Algerien
Veröffentlicht März 15th, 2022 - von: Sofian Philip Naceur
Zuerst veröffentlicht November 2020
Basisdaten und kurze Charakterisierung
Das am Mittelmeer gelegene Algerien ist mit 2,4 Millionen km² Afrikas größter Flächenstaat. Es hat eine Küstenlinie von rund 1000 Kilometern und Landgrenzen von mehr als 6700 Kilometern Länge. Im Westen grenzt Algerien an Marokko und die Westsahara, im Süden an Mali, Mauretanien und Niger und im Osten an Libyen und Tunesien. Rund 90 Prozent der Bevölkerung (etwa 44 Millionen, Stand 2022) leben in einem schmalen Küstenstreifen im Norden des Landes. Der überwiegende Teil des Staatsterritoriums ist unfruchtbare Wüste, nur 17 Prozent der Landfläche landwirtschaftlich nutzbar.
Etwa 99 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime. Rund drei Viertel sind Araber*innen und ein Viertel Berber*innen (Amazigh), die vor allem in der Region Kabylei östlich von Algier leben. Nomad*innenstämme wie die Tuareg sind insbesondere in den Wüsten Südalgeriens beheimatet. Die drei Amtssprachen im Land sind Arabisch, Französisch und Amazigh. Rund 45 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre alt. Das Bevölkerungswachstum lag 2018 bei rund 1,6 Prozent. Adäquate offizielle Angaben zu der in Algerien lebenden ausländischen Bevölkerung gibt es nicht, da ein erheblicher Anteil der im Land lebenden Menschen aus afrikanischen Staaten nicht amtlich registriert ist. Die Anzahl der behördlich registrierten Arbeitsmigrant*innen ist vergleichsweise gering, rund 60 Prozent davon kommen aus China, der Türkei und Ägypten.
Ökonomie und Regierung
Oliven und Datteln zählen zu Algeriens wichtigsten landwirtschaftlichen Exportprodukten. Der überwiegende Anteil der im Land benötigten Lebensmittel, aber auch Konsumgüter jeglicher Art, müssen aufgrund der Strukturschwäche von Agrar- und Industriesektor importiert werden. Algerien ist jedoch reich an Bodenschätzen. Neben Erdöl und Erdgas verfügt das Land über Gold-, Eisen-, Phosphat-, Wolfram- und Diamantenvorkommen. Rund 98 Prozent der Deviseneinkünfte und mehr als 60 Prozent des Staatsbudgets stammen aus den Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasexport. Der staatlichen Öl- und Gasgesellschaft Sonatrach kommt daher für Algeriens Staatseinkünfte und die allgemeine Wirtschaftsleistung eine übergeordnete Bedeutung zu.
Als klassischer Rentierstaat ist Algerien daher hochgradig abhängig vom Weltmarktpreis für Kohlenwasserstoffe. In Zeiten hoher Ölpreise (wie zwischen 2003 und 2014) kann die Regierung die Ölrente ausschütten, Subventionen erhöhen und staatliche Wohlfahrtsleistungen (Wohnungsbau- und Infrastrukturprojekte, günstige oder kostenlose Bildungs- oder Gesundheitsleistungen) ausbauen. Geht die Erdölrente zurück (so wie ab Mitte der 1980er und seit 2015), muss der Staat seine Sozialpolitik anpassen, Sozialleistungen einschränken und Steuern erhöhen. Ein Einbruch der Ölrente ist also immer gleichbedeutend mit Wirtschafts- und Währungskrisen und der Verschärfung der sozialen Schieflage. Sobald die Öleinkünfte sinken, gerät Algeriens Währung, der Dinar, unter Druck. Importe werden teurer und die vom Wechselkurs abhängigen Lebenserhaltungskosten steigen. In den 1980ern und seit 2017 kam es daher vermehrt zu sozioökonomisch motivierten Protesten und Streiks, in deren Rahmen Wirtschaftsreformen und ein Ende von Misswirtschaft und Korruption gefordert wurden.
Algerien wird von einer Staatsklasse regiert, die ein Monopol auf die Verteilung der Erlöse aus dem Kohlenwasserstoffexport innehat. Einbrüche der Rente gehen daher nicht nur mit Wirtschaftskrisen und Protesten der Bevölkerung einher, sondern feuern zusätzlich heftige Verteilungskämpfe um die knapper werdende Rente innerhalb der Staatsklasse an. Diese hochgradig fragmentierte Klasse besteht aus einem undurchsichtigen Geflecht von Kadern aus dem Militär- und Sicherheitsapparat und der Staatsbürokratie, von politischen Kräften, die aus der früheren Einheitspartei Front de Libération National (FLN) hervorgegangenen sind, sowie privaten Wirtschaftseliten und Teilen der kooptierten Opposition. Diese vereinigen sich entlang ideologischer und regionaler Bruchlinien zu Fraktionen und konkurrieren gegeneinander um politischen Einfluss und wirtschaftliche Privilegien.
In wirtschaftlich guten Zeiten wie zwischen 2003 und 2014 legte Algeriens Regierung zahlreiche Bau- und Wohnungsbauprogramme auf, investierte in die Modernisierung der Infrastruktur, vergab Unternehmensgründungskredite an junge Menschen und erhöhte die Subventionen auf Lebensmittel und Treibstoffe. Trotz grassierender Korruption im Sicherheits- und Bürokratieapparat konnte der Staat in dieser Phase grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen und sich den sozialen Frieden im Land erkaufen. Seit dem Einbruch der Öl- und Gaspreise 2014 hat sich das Staatsbudget jedoch fast halbiert und die sozioökonomische Lage weiter Teile der Bevölkerung verschlechterte sich massiv. Die im Februar 2019 ausgebrochene Massenrevolte (im Land meist „Hirak“ genannt, dem arabischen Begriff für „Bewegung“), in deren Rahmen politische und sozioökonomische Reformen gefordert werden, findet auch vor dem Hintergrund der massiven sozialen Ungleichheiten statt. Sie richtet sich gegen die Staatsklasse, die Algerien seit seiner Unabhängigkeit 1962 regiert und die ihre Legitimation in weiten Teilen der Bevölkerung verloren hat, und fordert einen demokratischen und zivilen Staat, in dem sich das Militär nicht mehr in die Politik des Landes einmischt. Echte Reformen sind derweil vorerst nicht zu erwarten, ist der Hirak doch seit 2020 einer heftigen Repressionswelle des Regimes ausgesetzt und hat massiv an Zugkraft verloren.[1]
Migrationsbewegungen
Für Migrationsbewegungen zwischen Afrika und Europa ist Algerien von herausragender Bedeutung. Algerien ist ein Einwanderungsland für Arbeitsmigrant*innen aus Westafrika und der Sahel-Zone (vor allem aus Niger), aber auch ein wichtiges Transitland für afrikanische Migrant*innen und Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Auch Flüchtlinge aus arabischen und asiatischen Staaten migrieren immer wieder durch oder nach Algerien, zuletzt vor allem aus Syrien und Jemen. Gleichzeitig ist Algerien ein Auswanderungsland. Rund zwei Millionen Algerier*innen leben im Ausland, der überwiegende Teil davon in Frankreich. Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Algerier*innen an ihre Familien sind für diese aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und Preisschwankungen von Nahrungs- und Konsumgütern teils überlebenswichtig. Volkswirtschaftlich sind derlei Geldtransfers aber nicht so bedeutsam wie in anderen Ländern der Region.
Nach Angaben des UNHCR leben in Algerien 98,000 anerkannte Flüchtlinge (Stand September 2021). 90.000 davon sind geflüchtete Sahrouis aus der Westsahara. Sie leben seit den 1960er und 1970er Jahren in fünf Flüchtlingslagern nahe der südwestalgerischen Stadt Tindouf nahe der Grenze zur Westsahara und sind fast vollständig auf externe Hilfen wie Gesundheitsleistungen, Nahrungsmittel, Bildung, etc. angewiesen. Zusätzlich waren Mitte 2021 rund 8,000 Menschen, vor allem aus Syrien, Mali, Palästina und Jemen vom UNHCR in Algerien als Flüchtlinge anerkannt.
In algerischen Gesetzen gibt es zwar vage gehaltene Verweise auf internationales Flüchtlingsrecht, jedoch kein gesetzlich verbrieftes Recht auf Asyl. De facto ist das UNHCR in Algerien die einzige Anlaufstelle für Flüchtlinge, um einen Schutzstatus, Unterstützungsleistungen oder die Umsiedlung zu beantragen. Algerische Behörden haben in der Vergangenheit nach Vorlage von seitens des UNHCR ausgestellten Identifikations- oder Statusdokumenten Flüchtlingen meist Aufenthaltstitel ausgestellt. Flüchtlinge aus arabischen Staaten werden dabei gegenüber afrikanischen Flüchtlingen bevorzugt. Mit den letzteren gehen die Behörden in den letzten Jahren zunehmend willkürlich um. Im Zuge der seit 2014 stattfindenden Massenverhaftungen und -abschiebungen wurden wiederholt vom UNHCR anerkannte Flüchtlinge oder Arbeitsmigrant*innen mit gültigen Visa abgeschoben.
Die algerische „Harga“ – Irreguläre Migration nach Europa
Algeriens Küste wird für die Migration irreguärer Migrant*innen immer wichtiger. Diese legen meist in kleinen Booten mit maximal 30 Personen von der algerischen Küste nach Spanien oder Italien ab. Bis 2017 versuchten zahlreiche Algerier*innen zudem trotz höherer Kosten via Libyen irregulär nach Europa einzureisen oder flogen angesichts der für Algerier*innen wenig restriktiven Visabestimmungen in die Türkei, um danach über die Balkanroute nach Europa zu gelangen. Auch deshalb gehören Algerier*innen in den Flüchtlingslagern in Bosnien seit 2017 zu den am häufigsten gezählten Nationalitäten. Zum 1. Oktober 2019 verschärfte die Türkei allerdings die Visabestimmungen für Algerier*innen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren.
Die irreguläre Ausreise algerischer Bürger*innen in die USA und nach Europa begann bereits in den 1990ern. Nach Einführung des Visaregimes für Algerier*innen durch europäische Staaten nach dem Militärputsch in Algerien 1992 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg versteckten sich die ersten algerischen irregulären Migrant*innen – im Land Harraga (Arabisch für „verbrennen“, gemeint ist das Verbrennen der Grenze) genannt – auf Frachtschiffen oder Öltankern und schifften sich so in die USA ein. Nachdem immer mehr Algerier*innen ohne Aufenthaltstitel in US-amerikanischen Häfen festgenommen wurden, sicherten algerische Behörden auf Druck der USA die Fracht- und Ölhäfen im Land ab; Überwachungskameras wurden aufgestellt, Mauern und Zäune errichtet, Wachdienste eingestellt. Algeriens Häfen gelten daher seit Beginn der 2000er als hermetisch abgeriegelt.
Seither konzentriert sich die „Harga“ auf Europa. Seit 2004 setzen algerische Migrant*innen per Boot von Algerien nach Spanien oder Italien über. Bis zur faktischen Schließung der marokkanisch-algerischen Grenze migrierten algerische Migrant*innen auch via Marokko in die EU. Bis 2018 fanden Überfahrtversuche aus Algerien aufgrund der Nähe zu Spanien und Italien ausschließlich im äußersten Westen des Landes rund um die Großstadt Oran (in den Provinzen Oran, Mostaganem, Ain Temouchent und Tlemcen) sowie im äußersten Osten in den Provinzen El Tarf, Annaba und Skikda statt. 2018 gab es jedoch erstmals auch Überfahrtversuche in den zentralalgerischen Provinzen Boumerdes, Tizi Ouzou und Béjaïa. Von hier aus ist die Strecke nach Europa (auf die spanischen Balearen) zwar länger, allerdings gab es bisher keine systematischen Seekontrollen in diesem Teil des Mittelmeeres. Aufgrund der anhaltenden Wirtschafts- und Sozialkrise und den politischen Repressalien gegen Hirak und Opposition seit 2020 wird die zentralalgerische Route inzwischen deutlich stärker genutzt.
Während tunesische Harraga fast ausschließlich aus sozioökonomischen Gründen irregulär in die EU migrieren, sind die Profile algerischer Migrant*innen komplexer. Wirtschaftliche und soziale Gründe wie hohe Jugendarbeitslosigkeit und allgemeine Perspektivlosigkeit sind auch in Algerien primäre Motive für irreguläre Migration, doch für algerische Harraga spielen politische, familiäre und kulturelle Aspekte eine ebenso erhebliche Rolle. Einschränkungen politischer Freiheitsrechte, familiärer und religiöser Druck seitens der konservativen Gesellschaft auf Jugendliche und junge Erwachsene und ein eklatanter Mangel an individuellen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten werden von algerischen Harraga oft als Migrationsgrund angegeben. Ein weiterer Grund für den Anstieg der irregulären Migration nach Europa ist die seit 2015 restriktiver gehandhabte Visavergabepolitik für Algerier*innen seitens europäischer Staaten (die meisten algerischen Harragas haben mehrfach erfolglos Schengen-Visa beantragt, bevor sie irregulär nach Europa übergesetzt sind).
Derweil hat sich seit 2017 das Profil algerischer Harraga signifikant verändert. Setzten zuvor fast ausschließlich junge Männer auf diesem Wege nach Europa über, hat sich seither der Anteil an Frauen, älteren Menschen und ganzen Familien stark erhöht. Aufgrund der Perspektivlosigkeit bei der Jobsuche setzen auch immer mehr gut ausgebildete Akademiker*innen irregulär nach Europa über.
Transitmigration und Einwanderung nach Algerien
Seit den späten 1990ern ist Algerien ein wichtiges Transitland für vor allem aus dem Sahel-Raum und Westafrika stammende Migrant*innen. Die in der Vergangenheit kaum kontrollierbaren und jahrhundertelang als Handelswege genutzten Routen durch die Sahara sind gefährlich, erlaubten es aber, zügig und unbemerkt nach Algerien einzureisen, da die Staatsgrenzen zwischen Mauretanien, Mali, Niger und Algerien mitten in der Wüste liegen und daher lange nicht systematisch überwacht werden konnten. Transitmigrant*innen sind bei den Reisen nach Algerien zum überwiegenden Teil auf Helfer*innen und Schlepper angewiesen, die ortskundig sind und Brunnen, befahrbare Routen und lokale Gegebenheiten in den Grenzregionen kennen.
In der Vergangenheit reisten Migrant*innen zunächst meist nach Tamanrasset im Süden Algeriens, bevor sie in größeren Städten wie Algier, Oran oder Annaba untertauchten und dort im informellen Sektor und vor allem in der nach billigen Arbeitskräften suchenden Baubranche als Tagelöhner*innen anheuerten. Migrant*innen aus Subsahara-Afrika waren in verschiedenen Wirtschaftssektoren viele Jahre lang willkommen, da sie billiger waren als lokale Arbeiter*innen und in der Regel nicht formal angestellt wurden. Transitmigrant*innen konnten durch ihre Arbeit in Algeriens informeller Wirtschaft die nötigen Mittel für die Weiterreise nach Europa verdienen und verließen das Land meist nach einigen Monaten oder Jahren, um via Libyen oder Marokko in die EU zu migrieren. Seit die Grenzen zu den Nachbarländern Marokko, Tunesien und Libyen aufgrund zunehmender Kontrolle und Befestigung weniger durchlässig sind, blieben unzählige Menschen, die eigentlich auf dem Weg nach Europa waren, in Algerien stecken und waren gezwungen, länger im Land zu bleiben.
Aufgrund oft nicht vorhandener Aufenthaltstitel ist die Alltagssituation afrikanischer Arbeits- und Transitmigrant*innen in Algerien meist prekär. Arbeitnehmer*innenschutz haben nur wenige. Aus Subsahara-Afrika stammende Menschen sind rassistischen Übergriffen seitens Teilen der Bevölkerung und der Behörden meist schutzlos ausgeliefert. Rassistische Vorfälle und verbale und physische Übergriffe gegen aus Subsahara-Afrika stammende Menschen gehörten schon früher zum Alltag, haben sich jedoch auch aufgrund der zunehmend angespannten sozialen Lage im Land seit 2015 massiv intensiviert. Auch die Regierung schürt immer wieder gezielt Ressentiments gegen nicht-arabische Einwanderer. Unter Ex-Regierungschef Ahmed Ouyahia (zwischen 2017 und 2019 im Amt) setzte die Regierung in einer bis dahin beispiellosen Intensität auf xenophobe Stimmungsmache. Damit soll sowohl das repressive Vorgehen der Behörden gegen Migrant*innen, wie Massenverhaftungen und Massenabschiebungen legitimiert werden, als auch mit rechtspopulistischen Parolen von der gescheiterten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung abgelenkt werden soll.
Projekte der EU und Algeriens Eigeninteresse an Grenzsicherung und -kontrolle
In Sachen Grenzauslagerung, Grenzkontrolle und Verhinderung irregulärer Migration kooperiert Algerien grundsätzlich mit der EU und EU-Mitgliedstaaten, gilt allerdings als schwieriger Partner und setzt Grenzkontrollmaßnahmen auch aus Eigeninteresse um. Algerien baut seit Jahren ein teils mit modernster Technologie ausgestattetes Grenzkontrollregime an seinen Außengrenzen auf und will damit auch das Einsickern bewaffneter Gruppen verhindern. Im algerischen Bürgerkrieg aktive bewaffnete Gruppen zogen sich seit Ende der 1990er in die Wüsten Südalgeriens und den Norden Malis zurück und nutzen diese schwer kontrollierbaren Regionen bis heute als Rückzugsgebiet.
Algeriens Grenzkontrollpolitik und die migrationspolitische Kooperation mit der EU stehen daher in einem nicht widerspruchsfreien Spannungsverhältnis mit sicherheitspolitischen Entwicklungen im Sahel, den Aktivitäten bewaffneter Gruppen in der Region, den Instabilitäten in Libyen und Mali sowie dem langjährigen bilateralen Konflikt mit Marokko. Vor allem die Kriege in Libyen und Mali und der Überfall bewaffneter Extremist*innen auf die Öl- und Gasanlage In Amenas 2013 spielen eine wichtige Rolle für Algeriens Interesse an einem gut ausgebauten Grenzkontrollregime. Der Aufbau eines Grenzkontrollregimes an Algeriens Landgrenzen und die repressive Abschiebepolitik gegenüber afrikanischen Einwander*innen treiben die Auslagerung der EU-Außengrenze aktiv voran. Gleichzeitig verfolgt die algerische Regierung mit der Militarisierung der Grenzen aber auch eigene sicherheits- und regionalpolitische Ziele.
Derweil ist Algerien aufgrund seiner enormen geo- und energiepolitischen Bedeutung für die EU von internationalen Mächten nur bedingt erpressbar. Algeriens Öl- und Gasexporte nach Europa sind für die EU aufgrund der geographischen Nähe unverzichtbar. Italien und Spanien sind mit drei Gaspipelines direkt mit dem algerischen Verteilungsnetz verbunden. Algerien ist zudem eines der wenigen Länder weltweit, das über eine Gasverflüssigungsindustrie verfügt und Flüssiggas (LNG) exportiert. Außerdem kooperieren die USA und die EU mit Algerien eng im Kampf gegen den Terror und den Drogen- und Waffenschmuggel im Sahel. Rüstungs- und Ausrüstungslieferungen an Algerien sowie andere Formen der sicherheitspolitischen Kooperation stehen daher nicht ausschließlich im Kontext der EU-Grenzauslagerungspolitik, sondern finden statt vor dem Hintergrund teils hochkomplexer geopolitischer Hegemonialkämpfe um politischen Einfluss und Ressourcensicherung in Nordafrika und im Sahel.
Die bilaterale Kooperation zwischen der EU und Algerien wurde in der Vergangenheit vor allem unter dem Dach der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP, ENI) – dem Schlüsselinstrument für die Finanzierung bilateraler Kooperationsprojekte mit Algerien – und dem 2005 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Algerien geregelt. Der Kampf gegen irreguläre Migration ist expliziter Teil der ENP und des Assoziierungsabkommens. Seit 2016 profitiert Algerien auch von Mitteln des 2015 eingerichteten EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika (EUTF). Zwar werden unter dem EUTF keine ausschließlich auf Algerien ausgerichteten Projekte umgesetzt, doch Algerien nimmt an fünf aus dem EUTF finanzierten Regionalvorhaben teil, unter anderem einem Projekt zum Schutz und der Reintegration von Migrant*innen sowie einem vom United Nations Office for Drugs and Crime (UNODC) umgesetzten Programm zum Kampf gegen kriminelle Netzwerke, die in Menschenschmuggel und -handel involviert sind.[2] Dieses Programm will mittels eines Kapazitätsaufbaus zugunsten lokaler Behörden die irreguläre Migration nach Europa verhindern und gegen Schleuser*innen vorgehen. Das UNODC führt in Algerien und Tunesien zudem ein Projekt zur Stärkung von Analysekapazitäten der Kriminalpolizei durch.
Algerische Regierungsvertreter*innen nehmen derweil regelmäßig an Treffen der Kontaktgruppe Zentrales Mittelmeer teil und unterzeichneten auch die Abschlusserklärung des Treffens in Bern im November 2017. Darin erklärten sich die beteiligten Regierungen bereit, Maßnahmen zum Schutz von Asylbewerber*innen und Migrant*innen umzusetzen, die Kooperation in Sachen freiwilliger Rückkehr auszubauen und den Kampf gegen Menschenschmuggel zu intensivieren. 2016 eröffnete die Internationale Organisation für Migration (IOM) ein Büro in Algier. Bisher arbeiten algerischen Behörden nur punktuell mit der IOM zusammen. Die formelle Kooperation Algeriens mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex gestaltet sich weiterhin als schwierig, allerdings findet ein unregelmäßiger und informeller Austausch zwischen algerischen Behörden und Frontex statt.
Kriminalisierung von irregulärer Ausreise und Bedeutung von Menschenschmuggel
Die irreguläre Ausreise aus Algerien ist strafbar. Das ausschließlich für Ausländer*innen geltende und 2008 in Kraft getretene Gesetz 08-11 kriminalisiert die irreguläre Ein- und Ausreise sowie den Aufenthalt ohne gültigen Aufenthaltstitel. Bei Verstößen gegen Aufenthaltsbestimmungen drohen Geldbußen von bis zu 200000 Dinar (rund 1500 Euro), Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren und Einreiseverbote von bis zu zehn Jahren. Das Gesetz ersetzt eine Regelung aus dem Jahr 1962 und erlaubt algerischen Behörden das Konfiszieren aller Utensilien, die während des „illegalen“ Aufenthaltes genutzt wurden und bestraft die Beherbergung irregulär im Land lebender Menschen und andere Hilfsleistungen mit bis zu 20000 Dinar (rund 150 Euro).
Das im Februar 2009 in Kraft getretene und für Algerier*innen und Ausländer*innen gleichermaßen geltende Gesetz 09-01 erklärt irreguläre Ein- und Ausreisen und Grenzüberquerungen außerhalb der regulären Grenzübergänge (zu Land, See oder Luft) zu Straftaten, die mit Gefängnisstrafen von zwei bis sechs Monaten belegt werden. Menschenschmuggel oder Hilfsdienste werden mit bis zu 20 Jahren Haft geahndet. Das Gesetz wird gegen abgefangene algerische Harraga angewandt, jedoch nicht konsequent. Befinden sich ausschließlich Algerier*innen auf einem abgefangenen Boot, drückt die Justiz oft ein Auge zu und spricht meist nur geringfügige Geldstrafen aus. Auch bei wiederholten Festnahmen werden algerische Harraga meist nur zu zweimonatigen Bewährungsstrafen verurteilt. Die algerische Harga wird auch aus innenpolitischen Gründen vom Staat toleriert – im Gegensatz zu Ausreiseversuchen afrikanischer Migrant*innen. Algerische Schmuggler*innen vermeiden es daher, ausländische Migrant*innen zu transportieren, da sie mit deutlich heftigeren Strafen und Anklagen wegen Menschenhandels rechnen müssen.
Im Mittelmeerraum operierende Schleuser*innen kooperieren derweil vereinzelt mit algerischen Sicherheitskräften. Berichte legen nahe, dass sich Beamte bestechen lassen und dafür im Gegenzug Boote passieren lassen. Bei der Verfolgung von Schleuser*innen sind algerische Justizbehörden jedoch grundsätzlich strikter und haben immer wieder empfindliche Haftstrafen gegen Verdächtige ausgesprochen. Die Schleuser*innen operieren vor allem in Oran und Annaba. Allerdings greifen algerische Harraga nur selten auf diese zurück und organisieren sich zum überwiegenden Teil selbst. Meist schließen sie sich in Kleingruppen von bis zu 30 Personen zusammen, teilen sich den Kauf von Booten und Motoren und stechen selbstorganisiert in See. Werden sie abgefangen, versuchen Polizei und Justiz diejenigen in der Gruppe zu identifizieren, die das Boot gelenkt haben, und initiieren mitunter Prozesse gegen Einzelpersonen.
Rüstungs- und Ausrüstungskooperation und Sicherheitspolitik im Sahel
Algerien initiierte 2005 ein großangelegtes Modernisierungsprogramm für seinen Militärapparat und setzt dabei nicht nur auf den Kauf von Rüstungs- und Ausrüstungsgütern, sondern auch auf den Aufbau lokaler Produktionsstätten im Land. Der Anteil der Militärausgaben am algerischen Bruttoinlandprodukt steigt seither stetig (Höchstwert 2020 mit 6,7 Prozent) und macht teilweise weit über zehn Prozent der Staatsausgaben aus. Ging es der Regierung dabei zunächst darum, die südlichen Provinzen und die Südgrenzen gegen aus dem Sahel einsickernde bewaffnete Gruppen abzusichern, finden Aufrüstung und Modernisierung des Militär- und Polizeiapparates sowie die Errichtung von Befestigungsanlagen an Algeriens Landgrenzen heute auch im Kontext der Kriege in Libyen und Mali und der Auslagerung der europäischen Außengrenzen statt.
Vor allem seit 2011 hat Algerien seine Bemühungen intensiviert, die Durchlässigkeit seiner Grenzen zu vermindern und – ganz im Sinne der EU – Maßnahmen zur Grenzabriegelung voranzutreiben. Auf die 2012 initiierte Errichtung eines 50 Kilometer langen Grenzüberwachungssystems an der Grenze zu Mali und der Verlegung militärischer Sondereinsatzkommandos in mehrere Grenzprovinzen folgte der Aufbau von mit elektronischen Überwachungssystemen ausgestatteten Sandbarrieren an den Grenzen zu Tunesien und Libyen, die sich auf über 350 Kilometer Länge erstrecken sollen. Die algerisch-marokkanische Grenze ist heute mit einem 500 Kilometer langen Zaun, einem teils mit Wasser gefüllten Graben und Dutzenden Grenzposten praktisch abgeriegelt. Zudem intensivierte Algerien hinsichtlich der Grenzkontrollen seine Kooperation mit Mauretanien und Tunesien und kündigte 2018 an, Elitetruppen in Mali und Niger ausbilden zu wollen. An der Grenze zwischen den Küstenprovinzen Oran und Ain Temouchent – der wichtigsten Abfahrtsregion für irreguläre Migrant*innen in Algerien – wird derweil eine neue Basis der Küstenwache errichtet.
Zeitgleich rüstet Algerien seit 2005 in beispielloser Manier seinen Militär- und Polizeiapparat auf. Vereinzelt erwarb die Regierung Rüstungsgüter wie Minenräumschiffe, Artilleriegeschütze oder Ausrüstung in China, Südkorea, Italien oder Frankreich - Russland ist jedoch bis heute Algeriens wichtigster Waffenlieferant. Seit 2014 verbuchten russische Unternehmen Aufträge Algeriens für 42 Kampfhubschrauber, zwölf Sukhoi-Kampfjets, zwei U-Boote und Hunderte Kampfpanzer, von denen 200 in Algerien montiert werden sollen.
Deutschland ist inzwischen nach Russland und China zum drittwichtigsten Lieferanten Algeriens für Rüstungs- und sicherheitspolitisch relevante Ausrüstungsgüter sowie Überwachungstechnologie aufgestiegen. Schon 2008 einigten sich der algerische Staatspräsident Bouteflika und Bundeskanzlerin Merkel auf einen Rüstungsdeal in Höhe von zehn Milliarden Euro. Dieser umfasste die Lieferung von vier Fregatten (ThyssenKrupp Marine Systems, TKMS), die Ausbildung der Besatzungen seitens der Bundeswehr und den Bau einer Schiffswerft, auf der zwei der vier Kriegsschiffe montiert werden sollten. Bisher wurden zwei Fregatten ausgeliefert, zum Bau der Werft gibt es seit Jahren keine Neuigkeiten. Daneben umfasste der Rüstungsdeal die Errichtung lokaler Fertigungsstätten für den von Rheinmetall produzierten Spürpanzer Fuchs und zahlreiche Fahrzeugtypen aus dem Hause Daimler. Die mit der lokalen Produktion beauftragten Firmen sind allesamt Joint Ventures, an denen das algerische Verteidigungsministerium Mehrheiten von 51 Prozent hält. Algerien will mit dem Aufbau lokaler Produktionsstätten einen Technologietransfer vorantreiben und sich damit von Waffen- und Ausrüstungslieferungen aus dem Ausland unabhängiger machen.
Für Algeriens Grenzregime besonders relevant sind dabei die drei Montagefabriken von Daimler, in denen Mercedes-Benz-Kleintransporter (Sprinter), die allradgetriebene G-Klasse sowie militärische LKW (Zetros, Actros, Unimog) montiert werden. In diesen Fabriken hergestellte Fahrzeuge werden von Algeriens Militär, der von der Armee kontrollierten Gendarmerie und verschiedenen Polizeibehörden, in zivilen Versionen aber auch vom Bildungs- und Gesundheitsministerium genutzt. In der Produktionsanlage von Rheinmetall in Aïn Smara in Ostalgerien wird seit 2019 neben dem Fuchs auch der Mehrzweckpanzer Boxer montiert. Während die deutsche Bundesregierung allein 2018 den Export von Fuchs-Teilsätzen nach Algerien im Wert von über einer halben Milliarden Euro genehmigt hat, sollen im August 2019 insgesamt 50 Teilsätze für den Boxer nach Algerien geliefert worden sein. In Sidi Bel-Abbès in Westalgerien produziert ein Joint Venture des algerischen Verteidigungsministeriums und der deutschen Firma Hensoldt (früher Rohde & Schwartz, Carl Zeiss und Cassidian) elektronische Ausrüstung wie Überwachungs- und Aufklärungsradars und optronische Geräte wie Wärmebildkameras.
Algeriens umstrittene Abschiebepolitik
Marokko war das erste Land in der Region, das eng mit der EU in Sachen Grenzauslagerung kooperierte und schon in den frühen 2000ern im Land verhaftete afrikanische Einwanderer*innen und Transitmigrant*innen unter Verletzung der internationalen Flüchtlingsgesetzgebung nach Algerien abschob. Die Behörden setzten dabei immer wieder teils größere Gruppen verhafteter Menschen nahe der algerischen Grenze aus und zwangen sie, zu Fuß die Grenze zu überqueren. Algerien ahmte es den marokkanischen Behörden nach und begann seinerseits, verhaftete afrikanische Migrant*innen im Grenzgebiet auszusetzen und nach Marokko zu schicken. Während beide Länder auf diese Weise ein jahrelang andauerndes Pingpong mit geflüchteten Menschen in Gang setzten, begannen beide Regierungen gleichzeitig mit dem Aufbau von Grenzbefestigungsanlagen an von Migrant*innen häufig genutzten Grenzübergängen, vor allem in der Nähe der Städte Oujda und Maghnia.
Algerische Regierungsvertreter*innen erklärten schon damals, man werde die Folgen der restriktiven EU-Migrationspolitik keineswegs ausbaden und legitimierten damit die eigene Abschiebepraxis. Seit 2014 setzt Algerien diese Abschiebepolitik auch an seinen Südgrenzen um. Damals unterzeichneten Algerien und Niger ein Rückführungsabkommen, dessen genauer Inhalt bis heute nicht bekannt ist. Im Dezember 2014 begannen algerische Behörden damit, nigrische Migrant*innen in mehrere hundert Menschen zählenden Buskonvois an die Grenze zu Niger zu bringen und dort in der Wüste auszusetzen. Bis heute führen Polizei und Gendarmerie Razzien in von Migrant*innen viel frequentierten Stadtvierteln in Algier, Oran und anderen Städten durch (viele informell angestellte Migrant*innen arbeiten im Bausektor, Baustellen sind daher oft ein Primärziel der Behörden bei Razzien), verhaften teils völlig willkürlich Menschen ohne adäquate Kontrollen ihrer Aufenthaltstitel und bringen sie in Sammelstellen wie das Camp Zéralda östlich von Algier, wo sie nur wenige Nächte verbringen. In Buskonvois werden die Menschen anschließend in das 2000 Kilometer südlich gelegene Tamanrasset gebracht, bevor sie nach einer weiteren Nacht in provisorischen Unterkünften (in hygienisch katastrophalen Zuständen) mit Militärlastwagen in die Nähe der Grenze zu Niger gebracht werden. Hier werden sie oft nachts und ohne Wasser oder Proviant in der Wüste ausgesetzt und gezwungen, zu Fuß die Grenze zu Niger zu überqueren.
In den ersten zwei Jahren nach Beginn der Massenabschiebungen wurden mindestens 45 Konvois mit mehr als 19.000 Menschen registriert. Bis Mitte 2017 wurden derlei Konvois durchschnittlich zwei Mal pro Monat durchgeführt. Mit dem Amtsantritt von Ex-Premierminister Ahmed Ouyahia 2017 – einem auf rechtspopulistische Stimmungsmache setzender Hardliner in Migrationsfragen – intensivierte die Regierung ihre Abschiebepraxis in bisher beispielloser Manier. Bei den bis heute wöchentlich stattfindenden Großrazzien wurden nicht mehr nur nigrische Staatsbürger*innen, sondern auch Menschen aus Westafrika und anderen Sahel-Staaten verhaftet und nach Niger abgeschoben – die nigrische Regierung beschwerte sich mehrfach erfolglos darüber. Abschiebungen nach Mali fanden unter Ouyahias Ägide ebenfalls deutlich häufiger statt. Insgesamt sollen bis Anfang 2019 bis zu 55.000 Menschen von algerischen Behörden nach Niger oder Mali abgeschoben worden sein. Trotz der im Februar 2019 ausgebrochenen Hirak-Revolte setzen die Sicherheitsbehörden im Jahresverlauf ihre restriktive Abschiebungspolitik fort und schoben tausende Menschen nach Niger ab. Allein zwischen September und Oktober 2019 sollen mehr als 3200 Menschen in das Nachbarland abgeschoben worden sein. Im Jahr 2021 sollen rund 25,400 Menschen nach Niger abgeschoben worden sein.
Rücknahme algerischer Staatsbürger*innen
In Sachen Rücknahme algerischer, in europäischen Staaten ausreisepflichtiger Staatsbürger*innen kooperiert Algerien zwar formal mit der EU und ihren Mitgliedstaaten, doch in der Praxis sind Rückführungen nach Algerien kompliziert. Algerische Botschaften oder Konsulate schaffen die bürokratischen Voraussetzungen für die Durchführung einer Rückführung oft erst nach langwierigen Prozeduren. Zwischen 1994 und 2007 unterzeichnete Algerien Rückführungsabkommen mit sechs europäischen Staaten (Frankreich 1994, Deutschland 1997, Spanien 2002, Großbritannien und Italien 2006, Schweiz 2007). Mit diesen Abkommen verpflichtet sich das Land, abgeschobene Algerier*innen oder nachweislich über Algerien eingereiste Drittstaatsangehörige zurückzunehmen. Premierminister Ouyahia und Bundeskanzlerin Merkel versicherten im Rahmen ihres letzten Besuches in Algier im September 2018, Rückführungen von ausreisepflichtiger Algerier*innen aus Deutschland hätten zuletzt deutlich problemloser durchgeführt werden können. Wurden 2015 nur 57 Rückführungen von Deutschland nach Algerien registriert, waren es 2017 bereits 504 und in den ersten sechs Monaten 2018 schon 350. Im Jahr 2021 schob Spanien derweil einen oppositionellen algerischen Whistleblower, der zwei Jahre zuvor nach Spanien eingereist war, trotz heftiger Kritik von Menschenrechtsgruppen nach Algerien ab.
Algerien hat zudem zum Jahresbeginn 2015 biometrische Ausweisdokumente eingeführt – eine immer wieder seitens der EU gestellte Forderung, um die Identifikation ausreisepflichtiger Menschen zu vereinfachen. Mittlerweile hat Algerien vollumfänglich auf biometrische Pässe umgestellt.
Welche Rolle spielen (welche) NGOs?
Zwar engagieren sich algerische Menschenrechtsgruppen, NGOs und unabhängige Gewerkschaften mit Kampagnen- und Aufklärungsarbeit gegen Algeriens Abschiebepolitik, den repressiven Umgang des Staates mit afrikanischen Migrant*innen und gegen Europas restriktive Einwanderungs-, Migrations- und Visavergabepolitik, doch angesichts immer populärer werdender rechtspopulistischer Diskurse in der algerischen Öffentlichkeit verhallten Rufe der Zivilgesellschaft für eine andere Politik bisher ergebnislos. Die regierungskritische Zivilgesellschaft (Siehe Abschnitt 8) spielt zwar eine wichtige Rolle, Öffentlichkeit für die Themen Grenzabschottung und Abschieberegime zu schaffen, doch war sie bisher zu schwach, um die Regierung ernstzunehmend unter Druck zu setzen. In Algeriens Presse dominieren regierungsnahe und rassistische Diskurse, während nur wenige oppositionelle Medien die illegale Abschiebepolitik des Regimes kritisieren.
Die Regierung versucht derweil, zivilgesellschaftliche Akteure in ihre restriktive Migrations- und Flüchtlingspolitik einzubinden und damit zum Beispiel bei Abschiebungen den Anschein zu erwecken, diese entsprächen internationalen Standards. Der algerische Ableger des Rotes Halbmonds ist aber bisher die einzige Organisation, die fast ausnahmslos die Konvois nach Tamanrasset begleitet und den algerischen Behörden in mehreren Stellungnahmen bescheinigt hat, sich bei der Behandlung verhafteter und abgeschobener Menschen an internationale Richtlinien gehalten zu haben. Das Büro des IOM in Algier ist bisher nicht systematisch in die Abschiebungen nach Niger und Mali eingebunden, nahm aber beobachtend an einem von Algeriens Behörden organisierten Konvoi von Algier nach Tamanrasset teil und versucht – wie in anderen Ländern auch – Zugang zu internierten Migrant*innen zu bekommen und diese zu einer freiwilligen Rückkehr zu überreden. Eine erste von der IOM organisierte Sammelabschiebung von 166 nigrischen Staatsbürger*innen aus der südalgerischen Stadt Tamanrasset nach Niamey wurde erst im Oktober 2019 durchgeführt. Seither finden in unregelmäßigen Abständen von der IOM organisierte Flüge statt.
Wirtschaftliche Interessen – Wer profitiert?
Die großen Gewinner der EU-Grenzauslagerung in Algerien sind der algerische Sicherheitsapparat und aus dem Ausland beliefernde und lokal im Land produzierende Unternehmen. Innenbehörden, Militär und Verteidigungsministerium profitieren von den nicht enden wollenden Lieferungen neuer Waffen- und Ausrüstungsgüter und modernisieren damit Fuhrparks und Ausrüstung, während algerische Beamt*innen auf internationalen Schulungen und Trainings fortgebildet werden. Der durch den Aufbau einer lokalen Fertigungsindustrie erhoffte Technologietransfer nach Algerien hat bisher wenig konkrete Effekte nach sich gezogen und ist hinter den Erwartungen Algeriens zurückgeblieben. Das Land ist für die Aufrechterhaltung der Produktion in diesen Fabriken auf unbestimmte Zeit auf Zulieferungen aus Deutschland angewiesen – ein Aspekt, den die Bundesregierung als Ausweitung ihres geo- und sicherheitspolitischen Einflusses auf Algerien werten kann (genehmigt die Bundesregierung keine Lieferungen von Teilsätzen für die Fabriken, stehen diese still).
Neben ausländischen Waffen- und Ausrüstungslieferanten profitieren auch die Firmen, die in Gemeinschaftsunternehmen mit dem algerischen Staat lokale Produktionsstätten für Rüstungs- und Ausrüstungsgüter errichtet haben. Dazu zählen deutsche Firmen wie Daimler, Rheinmetall und Hensoldt, aber auch russische und italienische Firmen, deren lokale Fertigungsstätten sich noch im Bau befinden. Derweil gibt es bei einigen der von Algerien in den letzten Jahren abgeschlossenen Waffendeals Hinweise auf Korruption. So vereinbarte Thyssen-Krupp (TKMS) mit Algerien die Lieferung zweier Fregatten vom Typ MEKO A-200 – inklusive Bewaffnung. Doch Berichten zufolge kaufte TKMS die Munition nicht direkt bei den europäischen Herstellern, sondern schaltete für das als undurchsichtig geltende Geschäft einen libanesischen Mittelsmann ein. Seit Bekanntwerden dieser Details steht der Konzern unter Korruptionsverdacht.
Wer verliert?
Zu den Verlierer*innen der algerischen Abschottungs- und Grenzkontrollpolitik zählen zweifellos Migrant*innen und Geflüchtete, die durch die willkürliche Politik der algerischen Behörden immer wieder zu Unrecht und entgegen der internationalen Flüchtlingsgesetzgebung abgeschoben werden. Angesichts der unzureichenden gesetzlichen Regelungen im Land werden sie darüber hinaus in die Prekarität gedrängt. Die rechtspopulistische Stimmungsmache algerischer Regierungsvertreter befeuert zudem rassistisch motivierte Übergriffe auf Migrant*innen. Mit xenophober Stimmungsmache versucht die Staatsführung gezielt, Migrant*innen und einkommensschwache Teile der algerischen Bevölkerung gegeneinander auszuspielen. Algerische Migrant*innen müssen angesichts der europäischen und algerischen Grenzkontrollpolitik vermehrt auf gefährlichere Routen über das Meer ausweichen. Auch die in Grenznähe lebende Bevölkerung, vor allem an der dichter besiedelten marokkanisch-algerischen Grenze, zählt zu den Verlierern dieser Politik, werden durch die Grenzabschottung Familien auseinander gerissen und Menschen ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubt.
Welchen Widerstand gibt es?
Mehrere algerische zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs, Jugendorganisationen oder Gewerkschaften machen aktiv mobil gegen die Abschiebungen und die Repressalien staatlicher Stellen gegen in Algerien lebende Migrant*innen. Mit Kampagnen- und Aufklärungsarbeit oder dem Organisieren von Workshops und Konferenzen versuchen sie, Debatten loszutreten und vor allem die algerische Jugend zu sensibilisieren. Selbstverwaltete Initiativen von in Algerien lebenden afrikanischen Migrant*innen existieren zwar in mehreren Städten, werden allerdings aufgrund der restriktiven Bestimmungen der algerischen NGO-Gesetzgebung in die Informalität gedrängt und werden von der lokalen Bevölkerung oft kritisch beäugt.
Die wichtigsten algerischen NGOs, die sich kritisch mit Algeriens Migrations-, Flüchtlings- und Abschiebepolitik beschäftigen, sind der aufgrund seiner aktiven Rolle während des Hirak-Aufstandes inzwischen behördlich verbotene Jugendverband RAJ (Rassemblement actions jeunesse), die Büros der unabhängigen algerischen Menschenrechtsliga (Ligue Algèrienne pour la Défense des Droit de l‘Homme, LADDH) in Algier und Béjaïa, aber auch feministische Gruppen in Oran und unabhängige Gewerkschaften wie der unabhängige Gewerkschaftsverband Confédération Générale Autonome des Travailleurs en Algérie (CGATA), der sich für die Rechte von Arbeitsmigrant*innen und Geflüchteten einsetzt. An der de facto geschlossenen marokkanisch-algerischen Grenze (vor allem nahe Oujda und Maghnia) gibt es derweil seit 2015 immer wieder Protestaktionen und kleine Demonstrationen von Aktivist*innen und in der Region lebenden Menschen, die eine Öffnung der Grenze fordern und sich damit gegen die Grenzabschottungspolitik der marokkanischen und algerischen Regierung stellen.
Materialien und Quellen
- Analyse Deutsch-Ägyptische Sicherheitskooperation und Rolle Algeriens für das EU-Grenzregime im Mittelmeerraum (RLS)
- Auszüge von Antworten auf parlamentarische Anfragen mit Bezug zu EU-Grenzauslagerung
- EU-Algerien Assoziierungsabkommen
- EUTF-Projekte in Algerien
Zuerst veröffentlicht März 2020