Aegypten 2019

Veröffentlicht November 15th, 2019 - von: Sofian Philip Naceur

Diese Version ist veraltet. Aktualisierte Version vom März 2022.

Basisdaten und kurze Charakterisierung

Ägypten ist mit 101 Millionen Einwohner*innen (Stand November 2019) das bevölkerungsreichste arabische Land und steht in Sachen absoluter Bevölkerungszahl nach Nigeria und Äthiopien in Afrika an dritter Stelle. 95 Prozent der Bevölkerung leben auf nur fünf Prozent der Landfläche. Mit Ausnahme des Nildeltas, der Nil-Uferregionen und einiger Oasen besteht das Land überwiegend aus unfruchtbarer Wüste. Landwirtschaftlich nutzbare Flächen sind rar. Informeller Siedlungsbau auf Agrarland, die Versalzung der Küstenregionen und die unzureichende Füllung der Bewässerungskanäle führen dabei auch zu Rückgängen landwirtschaftlich nutzbarer Flächen, was das bereits massiv auf Nahrungsmittelimporte angewiesene Land zwingt, verstärkt Agrarprodukte (vor allem Weizen) zu importieren. Zwar versucht die Regierung seit den 1970ern mittels des Baus von Bewässerungskanälen, Agrarland in der Wüste zu erschließen, doch entsprechende Projekte blieben bisher weit hinter den Erwartungen zurück.

Ägypten bezieht 95 Prozent seines Wassers aus dem Nil und leidet an eklatanter Wasserknappheit. Während das Land angesichts des Bevölkerungswachstums einen steigenden Wasserbedarf hat, wird Ägyptens Wasserversorgung durch den steigenden Bedarf südlicher Nilanrainerstaaten und den Bau eines Megastaudamms in Äthiopien am Oberlauf des Blauen Nils zusätzlich bedroht.

Ägyptens Bevölkerung wächst um rund zwei Millionen Menschen pro Jahr. Die Metropolregion Kairo – die größte Afrikas – umfasst die Provinzen Kairo, Giza und Qaliubeya und zählt mehr als 28 Millionen Einwohner*innen (Stand 2020). Aufgrund des Zuzugs aus ländlichen Regionen – vor allem aus Oberägypten – kommen jährlich 500.000 Menschen zusätzlich in die Stadt. Informelle Siedlungen und Stadtviertel, vor allem in den Außenbezirken Gizas, wachsen auch deshalb in atemberaubendem Tempo. Die Regierung schließt diese Bezirke oft erst Jahre nach ihrer Errichtung an die Strom-, Wasser- und Abwassernetze an. Das chronisch überlastete und überfüllte Nahverkehrsnetz (U-Bahn, Busse) wird nur sehr langsam ausgebaut und kann mit dem Bedarf seit Jahrzehnten mithalten.

Rund 85 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, etwa 15 Prozent orthodoxe koptische Christ*innen (adäquate Angaben zum Anteil der Christ*innen an der Gesamtbevölkerung gibt es nicht, Schätzungen schwanken zwischen 10 und 20 Prozent). Zu der im Land lebenden ausländischen Bevölkerung gibt es keine genauen Angaben und nur grobe Schätzungen. Es wird aber von rund fünf bis acht Millionen Menschen ausgegangen. Allein aus dem Sudan sind über die letzten Jahrzehnte zwei bis vier Millionen Menschen nach Ägypten eingewandert.

Ökonomie und Regierung

Formell ist Ägypten eine Präsidialrepublik, de facto jedoch eine Mischung aus Militärdiktatur und autoritär geführtem Polizeistaat. Nach der ägyptischen Revolution von 2011 und dem Sturz von Langzeitdiktator Hosni Mubarak erlebte das Land eine politische Aufbruchsphase und durchlief einen kurzweiligen demokratischen Übergangsprozess. Dieser wurde jedoch durch den blutigen Militärputsch gegen den demokratisch gewählten, aus den Reihen der islamistischen Muslimbruderschaft stammenden Expräsidenten Mohamed Mursi im Juli 2013 jäh unterbrochen. Politische Freiheitsrechte wie Meinungs-, Versammlungs- oder Pressefreiheit sowie die Aktivitäten oppositioneller und zivilgesellschaftlicher Kräfte wurden daher nach nur 30 Monaten wieder massiv eingeschränkt. Der seit 2014 amtierende Staatspräsident Abdel Fattah Al-Sisi hatte im Namen des Militärs den Putsch gegen Mursi und seine Regierung maßgeblich vorangetrieben – damals noch als Verteidigungsminister – und regiert das Land seither mit eiserner Faust. Behördenwillkür, Polizeigewalt, systematische Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen (immer wieder mit Todesfolge) und massive Einschränkungen von Freiheitsrechten gehören seit Al-Sisis Machtübernahme für Einheimische wie auch für Migrant*innen und Flüchtlinge abermals zum Alltag.

Unter Al-Sisi hat sich das Land zwar politisch stabilisiert, doch der Preis dafür ist hoch, hat er doch ein diktatorisches Regime installiert, das selbst die fast 30 jährige autoritäre Herrschaft Mubaraks weit in den Schatten stellt. Ägypten kooperierte in den letzten Jahren immer wieder eng mit den Regimes in China und Sudan dabei, gegen in Ägypten lebende Oppositionelle aus beiden Staaten vorzugehen.Im Auftrag Khartums setzte der ägyptische Sicherheitsapparat wiederholt sudanesische Oppositionelle unter Druck und schob sudanesische Aktivist*innen in den Sudan ab. In Abstimmung mit chinesischen Behörden ließ Ägyptens Geheimdienst aus Westchina stammende uigurische Student*innen aufspüren, verhaften und vernehmen und schob einige von ihnen nach China ab.

Seit dem Friedensschluss mit Israel 1979 ist Ägypten der weltweit zweitgrößte Empfänger von US-Militärhilfen, die sich auf bis zu 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufen. Darunter fallen Ausrüstungsgüter und Waffen für die Luftwaffe, gepanzerte Fahrzeuge und Panzer sowie Ausbildungsmaßnahmen zugunsten ägyptischer Offiziere. Seit 1979 gilt Ägypten als wichtigster Verbündeter der USA im Nahen Osten. Das Land unterhält enge Beziehungen zu den US-Alliierten Israel, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Unter Al-Sisi setzt Ägypten jedoch auf eine Diversifizierung seiner Außen- und Sicherheitspolitik und nutzt seine strategische Lage (Suez-Kanal, Frontstaat im Nahostkonflikt, Militärmacht im Roten Meer, Transitland für Migrant*innen), um seine wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit von den USA zu reduzieren und sich politische Freiräume zu schaffen. Auch deshalb intensiviert Al-Sisi die Waffen- und Ausrüstungskäufe in Europa und Russland massiv, kooperiert sicherheitspolitisch verstärkt mit Moskau und in Wirtschaftsfragen enger mit China, das im Rahmen seiner Belt and Road-Initiative große Industrie- und Hafenflächen entlang des Suez-Kanals und am Roten Meer gepachtet hat und damit seine wirtschaftliche Präsenz in Ägypten massiv ausbaut.

Wirtschaftlich leidet das Land an einer eklatanten Strukturschwäche und ist abhängig von externen Hilfen wie Kreditprogrammen oder politischen Renten wie den US-Militärhilfen oder den seit den späten 1970ern regelmäßig geleisteten Finanzhilfen Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten (zwischen 2013 und 2016 transferierten Saudi-Arabien und die VAE rund 30 Milliarden US-Dollar nach Ägypten). Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat mit Ägypten seit den 1980ern mehrere umfangreiche Kreditprogramme unterzeichnet, zuletzt ein an Bedingungen geknüpftes, auf drei Jahre angelegtes Kreditpaket in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar (2016) und zwei weitere Darlehensprogramme Anfang 2020 in Zusammenhang mit der durch die Covid-19-Pandemie verursachten Wirtschaftskrise.

Die soziale und sozioökonomische Lage weiter Teile der Bevölkerung ist derweil seit Verschärfung der Wirtschafts- und Währungskrise 2016 zunehmend angespannt. Während Gated Communities für die Ober- und Mittelschicht vor allem im Osten Kairos unentwegt ausgebaut werden, ist bezahlbarer Wohnraum für die einkommensschwache Bevölkerungsmehrheit knapp. Soziale Wohnungsbauprogramme des Staates hinken dem Bedarf massiv hinterher. 32,5 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2019, ein Anstieg von fünf Prozent seit 2015). Angesichts der Schwäche der formalen Wirtschaft halten sich mehrere Millionen Menschen als Tagelöhner*innen in Ägyptens informeller Wirtschaft, die Schätzungen zufolge rund 50 Prozent der Wirtschaftsleistung umfasst, über Wasser. Der staatliche Bildungs- und Gesundheitssektor ist chronisch unterfinanziert und vor allem in ländlichen Regionen kaum oder nur unzureichend ausgebaut.

Ägyptens Militär ist derweil ein Staat im Staate und eine eigenständige Wirtschaftsmacht, die gemäß der Verfassung keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt und weder dem Staatspräsidenten noch der Regierung Rechenschaft ablegen muss. Das Ministerium für militärische Produktion unterhält dutzende Fabriken, in denen neben Ausrüstungs- und Rüstungsgütern auch zivile Güter wie Klimaanlagen oder Lebensmittel hergestellt werden. Der Anteil der Militärwirtschaft an Ägyptens Wirtschaftsleistung wurde vor 2011 auf 25 bis 40 Prozent geschätzt. Seit Al-Sisis Machtübernahme hat die Armee ihre wirtschaftlichen Aktivitäten, die auch Import- und Exportmonopole einschließt, massiv ausgeweitet. Während der Auslandsnachrichtendienst GIS ein regelrechtes Medienimperium aufgekauft und aufgebaut hat (TV-Kanäle, Zeitungen und Produktionsfirmen), kontrolliert der Sicherheitsapparat den Mobilfunkanbieter We, betreibt private Schulen und Universitäten sowie Supermarktketten, Zementfabriken, Baufirmen und Bäckereien, die steuerbefreit sind und damit massive Wettbewerbsvorteile gegenüber privaten Anbietern haben. Die Profite zahlreicher vom Sicherheitsapparat kontrollierter Firmen fließen nicht ins Staatsbudget, sondern verschwinden oft in schwarzen Kassen oder den Taschen hochrangiger Funktionär*innen der Staats- und Militärbürokratie.

Migrationsbewegungen

Ägypten ist Einwanderungs-, Auswanderungs- und Transitland für Migrant*innen. Für Menschen aus Ostafrika und Jemen ist Ägypten aufgrund der geographischen Lage ein zentrales Transit- oder Einwanderungsland. Die in Ägypten lebende ausländische Bevölkerung wird auf mehr als fünf Millionen Menschen (andere Schätzungen gehen von bis zu acht Millionen aus) geschätzt. Zwei bis vier Millionen davon stammen aus Sudan und Südsudan. Weitere wichtige Herkunftsländer sind Somalia, Eritrea, Äthiopien, Jemen, Indonesien, China und Syrien. Zahlreiche Migrant*innen und Flüchtlinge sind sukzessive und über mehrere Jahrzehnte nach Ägypten eingewandert und aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten in der informellen Wirtschaft sowie der Anonymität der Großstädte im Land sesshaft geworden. Die Al-Azhar-Universität in Kairo, die wichtigste sunnitische theologische Hochschule in der islamischen Welt, ist ein weiterer Einwanderungsmagnet, werden doch hier Theolog*innen aus der ganzen Welt ausgebildet.

Die ägyptische Verfassung von 2014 gewährt zwar explizit das Recht, Asyl im Land zu beantragen, doch gibt es keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen und keine Anerkennungsverfahren.De facto ist das UNHCR die einzige Anlaufstelle für Geflüchtete, um Schutzstatus, Unterstützungsleistungen oder die Umsiedlung zu beantragen. Im Juli 2019 lebten 249.449 vom UNHCR als Flüchtlinge anerkannte Menschen in Ägypten. 95.455 davon sind Kinder. Mit 131.433 sind davon mehr als die Hälfte Syrer*innen, 44.260 kommen aus dem Sudan (weitere wichtige Herkunftsländer von anerkannten Flüchtlingen sind Eritrea, Südsudan, Äthiopien, Somalia und Jemen). Das UNHCR-Büro in Ägypten ist chronisch unterbesetzt, die Wartezeiten für eine Registrierung oder Refugee Status Determination-Interviews liegen deshalb meist bei über einem Jahr, teils sogar bei über 18 Monaten. Das UNHCR in Ägypten ist derweil nicht nur deswegen immer wieder Zielscheibe von Kritik seitens Betroffenen und Beobachter*innen. Schon 2005 formierten sich massive Proteste sudanesischer Flüchtlinge und Asylbewerber*innen gegen die Anerkennungspraxis und mangelnde Hilfestellungen des UNHCR. Ein von mehreren tausend Menschen errichtetes Protestcamp wurde Ende 2005 gewaltsam von ägyptischen Sicherheitskräften geräumt, mindestens 20 Menschen wurden dabei getötet. Als Reaktion darauf verlegte das UNHCR seinen Hauptsitz aus dem Stadtviertel Mohandeseen in Giza in die mitten in der Wüste gelegene Satellitenstadt „6. Oktober“. Zwar gab es zwischen 2011 und 2013 mehrfach kleinere Proteste von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen gegen die Verfehlungen des UNHCR, doch seit Al-Sisis Machtübernahme sind derartige Protestformen im Land schlichtweg nicht mehr möglich bzw. lebensgefährlich. Dennoch versammelten sich im Juli 2019 mehrere hundert eritreische Flüchtlinge und Asylbewerber*innen vor dem Sitz des UNHCR in Kairo und protestierten gegen die unzureichende Unterstützung der UN-Behörde sowie lange Wartezeiten. Ägyptische Sicherheitskräfte lösten die Demonstration gewaltsam auf und verhafteten zwischen 40 und 90 Protestierende. Der Großteil davon wurde kurz darauf wieder freigelassen, fünf Menschen blieben mehrere Tage lang in Haft bevor auch sie wieder auf freien Fuß gesetzt wurden.

Im November 2020 löste die Tötung eines 14-jährigen sudanesischen Kindes in Gizeh’s Bezirk “6. Oktober” durch einen Ägypter, angeblich als Vergeltung für einen Geldstreit mit dem Vater des Kindes, unter den Geflüchteten der Region Proteste aus. Wütend versammelten sich die Menschen vor dem UNHCR-Hauptquartier und dem Haus der Familie des verstorbenen Kindes und forderten Gerechtigkeit und Hilfe von der UN. Die ägyptischen Behörden gingen gewaltsam gegen die Proteste vor und nahmen mindestens 70 Personen fest. Nachdem die meisten der Festgenommenen kurz nach ihrer Inhaftierung wieder freigelassen worden waren, wurden die übrigen zehn inhaftierten Sudanesen – darunter der Vater des Kindes – Ende des Monats freigelassen.

Ägyptische Arbeitsmigration und irreguläre Migration nach Europa

Rücküberweisungen von im Ausland lebenden ägyptischen Arbeitsmigrant*innen sind für deren Familien oft überlebenswichtig und auch volkswirtschaftlich unverzichtbar. Nach Angaben der staatlichen ägyptischen Statistikbehörde lebten 2017 rund 9,5 Millionen Ägypter*innen im Ausland, 6,2 Millionen davon in den Golfstaaten, 1,6 Millionen in Nord- und Südamerika und 1,2 Millionen in Europa. Die Rücküberweisungen steigen seit Verschärfung der Wirtschaftskrise 2016 massiv und lagen 2018 bei 25,5 Milliarden US-Dollar (2017 waren es 24,7 Milliarden US-Dollar). Die meist in Devisen erfolgenden Transfers sind für weite Teile der Bevölkerung eine wichtige Einnahmequelle, aber auch für die Devisenversorgung des Landes unentbehrlich. Angesichts der angespannten sozioökonomischen Lage sind heute auch Teile der Mittelschicht zwingend auf Geldtransfers ihrer im Ausland lebenden Angehörigen angewiesen. Inflation und zunehmende Lebenserhaltungskosten lassen die Auswanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte seither zusätzlich ansteigen.

Hunderttausende Ägypter*innen arbeiten derweil in Libyen in der Öl- und Gasbranche oder im Dienstleistungssektor (vor 2011 sollen es zwischen 330.000 und 1,5 Millionen gewesen sein). Doch seit Ausbruch des libyschen Bürgerkrieges waren viele gezwungen, das Land zu verlassen. Die irreguläre Migration von Ägypter*innen nach Europa – sowohl von der libyschen als auch der ägyptischen Küste aus – stieg auch deshalb seither stark an. Die Verschärfung der sozialen Schieflage weiter Teile der ägyptischen Bevölkerung und die zunehmende Repression des Regimes gegen Anhänger*innen der Muslimbruderschaft, aber auch gegen linksliberale Aktivist*innen, Menschenrechtler*innen oder Oppositionelle, ließen die reguläre und irreguläre Auswanderung seit 2013 zusätzlich florieren.

Aus ägyptischen Gewässern abfahrende irreguläre Migrant*innen setzten fast ausschließlich auf Überfahrten nach Italien, auch da das Land minderjährige Ägypter*innen nicht abschiebt. Zwischen sechs und acht Prozent der in Italien ankommenden irregulären Migrant*innen sind Ägypter*innen – der Großteil davon Minderjährige. Aufgrund der großen Entfernung zwischen Ägypten und Italien sind Menschen, die irregulär per Boot das Mittelmeer überqueren, auf Schleuser*innen angewiesen. Im Gegensatz zu Algerien und Tunesien sind selbstorganisierte Überfahrtversuche von der ägyptischen Küste aus die absolute Ausnahme. Gut organisierte Schleuser*innen operierten dabei bis 2016 vor allem in den Küstenprovinzen Marsa Matrouh, Alexandria, Beheira und Kafr El-Sheikh und verfügten über gute Kontakte zu ägyptischen Sicherheitskräften, um gegen Bestechungsgelder einen reibungslosen Ablauf von Abfahrten sicherzustellen.

Im Herbst 2016 kenterte ein völlig überladener Fischkutter nahe der Kleinstadt Rashid östlich von Alexandria. Mindestens 202 Menschen starben, inoffiziell wird von rund 300 Opfern ausgegangen. Unmittelbar nach diesem Schiffbruch verstärkten ägyptische Behörden die Kontrollen an den Stränden und auf See und schränken Überfahrtversuche seither signifikant ein. Die migrationspolitische Kooperation zwischen der EU und Ägypten wurde seitdem massiv intensiviert, zeigte Al-Sisis Regime doch nach dem Rashid-Desaster, dass es fähig und willens ist, die Küste für irreguläre Migrant*innen zu schließen. Seit 2017 stechen daher nur noch vereinzelt Boote mit Migrant*innen in See, werden aber fast ausnahmslos abgefangen. Die Migrationsrouten verlagerten sich seither abermals nach Libyen und die zuvor in Ägyptens Mittelmeerprovinzen operierenden Schleuser*innen konzentrieren sich auf den Transport von Menschen über die Landgrenze nach Libyen. Ägyptische Sicherheitsbehörden verhafteten seither immer wieder ägyptische und ausländische Migrant*innen bei Versuchen, irregulär nach Libyen einzureisen, es wird aber weiterhin davon ausgegangen, dass einzelne Offiziere vom Schleusergeschäft nach Libyen finanziell profitieren.

Ägypten: Transitland für Migration aus Ostafrika

Ägypten bleibt ein unumgängliches Transit- und Einwanderungsland für Geflüchtete aus Ostafrika, vor allem aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, Sudan und Südsudan, aber auch aus Jemen. Die schiere Größe der Metropolregionen Kairos und Alexandrias erlaubt es Migrant*innen, unterzutauchen und sich in der informellen Wirtschaft Arbeit zu suchen. Diese ist für Einwander*innen ohne Aufenthaltstitel jedoch meist schlecht bezahlt und mit prekären Arbeitsbedingungen verbunden. Rassismus und Xenophobie sind in der ägyptischen Gesellschaft stark ausgeprägt, gewaltsame Übergriffe, Beleidigungen und Ausbeutung – vor allem von Frauen  ̶  die Regel (aufgrund fehlender Aufenthaltstitel können sich Einwander*innen nicht an Behörden wenden, ohne eine Abschiebung zu riskieren). Die Alltagssituation für im Land lebende Migrant*innen ist auch aus diesen Gründen oft katastrophal.

Ägypten verstößt konsequent gegen die Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingshilfekonvention, die das Land ratifiziert hat. Der Staat hat Asylanerkennungsverfahren an das UNHCR ausgelagert und weigert sich bisher konsequent, eigene Anerkennungsverfahren einzuführen. Die einzigen Anlaufstellen für Geflüchtete sind Hilfsorganisationen, die jedoch nur stark begrenzte Kapazitäten haben. Flüchtlinge und Migrant*innen werden von ägyptischen Behörden konsequent in die Illegalität gedrängt, denn der Staat stellt nur selten Aufenthaltstitel oder Arbeitsgenehmigungen aus. Die Unterstützung durch eine der zahlreichen Hilfsorganisationen in Form von Gesundheits- oder Bildungsleistungen ist oft an eine Registrierung beim UNHCR gekoppelt. Aufgrund der chronischen Unterbesetzung des UNHCR-Büros sind die Wartezeiten für Termine jedoch derart lang, dass Menschen teils monate- oder jahrelang auf sich allein gestellt sind. Die Yellow Card – jenes Dokument, das Menschen als UN-registrierte Flüchtlinge ausweist – fungierte zwar lange als verbriefter Abschiebeschutz, doch die Praxis zeigt, wie willkürlich ägyptische Behörden mit offiziellen UNHCR-Dokumenten umgehen. Abschiebungen anerkannter Flüchtlinge in den Sudan, nach Äthiopien und Eritrea fanden ebenso statt wie Ausweisungen von Syrer*innen in den Sudan oder den Libanon.

Eine strafrechtliche Verfolgung von Geflüchteten, die bei irregulären Ausreiseversuchen verhaftet wurden, fand in der Vergangenheit nicht statt. Nach einigen Tagen oder Wochen in Haft wurden sie meist der Staatsanwaltschaft vorgeführt, doch es gab keine Anklage. Nach einer Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden wurden sie früher meist entlassen oder abgeschoben. Inzwischen werden jedoch strafrechtliche Verfahren gegen an der libyschen Grenze aufgegriffene Menschen eingeleitet. Grundlage für Anklagen ist das gesetzliche Verbot, abseits regulärer Grenzübergänge das Land zu verlassen oder zu betreten. Urteile werden nur selten gefällt, Gerichte überlassen es meist den Sicherheitsbehörden, internierte Migrant*innen freizulassen oder abzuschieben. Abschiebungen werden dabei meist als „freiwillige Rückkehr“ bezeichnet. Der Staatssicherheitsdienst, Ägyptens Inlandsgeheimdienst und die politische Polizei des Regimes, teilt inhaftierten Migrant*innen dabei meist mit, dass sie sich keine Hoffnungen auf Haftentlassung machen sollten, es ihnen aber vorbehalten ist, freiwillig das Land zu verlassen. Die Kosten für ein Flugticket müssen Betroffene oft selbst übernehmen. Wer das Geld nicht aufbringen kann, bleibt auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Zwei Eritreer, die seit 2012 bzw. 2013 in Ägypten inhaftiert sind, haben im November 2020 einen Hungerstreik gegen ihre verlängerte Inhaftierung begonnen, sind aber immer noch nicht freigelassen worden. Schon seit Jahren assistiert die Internationale Organisation für Migration (IOM) dabei, als „freiwillige Rückkehr“ bezeichnete Abschiebungen aus Ägypten (vor allem nach West- und Zentralafrika) durchzuführen und in Europa ausreisepflichtige ägyptische Bürger*innen nach Ägypten zurückzuführen.[1]

Bis zum Bootsunglück von Rashid wurden allein in Ägyptens Küstenprovinzen 32 Haftanstalten für die Unterbringung von Migrant*innen genutzt. Meist handelte es sich dabei um Polizeiwachen mit begrenzten Aufnahmekapazitäten. Landesweit sollen bis zu 60 Haftanstalten für Migrant*innen genutzt werden. Die Haftbedingungen sind meist katastrophal. Maßlos überfüllte Zellen sind die Regel. Aufgrund schlechter Belüftung, verheerender hygienischer Zustände und mangelhafter Versorgung mit Nahrung und Medikamenten sind Atemwegserkrankungen und Krätze die Regel. Auch von Selbstmordversuchen wird berichtet. Nachdem die Küstenwache seit 2016 Abfahrten aus Ägypten systematisch verhindert, verteilen sich inhaftierte Migrant*innen zunehmend über die Haftanstalten im gesamten Land. Genaue Angaben über die Anzahl inhaftierter Migrant*innen sind nicht verfügbar, auch da ägyptische Menschenrechtler*innen und Anwält*innen, die in der Vergangenheit Geflüchteten Hilfe leisteten, heute selbst zum Ziel der Behörden geworden sind und nur sehr eingeschränkt Informationen über die Zustände in ägyptischen Haftanstalten und die Anzahl der hier inhaftierten Menschen sammeln können. Allein 2016 sollen mehr als 12.000 Geflüchtete in Ägypten inhaftiert worden sein, mehr als 4.000 davon seien in den Küstenprovinzen nach fehlgeschlagenen Überfahrtversuchen verhaftet worden – ein Anstieg von 85 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Systematische Gewaltanwendung ägyptischer Sicherheitskräfte gegen Geflüchtete ist derweil seit 2011 stark zurückgegangen. Inhaftierte Flüchtlinge und Migrant*innen sind jedoch weiterhin der Willkür der Sicherheitsbehörden ausgesetzt. Zwischen 2007 und 2011 wurden mindestens 107 Migrant*innen bei dem Versuch, die israelisch-ägyptische Grenze zu überqueren, von ägyptischen Soldaten erschossen. Seit der Fertigstellung des über 200 Kilometer langen Sperrwalls an der israelisch-ägyptische Grenze 2014 ist die Migrationsroute nach Israel jedoch praktisch versperrt und wird seit Jahren kaum genutzt. Im Mittelmeer gab es vor 2011 mehrmals Vorfälle, bei denen die Küstenwache Flüchtlingsboote beschossen haben soll.

Projekte der EU in Ägypten und ägyptische Grenzschutzmaßnahmen

In Sachen Verhinderung von irregulärer Migration und Auslagerung des europäischen Grenzregimes nach Afrika ist Ägypten einer der wichtigsten strategischen Partner Europas. Wollen EU und ihre Mitgliedstaaten die Grenzabschottung im Mittelmeerraum wirksam vorantreiben, sind sie aufgrund der geographischen Lage Ägyptens und der Bedeutung des Landes als Transitstation für Geflüchtete aus Ostafrika zwingend auf eine Zusammenarbeit mit Al-Sisis autoritärem Regime angewiesen. Der sich seit Ende 2019 abermals massiv intensivierende Krieg in Libyen und die seit Februar 2019 anhaltenden Massenproteste in Algerien, die das Land mittelfristig destabilisieren könnten, machen eine enge Kooperation mit Ägypten unumgänglich, will die EU in Nordafrika ein vorgelagertes und effektives Grenzregime installieren. Dafür braucht die EU in der Region aber einen Staat, dessen Sicherheitsapparat in der Lage und willens ist, die Durchlässigkeit der Grenzen signifikant einzuschränken. Ägyptens sicherheitspolitische und makroökonomische Stabilisierung findet dabei auch vor dem Hintergrund der katastrophalen sozialen Lage und des massiven Migrationspotentials der zu erheblichen Teilen verarmten ägyptischen Gesellschaft statt. Ein Zusammenbruch staatlicher Strukturen in Ägypten muss aus Sicht der EU daher unbedingt vermieden werden.

Auch aus diesen Gründen ist Ägypten „too big to fail“. Das 2016 abgeschlossene IWF-Kreditpaket in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar sowie zahlreiche bilaterale Kreditabkommen europäischer Regierungen mit Ägypten sollen das Land makroökonomisch stabilisieren, während vor allem von deutschen und italienischen Organisationen implementierte Entwicklungshilfeprojekte dabei helfen sollen, die sozialen Folgen der vom IWF auferlegten Strukturanpassungsprogramme abzufedern. De facto hat Ägypten damit sozialpolitische Aufgaben erfolgreich an EU-Staaten ausgelagert. Al-Sisis Regime hat früh erkannt, dass die EU für ein funktionierendes Grenzkontrollregime im Mittelmeerraum zwingend auf Kairos Mithilfe angewiesen ist und instrumentalisierte das Thema seit Jahren erfolgreich, um sich nach der blutigen Machtergreifung des Militärs im Juli 2013 auf internationaler Bühne zu rehabilitieren.

Die Kritik europäischer Regierungen an systematischen Menschenrechtsverstößen des ägyptischen Staates ist nicht verstummt, wird aber seit 2015 deutlich verhaltender vorgetragen. Auf EU-Ebene hält sich die EU-Kommission mit lautstarker Kritik an Ägyptens Menschenrechtsbilanz zurück, während das wenig einflussreiche EU-Parlament immer wieder teils scharfe Resolutionen zu Menschenrechtsverstößen ägyptischer Behörden verabschiedete. Im Oktober 2019 nahm die Kammer eine scharf formulierte Resolution zu der kurz zuvor begonnenen Verhaftungswelle von Demonstrant*innen, Menschenrechtler*innen und Oppositionellen an (in drei Wochen waren rund 4.300 Menschen verhaftet und teils in Polizeigewahrsam gefoltert worden) und forderte eine „profunde und umfassende Überprüfung“ der EU-Beziehungen zu Ägypten. Dieser Aufruf dürfte jedoch folgenlos bleiben, sind EU und EU-Mitgliedsstaaten doch in abschottungspolitischen Fragen auf die Kooperation mit Ägypten angewiesen, weshalb sie ihre Zusammenarbeit trotz der abermaligen Verschärfung der Menschenrechtslage im Land sukzessive weiter ausbauen.

Die europäisch-ägyptische Zusammenarbeit in diesem Bereich ist keineswegs neu. Schon im Rahmen des 2004 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Ägypten ging es explizit um das Thema „illegale“ Migration. Schon hier wurde anvisiert, den Migrationsdruck durch die Verbesserung der Lebensbedingungen der in Ägypten lebenden Menschen zu reduzieren und „illegale Migration“ zu „verhindern“ und zu „kontrollieren“. Beide Seiten verpflichteten sich damals zu einer gegenseitigen Rücknahme ausreisepflichtiger Staatsbürger*innen. Die italienische Regierung unterzeichnete schon 2007 als bisher einziges EU-Mitglied, mit Ägypten ein bilaterales Rücknahmeabkommen und macht davon seit dessen Inkrafttreten 2008 regelmäßig Gebrauch.

Europäisch-ägyptische Migrationskooperation

Seit 2015 intensivieren EU und EU-Mitgliedstaaten ihre migrationspolitische Zusammenarbeit mit Ägypten massiv. Neben der Kooperation auf EU-Ebene (diese findet teils auch im Rahmen des 2017 lancierten Migrationsdialogs zwischen EU und Ägypten statt)führen zahlreiche EU-Staaten komplementäre bilaterale Projekte in Ägypten durch. Finanziert werden diese teils von europäischen Regierungen, aber auch aus Mitteln des 2015 aufgelegten EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika (EUTF).Dessen zugesagtes Budget für Projekte in dutzenden afrikanischen Ländern liegt inzwischen bei insgesamt 4,6 Milliarden Euro (Stand November 2019). Die Ägypten-Komponente des EUTF umfasst neben der Stärkung des Migrationsmanagements ägyptischer Behörden auch den Kampf gegen Menschenschmuggel, Programme zum Schutz von in Ägypten lebenden Migrant*innen und die Unterstützung für Aufnahmegemeinden von Geflüchteten.

Bisher wurde lediglich ein einziges ausschließlich auf Ägypten ausgelegtes Programm unter dem Dach des EUTF initiiert. Das mit 60 Millionen Euro dotierte, 2017 lancierte Projekt Enhancing the Response to Migration Challenges in Egypt (ERMCE) will das Migrationsmanagement ägyptischer Behörden verbessern, Migrationsursachen bekämpfen und Aufnahmegemeinden im Land unterstützen. Zu den durchführenden Organisationen der verschiedenen Projektkomponenten gehören die deutsche staatliche Entwicklungshilfeagentur GIZ, die italienische Entwicklungshilfeorganisation AICS, das Deutsche Rote Kreuz sowie Plan International. Vom ERMCE finanziert werden unter anderem eine Kooperation mit dem staatlichen ägyptischen National Council for Women und ein Programm zur Beschäftigungsförderung junger Menschen in Assiut und Sohag in Oberägypten (beide Provinzen sind wichtige Herkunftsregionen irregulärer Migrant*innen).

Zentraler ERMCE-Partner auf ägyptischer Seite ist das 2016 gegründete National Coordinating Commitee for Preventing and Combating Illegal Migration and Human Trafficking (NCCPIM-TIP), eine beim Außenministerium angesiedelte Koordinierungsbehörde, die als Schnittstelle zwischen ägyptischen Ministerien und Behörden und internationalen Partner*innen und Geldgeber*innen dient. Zu den vom NCCPIM-TIP durchgeführten oder geplanten Maßnahmen zählen PR-Kampagnen zur Aufklärung der Gefahren der irregulären Ausreise (Adressatin ist die ausreisewillige Jugend), das Sammeln von Daten über Herkunftsregionen und Profile irregulärer Migrant*innen sowie Fortbildungsmaßnahmen für ägyptische Beamt*innen. Das Komitee soll auch als Multiplikator dienen, organisierte es doch schon 2016 einen Workshop für Regierungsoffizielle aus acht afrikanischen Staaten zu Themen wie illegaler Migration und Menschenhandel, an dem auch Beamt*innen aus Eritrea, Äthiopien und Südsudan teilnahmen. Das NCCPIM-TIP entwarf zudem einen auf zehn Jahre angelegten Strategieplan zur Bekämpfung von illegaler Migration und war bei der Ausarbeitung des 2016 verabschiedeten Gesetzes zur Bekämpfung von illegaler Migration federführend beteiligt.

Ägypten nimmt zudem an mehreren vom EUTF finanzierten Regionalvorhaben teil. Das Projekt Better Migration Management II (BMM) will nationale und grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Sicherheits- und Justizbehörden und staatlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen in Nord- und Ostafrika ausbauen. Bei dem Programm geht es darum, die Migration aus Ostafrika zu begrenzen. Fast die Hälfte der für das Projekt zugesagten Mittel ist für operationelle und beratende Unterstützung der lokalen Behörden vorgesehen. Dazu zählen Ausrüstungshilfen und Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zugunsten von Ermittlungsbeamt*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen. Ob die im November 2018 zwischen Sudan und Ägypten vereinbarten gemeinsamen Grenzpatrouillen an der sudanesisch-ägyptischen Grenze auch im Rahmen des BMM-Programms vorangetrieben wurden, ist zwar nicht bekannt, die Maßnahme fügt sich jedoch nahtlos in die Zielsetzung des Projektes ein. Ein weiteres mit zehn Millionen Euro dotiertes Programm zielt auf Schutz- und Reintegrationsmaßnahmen von Migrant*innen ab (Hilfen bei freiwilliger Rückkehr, Reintegration abgeschobener Menschen). Das UN Office for Drugs and Crime (UNODC) führt in Ägypten, Tunesien und Algerien derweil ein Projekt zur Bekämpfung krimineller Netzwerke durch, in dessen Rahmen ebenfalls Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen geleistet werden sollen. Gemeinsam mit dem NCCPIM-TIP führt das UNODC zudem seit 2018 Workshops zugunsten ägyptischer Richter*innen in Sachen Migrant*innen- und Menschenschmuggel durch. Während auch die IOM Workshops und Ausbildungsmaßnahmen für ägyptische Offizielle anbietet, profitiert Ägyptens Sicherheitsapparat von dem höchst umstrittenen EU-Projekt Euromed Police IV und des unter dem Dach des Khartum-Prozesses durchgeführten Projektes ROCK (Regional Operational Center in Khartum in Support of the Khartum Process and AU Horn of Africa Initiative). Dieses komplementär zum BMM implementierte und von der französischen Civipol organisierte Regionalvorhaben wird unter anderem in Kooperation mit INTERPOL und der Afrikanischen Union vorangetrieben und soll die Koordinierung und Kooperation zwischen nord- und ostafrikanischen Staaten verbessern. Ägypten intensivierte zudem zuletzt seine Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzbehörde Frontex, die seit 2017 Abschiebungen von Ägypter*innen aus Deutschland durchführt (bislang sind jedoch nur zwei von Frontex durchgeführte Abschiebeflüge bekannt).

Bilaterale sicherheitspolitische Kooperation mit Ägypten

Zentraler Bestandteil der migrationspolitischen Kooperation Europas mit Ägypten sind bilaterale sicherheitspolitische Maßnahmen zugunsten des ägyptischen Sicherheitsapparates. Darunter fallen Rüstungs- und Waffenexporte sowie Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen für die Innenbehörden. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Deutschland, Italien und Frankreich. Letztes setzt vor allem auf Materiallieferungen für das ägyptische Militär und die für die Niederschlagung von Protesten eingesetzten Hundertschaften (Central Security Forces). Seit 2014 lieferten französische Firmen einen Mistral-Hubschrauberträger, zwei FREMM-Fregatten, vier GOWIND-Korvetten (zwei der Boote wurden in einer Werft in Alexandria montiert, Naval Group), 24 Rafale-Kampfflugzeuge (Dassault, bisher teilweise ausgeliefert), Raketen, hunderte gepanzerte Fahrzeuge (Renault Trucks Defense lieferte diese zwischen 2012 und 2014) und Spionagesoftware (Amesys) an ägyptische Sicherheitsbehörden. In Deutschland bestellte Ägypten vier U-Boote (drei davon sind bereits ausgeliefert, Stand November 2019), zwei MEKO-200-Fregatten (ThyssenKrupp Marine Systems) und Raketen (Diehl Defense). Großbritannien, Griechenland, Zypern und Frankreich nahmen zudem an mehreren Militärmanövern mit der ägyptischen Marine im Mittelmeer teil.

Deutschland und Italien führen derweil im Rahmen bilateraler Sicherheitsabkommen polizeiliche Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen zugunsten ägyptischer Innenbehörden durch. Das im Jahr 2000 von Italien und Ägypten unterzeichnete Polizeiabkommen trat 2002 in Kraft. Seit 2004 werden auf Grundlage dieses Abkommens Trainingsprogramme für ägyptische Sicherheitskräfte an verschiedenen italienischen Polizeischulen durchgeführt. Seit 2011 fanden jährlich durchschnittlich rund zehn Ausbildungsmaßnahmen zugunsten ägyptischer Sicherheitskräfte statt. 2007 übergab Italien Ägypten zwei Patrouillenboote, während italienische Firmen Munition und Handfeuerwaffen (Beretta) an Ägypten verkauften. Das italienische Unternehmen Iveco gehört zu den wichtigsten Ausrüstern der Central Security Forces und beliefert diese seit Jahren mit Mannschaftstransportern, die bei der Niederschlagung von Protesten eine zentrale Rolle spielen.

Erst 2017 unterzeichneten Italien und Ägypten ein mit 1,8 Millionen Euro dotiertes „technisches“ Kooperationsabkommen im Migrationsbereich, dessen wesentlicher Bestandteil die Einrichtung eines polizeilichen Trainingszentrums für migrationspolitisch relevante Belange unter dem Dach der Police Academy in Cairo ist. Italienische Polizeibehörden wollen hier mindestens 360 Offizielle aus 22 afrikanischen Staaten (Algerien, Burkina Faso, Tschad, Elfenbeinküste, Eritrea, Äthiopien, Gambia, Djibouti, Ghana, Guinea, Kenia, Libyen, Mali, Marokko, Niger, Nigeria, Senegal, Somalia, Sudan, Südsudan, Tunesien) aus- und fortbilden. Im Dezember 2019 wurde die italienisch-ägyptische Kooperationsvereinbarung, die als Basis für das Trainingsprojekt fungiert, um zwei weitere Jahre verlängert und läuft nun erst 2021 aus. Im Rahmen des 2018 durchgeführten Pilotprojektes standen Themen wie Grenzkontrolle, Rückführungsprozeduren und die Identifikation gefälschter Ausweisdokumente auf der Agenda. Teil des Abkommens sind zudem die Einrichtung einer ägyptisch-italienischen Expert*innengruppe sowie Ausrüstungslieferungen an Ägypten.

Derweil intensiviert auch Deutschland seine polizeiliche Zusammenarbeit mit Ägypten massiv. Im Juni 2016 unterzeichneten die Innenminister beider Länder nach rund zweijährigen Verhandlungen ein Sicherheitsabkommen, das die Bereiche Kampf gegen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegale Migration sowie Katastrophenschutz und die polizeiliche Aufgabenerfüllung bei Großveranstaltungen umfasst. Eine Kooperation der Bundespolizeiakademie mit der Police Academy in Cairo ist ebenfalls vorgesehen und soll Vorträge und Lehrgänge beinhalten. Schon 2015 führten deutsche Polizeibehörden erste Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zugunsten ägyptischer Innenbehörden durch. Auf deutscher Seite sind die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt (BKA), auf ägyptischer Seite das Innenministerium, die Grenzpolizei sowie die Geheimdienste GIS und NSS (Staatssicherheitsdienst) beteiligt.

Die Bundespolizei führte seither unzählige Workshops, Arbeitsbesuche und Schulungs- und Evaluierungsmaßnahmen in den Bereichen Grenzschutz, Dokumenten- und Urkundensicherheit sowie Luft- und Flughafensicherheit an ägyptischen und deutschen Flughafen durch. Dabei geht es im Wesentlichen um den Kampf gegen Schleuser*innenkriminalität und das Identifizieren gefälschter Ausweisdokumente. Das BKA schickte einen Verbindungsbeamten an die deutsche Botschaft in Kairo und bildete im Rahmen des Stipendiat*innenprogramms des BKA Mitarbeiter*innen des ägyptischen Inlandsgeheimdienstes NSS aus. Deutschland beliefert Ägypten im Rahmen des Abkommens zudem mit Ausrüstungsgütern wie mobilen Ausweislesegeräten. Ende 2017 sagte das BKA einen Workshop zugunsten des ägyptischen Innenministeriums zum Thema Beobachtung von Websites mit extremistischen Inhalten kurzerhand ab. Grund für die Absage waren Befürchtungen, dass „einige der im Rahmen dieses Lehrgangs zu vermittelnden Kenntnisse und Fähigkeiten nicht nur zur Verfolgung von Terroristen, sondern möglicherweise auch zur Verfolgung von anderen Personenkreise eingesetzt werden könnten.“ Bislang war dies jedoch der einzige Fall, bei dem die Bundesregierung eine polizeiliche Fortbildungsmaßnahme absagte; grundsätzlich hält Berlin bisher an der Sicherheitskooperation mit Ägypten fest. Mehrere für 2020 geplante Schulungen wurden aufgrund der Covid-19-Pandemie verschoben.

Entwicklungspolitische Kooperation zur Abfederung der sozialen Schieflage

Angesichts extremer sozialer Ungleichheiten und der auf 101 Millionen Menschen angewachsenen ägyptischen Bevölkerung gilt Ägypten als Pulverfass. Das Migrationspotential der ägyptischen Gesellschaft ist enorm. Entsprechend flankieren die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre sicherheits- und migrationspolitische Kooperation mit Ägypten seit 2015 mit der massiven Ausweitung ihrer entwicklungspolitischen Aktivitäten im Land, um die sozialen Folgen der vom IWF auferlegten Strukturanpassungsprogramme abzufedern, Migrationsursachen im Land zu bekämpfen und Aufnahmegemeinden von im Land lebenden Geflüchteten zu unterstützen. Vor allem Deutschland und Italien bauten ihre bilaterale Entwicklungskooperation in Ägypten daher zuletzt massiv aus und verzahnen diese zunehmend mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.

Die italienische Entwicklungshilfeagentur AICS engagiert sich dabei in Ägypten vor allem in den Bereichen Frauenförderung und Gender Mainstreaming, aber auch in Umweltprojekten. Im Zuge eines 2012 angelaufenen und zuletzt ausgeweiteten Schuldentauschprogramms führte AICS im Großraum Kairo berufliche Weiterbildungsprogramme zugunsten von Straßenkindern und jungen Müttern durch. Nach Angaben von AICS sollen in drei Jahren 25.000 Menschen von dem Projekt, das auch Gesundheitsleistungen umfasste, profitiert haben. Projekte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Effizienz in der Landwirtschaft wurden in Beheira und Damietta durchgeführt. In Assiut in Oberägypten investierte die Organisation in Projekte zu Jugend- und Frauenempowerment, Beschäftigungsförderung und Sensibilisierungskampagnen in Gesundheits- und Umweltfragen. Explizites Ziel des Programms ist die Verhinderung irregulärer Migration in wichtigen Herkunftsregionen irregulärer Migrant*innen.

Ein weiterer wichtiger Akteur in Sachen Entwicklungskooperation in Ägypten ist die staatliche deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ, die in Kairo eines ihrer größten Büros weltweit unterhält. Ende 2018 beschäftigte die Organisation 267 nationale und 44 internationale Mitarbeiter*innen, drei integrierte Fachkräfte und sechs Entwicklungshelfer*innen. Schwerpunkte der Kooperation sind Beschäftigungsförderung für Jugendliche und Frauen, Gender Diversity Management in Unternehmen, die Förderung dualer Ausbildungsmodelle und Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Abwassermanagement und Abfallwirtschaft.

Welche Rolle spielen (welche) NGOs?

In Ägypten lebende Flüchtlinge und Migrant*innen sind zwingend auf die Unterstützung privater und nicht-staatlicher Hilfsorganisationen angewiesen, da sich Ägypten trotz seiner internationalen Verpflichtungen weiterhin weigert, Asylanerkennungsverfahren einzuführen und selbst vom UNHCR anerkannten Flüchtlingen Unterstützungsleistungen zu gewähren. Zu den wichtigsten Anlaufstellen für Geflüchtete im Land zählen daher kirchliche Organisationen sowie kleine, meist im Großraum Kairo oder in Alexandria arbeitende NGOs, die aus selbstorganisierten Initiativen hervorgegangen sind. Der seit 1979 im Land aktive Saint Andrew‘s Refugee Service gehört dabei bereits seit Jahren zu den wichtigsten legal im Land operierende Organisationen, die sich für die Belange Geflüchteter einsetzen und Englischkurse, Rechtsberatung oder medizinische Hilfen anbietet. Die im Kairoer Stadtzentrum ansässige, mit der gleichnamigen Kirche assoziierte Organisation leistet zudem Hilfestellungen für Asylbewerber*innen bei den bürokratischen Prozeduren des UNHCR. In Kairoer Stadtvierteln mit hohen Einwanderanteilen arbeiten derweil zahlreiche informell organisierte Initiativen, die aufgrund des restriktiven ägyptischen NGO-Gesetzes jedoch in die Illegalität gedrängt werden und nur über sehr begrenzte Kapazitäten verfügen.

Staatliche ägyptische Satellitenorganisationen wie der National Council for Women oder staatliche ausländischen Entwicklungshilfeorganisationen wie die GIZ oder AICS lassen sich derweil ebenso bereitwillig in abschottungspolitisch motivierte Entwicklungshilfemaßnahmen einbinden wie mehrere europäische Ableger des Roten Kreuzes oder NGOs wie Plan International. Ausländische Hilfsorganisationen können aufgrund des restriktiven NGO-Gesetzes, das die ausländische Finanzierung von Projekten stark reglementiert und einschränkt, in Ägypten jedoch nur unter sehr schwierigen Bedingungen operieren und ziehen sich seit Jahren sukzessive aus dem Land zurück, auch da es schwierig ist, Partnerorganisationen im Land zu finden und mit diesen formelle Kooperationsvereinbarungen abzuschließen. Für die Umsetzung von migrationspolitisch relevanten Maßnahmen ist die EU daher zum überwiegenden Teil auf staatliche Partnerorganisationen angewiesen.

Wirtschaftliche Interessen – Wer profitiert?

Zu den Profiteur*innen der migrationspolitischen Kooperation zwischen Europa und Ägypten zählen zweifelsohne jene Unternehmen, die Ägypten mit Rüstungs- und Waffengütern sowie sicherheitspolitisch relevanter Ausrüstung beliefern. Dazu zählen französische Firmen wie die Naval Group, Dassault, Renault Trucks Defense oder Amesys, die italienischen Unternehmen Beretta und Iveco sowie deutsche Rüstungsproduzenten wie ThyssenKrupp Marine Systems und Diehl Defense, aber auch der Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern, der über eine in Südafrika ansässige Tochterfirma 2018 eine schlüsselfertige Bomben- oder Munitionsfabrik nach Ägypten geliefert haben soll.[2]

Ägyptens Militärregime schlachtet die europäische Auslagerung des Grenzkontrollregimes im Mittelmeerraum derweil in umfassender Weise aus und instrumentalisiert die Abhängigkeit der EU von einer engen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Ägypten für innen- und machtpolitische Zwecke. Rüstungs- und Ausrüstungslieferungen europäischer Unternehmen sowie die von Deutschland und Italien durchgeführten polizeilichen Ausbildungshilfen erlauben es Al-Sisis Regime, seine Herrschaft zu zementieren und geben dem Sicherheitsapparat die notwendigen Mittel zur Hand, die Außengrenzen abzuschotten und Unruhen oder Proteste gewaltsam niederzuschlagen. Das Regime konnte zudem sozialpolitische Aufgaben erfolgreich an europäische Regierungen auslagern, die mittels ihrer ausgebauten Entwicklungskooperation dabei helfen sollen, die sozialen Folgen von Al-Sisis Wirtschafts- und Währungspolitik abzufedern.

Wer verliert?

Durch die systematische Aufwertung und Aufrüstung des autoritären ägyptischen Militärregimes durch EU, EU-Mitgliedsstaaten und andere in die Grenzauslagerung nach Ägypten involvierte staatliche, transnationale und zivilgesellschaftliche Akteur*innen werden die Herrschaft Al-Sisis und seines Regimes umfassend stabilisiert. Die von diesem gewaltsam aufrechterhaltenen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten in der ägyptischen Gesellschaft werden damit zusätzlich zementiert. Die ägyptische Gesellschaft und all jene, die in Ägypten übergangsweise oder dauerhaft leben und damit von Al-Sisis autoritärer Politik direkt betroffen sind, werden durch die Unterstützung und Stabilisierung des ägyptischen Militärregime in Kollektivhaft genommen.

Welchen Widerstand gibt es?

Wirksamen Widerstand gegen die EU-Migrations- und Abschottungspolitik und die Kooperation der EU mit Ägyptens Regierung gibt es im Land kaum. Jedwedes politisches Engagement ist im Land seit der Machtübernahme Al-Sisis 2013 lebensgefährlich. Zwar gab es immer wieder Phasen, in denen sich auch ägyptische Menschenrechtsgruppen oder unabhängige Gewerkschaften für die Rechte von Einwander*innen oder Flüchtlingen einsetzten, doch die Zivilgesellschaft ist zunehmend paralysiert und nur punktuell arbeitsfähig. Journalistische oder akademische Recherchen zu Themen wie Grenzauslagerung, der Kooperation zwischen EU und Ägypten oder den Lebensbedingungen von Flüchtlingen und Migrant*innen im Land sind vor diesem Hintergrund schwierig und für Beteiligte (inklusive Interviewpartner*innen) gefährlich. Ein wirksames Monitoring genannter Aspekte ist daher vor Ort seit Al-Sisis Machtübernahme nur sehr eingeschränkt möglich.

Materialien und Quellen

Diese Version ist veraltet. Aktualisierte Version vom März 2022.

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