werden, freie und faire Wahlen müssen zukünftig gewährleistet werden.

Es muss natürlich darauf hingearbeitet werden, allen Menschen den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen zu ermöglichen, aber auch die Freizügigkeit der Menschen und ihrer Güter innerhalb des ECOWAS-Raums zu gewährleisten.

All dies sind Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, damit Senegal die Achtung der Bürgerrechte gewährleistet.

Hinweis

Dieser Text wurde mit finanzieller Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung Senegal verfasst. Der Text wurde gemeinsam von migration.control-info und der Heinrich-Böll-Stiftung Senegal redigiert.

Einige Worte über den Autor

Ibrahima Konate ist ein unabhängiger Aktivist und Forscher, der sich in seiner Arbeit mit der Migration von Afrika nach Europa befasst. Er ist Mitglied des internationalen Netzwerks Alarm Phone und einer seiner Vertreter im Senegal. Von 2020 bis 2024 war er Sekretär der senegalesischen Organisation Boza Fii. Ibrahima Konates aktivistische Forschung konzentriert sich auf die von der Europäischen Union praktizierte Politik der Externalisierung der Grenzen und ihre Auswirkungen auf den Zugang zu internationaler Mobilität für senegalesische Staatsbürger/innen. Die aktuellen Themen sind insbesondere der Einsatz von Frontex im Senegal und generell bilaterale Abkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten und afrikanischen Staaten, die darauf abzielen, die Mobilität von Personen einzuschränken. Ibrahima Konates Arbeit versucht, die Herausforderungen, mit denen Migranten konfrontiert sind, zu beleuchten. Es geht darum Alternativen zu finden, die positive Veränderungen in der Migrationspolitik bewirken können, die derzeit vor allem darauf abzielt, die Bewegung von Menschen von Afrika nach Europa zu behindern.

Footnotes

  1. Nicht zu vergessen all die Menschen, die auf den anderen Migrationsrouten gestorben oder verschwunden sind.

  2. Die Erschließung der ersten Öl- und Gasfelder im Senegal im Jahr 2023 wurde erneut verschoben. Der Beginn der Ausbeutung des Gasfeldes GTA (Grand Tortue Ahmeyim), das sich im Meer an der mauretanisch-senegalesischen Grenze befindet, soll 2024 erfolgen. Mehrere Unternehmen haben den Zuschlag erhalten und werden die Gasvorkommen ausbeuten: das britische Unternehmen BP (61%), das US-amerikanische Unternehmen Kosmos Energy (29%), in Partnerschaft mit den staatlichen Unternehmen Petrosen aus Senegal und SMHPM aus Mauretanien (10%). Auch bei Sangomar (ca. 90 km vor der senegalesischen Küste, oberhalb der gambischen Grenze) soll die Förderung 2024 beginnen. Es handelt sich um ein Offshore-Feld, das sowohl Öl als auch Gas enthält. Es wird zu 82 % von der australischen Firma Woodside Energy und zu 18 % von der senegalesischen Firma Petrosen kontrolliert.

  3. Telefoninterview mit einem Minderjährigen, der am 21. Oktober 2023 auf den Kanarischen Inseln ankam und in der Einrichtung für alleinstehende Minderjährige in El Hierro untergebracht wurde.

  4. In diesem Zusammenhang stellte das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) die willkürliche Inhaftierung von Migranten durch die spanischen Behörden in Frage, die beschuldigt wurden, die Kapitäne der Boote zu sein. Dies geschah im Jahr 2022 in einem Bericht über den Menschenschmuggel auf der Kanarenroute. In dem Bericht wurde eingeräumt, dass die "Kapitäne", die die Navigation des Bootes übernommen hatten, in vielen Fällen keine Verbindung zu den Schleusernetzwerken hatten. Es handelt sich um Personen, die sich einfach wie alle anderen auf die Migrationsroute begeben haben. Weitere Informationen finden Sie unter UNODC, "Northwest African (Atlantic) Route - Migrant Smuggling from the Northwest African coast to the Canary Islands (Spain)" (Nordwestafrikanische (Atlantik-)Route - Migrantenschmuggel von der nordwestafrikanischen Küste zu den Kanarischen Inseln (Spanien)), 2022.

  5. Système d'information et d'analyse des flux migratoires (französisches Akronym: SIAFM; englisches Akronym: MIDAS). Es handelt sich um ein seit 2009 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) entwickeltes Informationssystem für Grenzmanagement (GISF). Laut Selbstbeschreibung ist es "in der Lage, Informationen von Reisenden in Echtzeit und über ein ganzes Netz von Grenzen hinweg zu sammeln, zu verarbeiten, zu speichern und zu analysieren". MIDAS "ermöglicht es den Staaten, die Ein- und Ausreisenden wirksamer zu kontrollieren, und bietet eine zuverlässige statistische Grundlage für die Migrationspolitik". Im Senegal wurde der internationale Flughafen von Dakar 2017 mit dem automatischen Kontrollsystem E-Gates ausgestattet, das an die Interpol-Dateien angeschlossen ist.

  6. Dass die Kanarenroute wiederbelebt wurde, liegt vor allem daran, dass es immer schwieriger wird, durch Libyen (zentrale Mittelmeerroute), die Türkei und Griechenland (Ägäisroute) oder die Straße von Gibraltar zu gelangen. Um diese Routenänderungen besser zu verstehen, lesen Sie CQFD, "Senegal, les pirogues de la dernière chance" (Senegal, die Pirogen der letzten Chance), April 2021.

  7. Textbeispiel, in dem der Ausdruck "potenzielle Migranten" immer wieder verwendet wird: IOM, "Impact Assessment Report: Migrants as Messengers (MaM) Campaign - The impact of peer communication on potential migrants in Senegal" (Bericht zur Wirkungsabschätzung: Kampagne "Migrants as Messengers" (MaM) - Die Auswirkungen der Peer-to-Peer-Kommunikation auf potenzielle Migranten im Senegal), 2019.

  8. Gesetz Nr. 2005-06 vom 10. Mai 2005 über die Bekämpfung des Menschenhandels und ähnlicher Praktiken und den Schutz der Opfer.

  9. Gesetz 2005-06, Kapitel II, Artikel 4. Dieses Gesetz wurde in das senegalesische Strafrecht eingefügt, um die Bestimmungen des Protokolls der Vereinten Nationen gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg vom 15. November 2000 umzusetzen.

  10. In seiner Rede vom 8. November 2023 sagte Macky Sall beispielsweise, dass er die Abreise von Migrant*innen aus dem Senegal "neutralisieren" wolle.

  11. Am 25. März wurde Diomaye Faye zum neuen Prässidenten gewählt. "Tausende von Menschen strömten auf die Straßen, um zu feiern. Kinder jubelten auf den Schultern ihrer Eltern, andere hingen mit Fahnen um die Schultern aus den Autofenstern und riefen: "Wir sind frei! Der Senegal ist frei!" Vor der Pastef-Zentrale tanzten die Menschen mit Besen, um die Beseitigung der Korruption zu symbolisieren."
    Es bleibt nun abzuwarten, ob es die neue Regierung schafft, die Interesssen der senegalesischen Bevölkerung gegen die Interessen der EU zu verteidigen.