Rassismus in Tunesien

September 7th, 2024

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Hi Ebrima

Die rassistische Kampagne gegen subsaharische Migrant:innen in Tunesien seit Februar 2023 haben wir auf dieser Seite ausführlich dokumentiert. Diese Videos von durstenden und sterbenden schwarzen Menschen sind unerträglich. Aber Nicht Hinschauen ist die falsche Lösung. Genau so wenig dürfen wir „grausame Bilder aushalten“, wie es 2016 der deutsche Innenminister gefordert hat. Damals waren Nachrichten und Artikel eine mediale Inszenierung mit dem Ziel, die „Willkommenskultur“ zu zerlegen. Heute sind die grausamen Bilder Realität.

Über die Situation der Subariens in den informellen Camps haben wir zuletzt vor 6 Monaten berichtet. Die Lage hat sich nicht verbessert. Ein Vertreter von Refugees in Libya schreibt:

The migrant’s situation in Tunisia is soon turning into an epidemic. One of the volunteering doctors in Sfax wrote to us this evening:
“We have so many breakout disease. We have up to 567 patience that are affected from the following diseases, Typhoid, Dysentery, Cholera, Syphilis”.
He shared many pictures of newborns whose mothers were raped, children experiencing severe Cholera and other diseases. Young men with severe cuts of machete resulting from attacks launched by Tunisian thugs and citizen militias. “We can not solve the entire situation immediately but at least we can help cure those suffering at the moment, have pads for bleeding women, bandages to cover the wounds of these young men and provide clean drinking waters for the newborns.”

Refugees in Libya hat eine Spendenkampagne gestartet, um einige Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Ein Tropfen im Sand, trotzdem dringlich und wichtig.

gofundme

Photo: https://www.gofundme.com/f/urgent-medical-relief-equipments-to-treat-5000-migrants

Arabischer Rassismus

Rassismus ist in der arabischen Welt tief eingefleischt und Jahrhunderte alt. Die Vorstellung, dass sich die Arabische Sklavenhaltung vom europäuschen transatlantischen Sklavenhandel grundsätzlich unterschieden hätte, wurde gründlich widerlegt. Noch im 19. Jahrhundert blühte der transsaharische Sklavenhandel; die versklavten Menschen waren zu dieser Zeit ausschließlich Subsahariens.

Richtig ist aber auch, dass der arabische Rassismus in den letzten Jahren nur dann offen zutage getreten ist, wenn er mit inszenierten Pogromen verknüpft war, wie im Jahr 2000 in Libyen, als Subsahariens im Zusammenhang mit der Annäherung des Gaddafi-Regimes an Europa vertrieben und verfolgt wurden. Die Razzien gegen schwarze Afrikaner:innen in Nordmarokko im Jahr 2019 wurden sogar direkt „von Europa in Auftrag gegeben“. Rassismus wird, über seine Bedeutung zur Aufrechterhaltung von Hierarchien und Ausbeutungsbeziehungen hinaus, vor allem dann zu einer tödlichen Sozialtechnik , wenn die rassistische Stigmatisierung staatlicherseits mit der Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen verknüpft wird. Wir kennen das aus der Geschichte des deutschen Antisemitismus nur zu gut. Der prekäre Zusammenhang von Hararrga, Rassismus und den subsaharischen Migrationsbewegungen in Tunesien kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Aber vielleicht ist es nützlich, einige Stichworte zu notieren.

2011 - 2017

Vor der Revolution von 2011 war die Ausreise aus Tunesien unter Strafe gestellt. Die EU bezahlte den Diktator Ben Ali unter anderem dafür, dass er mit Hilfe eines diktatorischen Regimes die Grenzen dicht hielt. Je besser dies gelang, desto enger wurde das Verhältnis Tunesiens zur EU. Nach der Revolution stand die EU vor einem „Scherbenhaufen“. 28.000 Jugendliche setzten in kurzer Zeit nach Lampedusa über. (Andere, islamisierte Jugendliche machten sich auf den Weg nach Syrien.) Diese Harraga waren überwiegend Jugendliche aus dem Hinterland, die schon lange auf ihre Chance gewartet hatten. Es dauerte mehr als 1 Jahr, bis die tunesischen Behörden, in Zusammenarbeit mit der EU, die Überfahrten wieder bremsen konnten. Ein Blick zurück auf die Aktivitäten von Boats4People im Jahr 2012 macht die Dramatik der Situation deutlich: der Aufbruch, die Hoffnungen, die Ertrunkenen und die Forderung nach Fähren.

Seit März 2011 waren etwa 200.000 Menschen aus Libyen vor dem Krieg über die Grenze nach Tunesien geflohen. Diese Menschen wurden, sofern es sich um Schwarze Refugees handelte, grenznah im Lager Choucha registriert und interniert. Es gab ein Rückführungsprogramm des UNHCR. Einige wenige konnten mit einem Resettlement in die USA oder nach Norwegen ausreisen, einigen gelang es, über das Meer nach Europa zu fliehen. Es gab auch zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Flüchtlingsproteste in Tunesien. Die tunesischen Behörden betrachteten diese Menschen von vornherein als illegale Ausländer; es gibt in Tunesien kein funktionierendes Asylsystem.

Aber anders als 2023 hatten die Refugees 2011/12 nur wenig Kontakt zur tunesischen Bevölkerung und es gab keine rassistische Mobilisierung. Es gab ein Nebeneinander von Harraga und Choucha: Tunesische Jugendliche versuchten ihr Glück in der Ausreise nach Lampedusa, während die Schwarzen Refugees interniert wurden. Rrassistische Feindseligkeiten blieben auf die Bewachungsmannschaften des Lagers beschränkt. Übrigens wurden die letzten Bewohner von Choucha 2015 in der Wüste in Algerien ausgesetzt - ein Vorgehen, das auch heute wieder aktuell ist.

Als 2017 die Zahl der Überfahrten wieder anstieg, waren es wiederum allermeist tunesische Jugendliche, die der ökonomischen Misere und den enttäuschten Hoffnungen im tunesischen Hinterland entflohen. Dieser Trend setzte sich in den Jahren bis zur Coronakrise fort; tunesische Migrant:innen waren die stärkste Gruppe unter den registrierten Bootsankünften in Italien, wobei es zudem vielen tunesischen Harraga gelang, unbemerkt in Italien anzulanden, um den Rückschiebungen zu entgehen.

Derweil lebten zehntausende Schwarze Menschen, wohl 15 % der Bevölkerung, jahrelang relativ unbehelligt in Tunesien und arbeiteten als Haushaltshilfen, Handwerker, Bauarbeiter oder studierten in den Küstenstädten.

2018 - 2024

Eine große Wende gab es Ende 2018, als zunehmend mehr schwarze Afrikaner:innen aus Libyen nach Tunesien flohen, um den Grausamkeiten der dortigen Milizen und der so genannten Küstenwache zu entgehen. Während der Kriegshandlungen im Jahr 2019 stieg deren Zahl noch weiter an. Hektisch versuchten die tunesischen Behörden, die Flüchtlingsbewegung nach Tunesien aufzuhalten. Aber auch in dieser Zeit gab es aus der Bevölkerung keine rassistischen Übergriffe. Die Newcomer aus Libyen waren an den südlichen Küsten ein wichtiger Wirtschaftsfaktor inmitten der Krise: sie kauften die rasch zusammengeschweißten Stahlboote aus lokaler Produktion, die allerdings vielen von ihnen den Tod brachten. Auch die informelle Ökonomie, die den tunesischen Alltag prägt, konnte von der Durchreise der subsaharischen Boat People profitieren.

Die tunesischen Harraga brachen derweil in größeren Holzbooten von den nördlichen Küsten auf, um Europa möglichst unbemerkt zu erreichen.

Nach der Coronapause stieg die Zahl der Überfahrten in den Jahren 2021 und 2022 wieder an. 2022 überstieg der Anteil der nicht-tunesischen Boat People die 50%-Marke.[1] Und im Sommer 2023, nach der Wiederöffnung der Migrationsrouten über Agadez, erreichte die Zahl der Überfahrten nach Lampedusa neue Höchststände.

Italien und die EU waren aufs Höchste alarmiert. Die EU-Kommission hatte schon Anfang Oktober 2021 einen Draft Action Plan Tunisia diskutiert; im April 2022 wurde nach weiteren Verhandlungen gemeldet: Tunisia refuses cooperation with Frontex but will set up an "integrated border surveillance" system. Diese Meldung bezog sich auf eine Revision des Draft Action Plans vom Februar 2022, der zur Kooperation zwischen EU und Tunesien folgendes ausführte:

Tunesische Staatsangehörige waren 2021 die erste Nationalität bei den irregulären Ankünften in Italien (etwa 25 %). Die zentrale Mittelmeerroute war ihrerseits die aktivste irreguläre Route und Italien das erste Land der irregulären Einreise in die EU. Die EU wird Tunesien darin unterstützen, eine Verringerung der irregulären Ausreisen von Migranten aus Tunesien zu erreichen, sowohl von tunesischen als auch von Drittstaatsangehörigen, die in den Jahren 2020 und 2021 erheblich zugenommen haben. Die EU wird weiterhin an der Verbesserung der tunesischen Grenzschutzkapazitäten arbeiten, um die tunesischen Bemühungen zur Verhinderung irregulärer Abreisen von der tunesischen Küste zu verhindern, Rettungsaktionen durchzuführen und die Aufnahmekapazitäten und -einrichtungen auszubauen. Die EU zählt darauf, dass Tunesien diese Anstrengungen fortsetzt.
 Die EU wird weiterhin an der Verbesserung der tunesischen Grenzschutzkapazitäten arbeiten und an der Stärkung des Such- und Rettungssystems, um Leben zu retten. Die EU unterstützt die Bemühungen, irreguläre Ausreisen zu verhindern, den irregulären Zustrom aus Libyen zu steuern und die Bekämpfung der Schleusung von Migranten und des Menschenschmuggels.[...]
 Die EU wird Tunesien in seinen Bemühungen unterstützen, die steigende Zahl von Migranten zu bewältigen [...]

Über den Inhalt der geheimdienstlichen und diplomatischen Treffen dieser Zeit werden Dokumente erst in der Zukunft Aufschluss geben. Das von Statewatch veröffentlichte, oben zitierte Dokument von Februar 2022 gibt einige Hinweise auf die angestrengten bilateralen und EU-offiziellen Kontakte.

Das war der Kontext, in dem sich Präsident Saied im Februar 2023 entschloss, eine rassistische Kampagne gegen subsaharische Migrant:innen loszutreten. Auf ihrem Treffen mit Saied überbrachten Meloni, von der Leyen & Co im Juni 2023 nicht nur die besten Glückwünsche, sondern versprachen auch mehr als 1 Milliarden Euro für ein „historisches Migrationsabkommen“. Allerdings waren die zugesagten Budgethilfen an ein IWF-Akommen gekoppelt, das nicht zustande kam – Saieds Regierung war bitter enttäuscht. Indes flossen 250 Millionen Euro für das "Grenzmanagement", vor allem für mehr Boote, mobile Radargeräte, Kameras, Fahrzeuge, Ersatzteile und Motoren für die tunesischen Sicherheitskräfte.

Unter wohlwollender Beobachtung durch die EU erreichten die rassistischen Übergriffe in den Folgemonaten katastrophale Ausmaße und sie haben sich bis heute auf tödlichem Niveau fortgesetzt. Vor allem sind es die Sicherheitskräfte, die den rassistischen Druck auf die Schwarzen Migranti:nnen aufrecht erhalten. Tausende leben in informellen Camps in Olivenhainen, die von vielen Tunesier:innen geduldet und manchmal unterstützt, von den Sicherheitskräften aber regelmäßig zerstört werden. Abgefangene Boat Ppeole werden in der Wüste ausgesetzt. Und die tunesische Küstenwache arbeitet zunehmend effektiv, wobei die Folgen der letzten Entwicklungen, einer tunesischen Seenotrettungszone, noch nicht abzuschätzen sind.

Dem Datenblatt des UNHCR vom 02. September ist zu entnehmen, dass die Zahl der Ankünfte in Italien aus Libyen und Tunesien gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 64% abgenommen hat. Aus Tunesien sind in Italien in diesem Jahr bislang 14 000 Menschen angekommen. Und hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit der Boat People spiegelt sich der „Erfolg“ des Rassismus gegen Schwarze Migrant:innen: In 2023 waren Menschen aus Guinea und Elfenbeinküste die stärksten Gruppen unter den Boat People. In diesem Jahr sind es Bangladeshi und Syrer:innen, und es folgen die Boat People aus Ägypten und Tunesien.

Das Alarmphone schreibt:

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 sind schätzungsweise 800 Menschen ums Leben gekommen oder verschwunden, und wir wissen, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt. Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden von den tunesischen Behörden gewaltsam nach Tunesien und etwa 10.000 von der so genannten libyschen Küstenwache mit kontinuierlicher Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten nach Libyen zurückgebracht.

Die Externalisierung des Rassismus

Sicherlich ist es eine relevante Beobachtung, dass der latente Rassismus in den arabischen Bevölkerungen gern und schnell hinter einem antikolonialen Opfer-Narrativ versteckt wird, das wiederum der Konstruktion des Nationalen dient. Saied hatte es nicht schwer, sein nationalistisches Narrativ wirkungsmächtig in ein rassistisches Dispositiv zu verwandeln.

Saied befindet sich in einer Zwickmühle: er möchte im Oktober im Amt bestätigt werden. Seine demokratische Legitimation wird angezweifelt. Er steht Innen und nach Außen unter Rechtfertigungsdruck. Die Sonne brennt, Trockenheit ist ausgebrochen. Saied hat kein Geld, um die inländische Nachfrage zu befriedigen und die Inflation aufzuhalten. Je effektiver die Küstenwache die Grenzen schließt, desto stärker wird nicht nur das Leid der Schwarzen Migrant:innen, sondern auch der Unmut unter den tunesischen Jugendlichen. Saied musste die drohenden sozialen Proteste kanalisieren, das rassistische Dispositiv erschien ihm als einfacher Ausweg.

Dem Präsidenten wird durchaus Verständnis für die hoffnungslosen tunesischen Jugendlichen nachgesagt, und er würde ihnen den Weg nach Europa gern frei machen. Die Remissen der Emigrant:innen machen immerhin 5% der tunesischen Wirtschaftsbilanz aus. Saied will Kürzungen im staatlichen Sektor und bei den Subventionen vermeiden und verzichtet eher auf die Kredite des IWF und die Budgethilfen der EU, als dass er seine Klientel verraten würde. Derweil stagniert die soziale Entwicklung seit 2011, nichts hat sich nach der Revolution zum Besseren gewendet.

Die tunesischen Jugendlichen leiden unter den gleichen Beschränkungen der Ausreise und den Übergriffen der tunesischen Küstenwache wie die subsaharischen Migrant:innen. Allzu leicht kommt ihnen in den Kopf, dass sie leichter Zugang nach Europa hätten ohne die Schwarzen Konkurrent:innen. Die Immigration seit 2018, die sich im Sommer 2023, nach der Öffnung von Agadez, noch verstärkt hat, hat Europa auf den Plan gebracht und ihre Chancen deutlich verschlechtert. Aus Europa aber kommt immer wieder die Botschaft, dass die Visafrage erst dann auf den Tisch kommt, wenn die Schwarzen Migrant:innen irgendwie gestoppt und rückgeführt sind. Meloni hat in Tripolis den Zusammenhang von Visafrage und Rassismus noch einmal hervorgehoben.

Europa, das eigentlich neue Menschen braucht, schließt die Grenzen nach Süden gegen jede Vernunft. Der europäische Rassismus der Grenzschließungen bereitet das Feld, auf dem der tunesische Rassismus gedeiht. Jenseits des Mittelmeers induzieren die Europäer:innen einen Rassismus der Konkurrenz um das Ticket. Ob Arabisch oder Schwarz, ist in Europa fast schon egal. Diese Konkurrenz verstärkt den Rassismus der tunesischen Jugendlichen.

Die Grenzen sollen dicht gehalten werden; das Wählervolk in den USA und in Europa ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender, treibender Faktor. Die Vermittlungsformen der westlichen Demokratie stoßen an ihre Grenzen. Der tunesische Rassismus ist getrieben durch die Grenzschließungen durch die EU. Ja, es gibt diesen latenten arabischen Rassismus, aber nur unter europäischem Einfluss wird er zu einem tödlichen Projekt, wie er es auch in Libyen und in Marokko war. In diesem Sinne sprechen wir, trotz der spezifischen arabischen Wurzeln des Rassismus, von einer Externalisierung des Rassismus.

Saied hat sich zum Handlanger Europas machen lassen, der um so besser funktioniert, je mehr er knapp bei Kasse gehalten wird. Saieds Tunesien hat so keine Chance.


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Footnotes

  1. FTDES Monthly Reports, zit. n. Echoes 4, https://civilmrcc.eu/echoes-from-the-central-mediterranean/echoes4-jan2023/