Zur Situation in Tunesien und dem neuen EU-Tunesien-Deal – ein kritischer Blick
August 3rd, 2023 - von: migration-control.info und Alarm Phone Tunis
Der Originalbeitrag ist auf Englisch im Echoes. From the Central Mediterranean n° 7 erschienen und ist für unseren Blog von uns auf Deutsch übersetzt worden.
Die Wirtschaftskrise in Tunesien verschärft sich weiterhin und mit ihr nehmen die rassistischen Übergriffe gegen die Schwarze Bevölkerung Tunesiens wieder zu. Vor allem in Sfax sind Schwarze Menschen von rassistisch motivierter Gewalt betroffen. Von tunesischen Sicherheitskräften werden sie außerdem systematisch und kollektiv in die Wüstenregionen an der libysch-tunesischen und der algerisch-tunesischen Grenze abgeschoben. Währenddessen schickt die EU weitere Millionen – auch mit dem Ziel, Migrationsbewegungen um jeden Preis zu stoppen. [Stand: 17. Juli 2023]
Rassistisch motivierte Gewalt und Massenabschiebungen in die Wüste
Bereits Anfang des Jahres ist es in Tunesien zu Anti-Schwarzen Pogromen gegen die Schwarze Bevölkerung gekommen, ausgelöst unter anderem durch ein rassistisches Statement veröffentlicht vom tunesischen Präsidenten Kais Saied am 21. Februar. Aktuell eskaliert die Gewalt gegen Schwarze Migrant:innen erneut. In der zweitgrößten Stadt Tunesiens, Sfax, kommt es seit Tagen zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen Mobs wiederholt Schwarze Personen angreifen. Bereits im Juni gab es zwei Demonstrationen, bei denen mit rassistischen Phrasen gegen Schwarze Migrant:innen gehetzt wurde.
Seit dem 2. Juli wurden große Gruppen von Schwarzen Personen von tunesischen Sicherheitskräften aus Sfax in die Wüste abgeschoben. Laut Berichten sind bis zu 1.200 Personen von der tunesischen Nationalgarde in Bussen an die libysch-tunesische Grenze gebracht und in der Militärzone an der Grenze zurückgelassen worden. Andere wurden in die algerisch-tunesische Grenzzone gebracht. Die abgeschobenen Menschen berichten, dass tunesische Sicherheitskräfte sie geschlagen, ihnen ihr Essen weggenommen und ihre Mobiltelefone zerstört haben. Selbst Menschen, die versuchten, mit dem Zug aus Sfax zu entkommen und gen Norden nach Tunis zu fliehen, wurden aus dem Zug in Busse gesetzt und in die Wüste gebracht. Sie werden zum Sterben zurückgelassen — und das tun sie. Unter den Abgeschobenen befinden sich auch Menschen, die einen legalisierten Status haben, wie Asylbewerber:innen und Menschen mit vom UNHCR bescheinigten Flüchtlingsstatus. Aber auch das schützt Schwarze Menschen in Tunesien offenbar nicht mehr davor, kollektiv abgeschoben und in den Tod geschickt zu werden.
UN-Organisationen wie die IOM und das UNHCR schweigen zu diesen Massenabschiebungen. In einigen Orten wurde die humanitäre Hilfe des tunesischen Roten Halbmonds an die Bedingung geknüpft, dass die Menschen eine sogenannte "freiwillige Rückkehr" akzeptieren. Obwohl die tunesische Zivilgesellschaft versucht Nothilfe zu leisten, bleibt ein großer Teil der abgeschobenen Personen unerreichbar, da sie sich in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Grenzgebieten befinden.
Niemand weiß, was das Schicksal dieser Menschen sein wird. Während Einige in Notunterkünften in Grenzstädten untergebracht werden, werden Andere wieder abgeschoben, sobald sie versuchen, tunesisches Hoheitsgebiet zu erreichen. Damit geraten sie ins Kreuzfeuer zwischen den tunesischen Behörden auf der einen und den algerischen oder libyschen Behörden auf der anderen Seite. Von den Menschen, die seit mehreren Wochen in der Wüste umherirren, sind viele verschwunden. Die Notfall-Hotline des Alarm Phones sammelt Berichte über Tote, die langsam verhungern und verdursten.
Auch in der tunesischen Hauptstadt Tunis ist die Lage nicht besser. Schon fast fünf Monate dauern die Proteste der Refugees in Tunisia an, über die wir auch im ECHOES, Nr. 6 vom Mai 2023 berichtet haben. Etwa 150 Menschen zelten noch immer vor dem Sitz der IOM und fordern, an einen sicheren Ort evakuiert zu werden, nachdem sie alles verloren haben. Ihre Leben sind in Tunesien in Gefahr, die Bedingungen im Lager anhaltend schlecht. Ein Interview mit einem der Protestierenden vom Mai 2023 ist auf dem Blog von migration-control.info veröffentlicht.
Die Situation für Schwarze Migrant:innen an Land verschlechtert sich zusehends. Aber auch wenn sie Tunesien verlassen, sind sie bei der Überquerung des Mittelmeers Gewalt ausgesetzt. Berichte über den Diebstahl von Motoren durch die tunesische Küstenwache häufen sich. Die Menschen werden anschließend in seeuntüchtigen Booten treiben gelassen, was bereits zum Untergehen von Booten geführt hat. Kürzlich wurde die Küstenwache beschuldigt, ein Boot mit Tränengas beschossen zu haben, was Panik an Bord auslöste und zum Sinken des Bootes führte, wie InfoMigrants berichtet.
Diese brutalen Praktiken treffen nicht nur Nicht-Tunesier:innen. Auch Tunesier:innen selbst leiden unter der von den Sicherheitskräften ausgeübten Gewalt. Die strukturelle Gewalt der sozioökonomischen Situation, aber auch das harte Vorgehen gegen die tunesische Zivilgesellschaft und gegen alle, die als Gegner:innen des Präsidenten eingestuft werden, führen dazu, dass Tunesien wird immer weiter zu einem Land wird, das auch die eigene Bevölkerung verlässt. Da unwahrscheinlich ist, dass sich die wirtschaftliche Lage in absehbarer Zeit verbessert, wird auch die Zahl der Menschen, die das Land verlassen, weiter steigen. Tunesien hat Libyen bereits als Hauptabfahrtsort auf dem Weg nach Europa abgelöst: Nach Angaben des UNHCR sind zwischen dem 1. Januar und dem 9. Juli 37 720 Personen in Italien angekommen, die aus Tunesien abgereist sind.
Die EU bezahlt Tunesiens Pogrome
Parallel zu den gravierenden Menschenrechtsverletzungen an Land und auf See, ist die versammelte EU-Delegation zu Besuch beim autoritären Präsidenten Kais Saied. Beim Fototermin am 11. Juni zeigen sich die italienische Postfaschistin Meloni, der niederländische Ministerpräsident Rutte und Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Präsident Saied und verkünden gut gelaunt ihr sogenanntes "umfassendes Partnerschaftspaket". Trotz der aktuellen Entwicklungen wird die EU Tunesien mit insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro unterstützen – im Gegenzug gibt es bessere Grenzkontrollen und Maßnahmen gegen den "Menschenschmuggel". Die EU-Kommission erwägt eine Finanzhilfe von bis zu 900 Millionen Euro und eine unmittelbare Budgethilfe von 150 Millionen Euro. Weitere 100 Millionen Euro sind für "Grenzmanagement", Such- und Rettungsmaßnahmen, Maßnahmen zur Bekämpfung des "Menschenschmuggels" und andere Initiativen vorgesehen, das heißt auch mehr Boote, mobile Radargeräte, Kameras, Fahrzeuge, Ersatzteile und Motoren für die tunesischen Sicherheitskräfte.
Nur acht Tage, nachdem das selbsternannte "Team Europa" Tunesien wieder abgereist war, haben auch die deutschen und französischen Innenminister:innen Faeser und Darmanin Tunsien besucht. Im Gepäck noch mehr Geld und Grenzdeals, so sollen weitere 25 französische Millionen Euro folgen. Parallel dazu kündigte die EU-Kommission weitere 150 Millionen Euro aus dem außenpolitischen Fonds NDICI für "Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung" an.
Das neue Abkommen, das am 16. Juli final unterzeichnet wurde, ist die Fortsetzung der langen Geschichte der europäischen Externalisierungspolitik in Tunesien. Laut von der Leyen und ihrem Team Europa soll es "als Blaupause für ähnliche Partnerschaften in der Zukunft dienen". Geld, Ausrüstung und politische Legitimation für die Migrationskontrolle für Europa, trotz der Menschenrechtsverletzungen von fliehenden Menschen und der lokalen Bevölkerung – diese Politik beobachten wir seit Jahrzehnten.
In der aktuellen politischen Situation sind diese Abkommen noch besorgniserregender als zuvor. Die aktuelle Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sieht vor, dass die Wahrscheinlichkeit, Asyl zu erhalten, auch davon abhängt, ob Asylbewerber:innen über sogenannte sichere Drittstaaten in die EU eingereist sind. "Die kann die EU nach eigenem Ermessen festlegen. Die Einstufung etwa der Türkei, Tunesiens und einiger Balkanstaaten würde praktisch alle Ankommenden erfassen." Es ist wahrscheinlich, dass Tunesien als sicheres Drittland eingestuft wird. Die Folge: mehr Abschiebungen in ein Land, das weder für Nicht-Tunesier:innen noch für Tunesier:innen sicher ist.
Internationaler Widerstand und Solidarität
Die Bilder der Angriffe auf Schwarze Personen in Sfax, die Bilder von verlassenen Menschen, die in der Wüste verdursten, da sie sich in der Militärzone zwischen Libyen und Tunesien weder vor noch zurück bewegen können, sind unerträglich.
Das Abkommen zwischen der EU und Tunesien belohnt den tunesischen Sicherheitsapparat mit mehr Geld und Ausrüstung. Es fördert den Anti-Schwarzen Rassismus und unterdrückt die tunesische Zivilgesellschaft. Es steht im Einklang mit der Migrationspolitik der EU, die seit Jahren die Bewegungsfreiheit zahlreicher Menschen beschränkt und Gewalt und Tod an den (vorverlagerten) Außengrenzen der EU verursacht. Aber wie kann man diese anhaltenden Praktiken erfolgreich bekämpfen, wenn "die Anprangerung der Folterpraktiken des al-Sisi-Regimes in Kairo, [die] Gewalt gegen inhaftierte Geflüchtete durch libysche Milizen oder [die] Verbrechen der RSF schon nicht mehr für Aufmerksamkeit sorgen"? Es stimmt, "wir brauchen neue Gegenstrategien – gegen Deals mit Autokrat:innen, das GEASund ein exklusives Verständnis von Flüchtlingsschutz", wie Sofian Philip Naceur schreibt.
Die europäischen Abkommen werden die Migrationsbewegungen nicht aufhalten. Menschen werden weiterhin das Mittelmeer überqueren. Eine Blockade der Route für Tunesier:innen würde die soziale Stabilität des Landes gefährden – ein Szenario, das die politische Elite verhindern will. Trotz der Gefahren, die durch die europäische Externalisierungspolitik verschärft werden, werden die Ankunftszahlen in Lampedusa hoch bleiben. Denn Menschen werden sich weiterhin auf die Suche nach einem besseren Leben machen. Für Bewegungsfreiheit! Reißt die Grenzen Europas ein!