Frontex

Veröffentlicht Juli 15th, 2022 - von: Chris Jones, Jane Kilpatrick (Statewatch)

Version Dezember 2020

überarbeitet von Fine Bieler und Marie Hakenberg, Juli 2022

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Einleitung

Brutal. Grausam. Unmenschlich. Dies sind nur einige der Adjektive, mit denen die Migrations- und Grenzkontrollpolitik der EU im Laufe der Jahre beschrieben wurde. Das hat dennoch wenig dazu beigetragen, die Gesetzgebenden davon abzuhalten, neue Formen der Überwachung, Kontrolle und Verweigerung des Zugangs zu europäischem Territorium für Menschen auf der Flucht einzuführen.

Mit der Gründung der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Mai 2005 schafften sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten ein neues Instrument zur Durchsetzung dieser Politik. Siebzehn Jahre später sind Aufgabenbereiche, Befugnisse und das Budget von Frontex mehrfach ausgeweitet worden. In den kommenden Jahren wird Frontex eine immer wichtigere Rolle bei der Bewachung der „Festung Europa“ übernehmen, deren Mauern – sowohl physisch als auch digital – nicht nur entlang der Grenzen Europas verlaufen, sondern auch innerhalb ihres Territoriums und zugleich in Ländern, die Tausende von Kilometern entfernt sind. Frontex ist damit ein zentraler Baustein der europäischen Externalisierungspolitik.

Eine expandierende Agentur

Frontex ist an zahlreichen Aspekten des EU-Migrations- und Grenzkontrollregimes beteiligt, von der Risikoanalyse über die Grenzüberwachung bis hin zu Abschiebungen, und die Aktivitäten sind seit 2005 erheblich gewachsen. Als die Agentur ihre Arbeit aufnahm, hatte sie 43 Mitarbeiter*innen und ein Budget von 6 Millionen Euro. Im Jahr 2020 beschäftigte sie 700 Mitarbeiter*innen[1] und verfügte über ein Budget von 460 Millionen Euro. Das Budget wird beständig ausgeweitet, “[f]ür die Jahre 2021 bis 2027 stehen Frontex insgesamt 11 Milliarden Euro zur Verfügung”. Als EU-Agentur mit dem höchsten Etat kann Frontex seit 2019 direkt Ausrüstung anschaffen. Parallel dazu wurde das Personal drastisch vergrößert. 2022 sind rund 2000 Personen direkt bei Frontex angestellt, davon sind mehr als 900 Teil eines ständigen Grenzschutzkorps. Geplant ist ein weiterer Ausbau: bis 2027 soll die ‘Stehende Reserve’ auf 10.000 Personen aufgestockt werden. Dies erhöht die Autonomie der Agentur deutlich, da sie nicht mehr nur auf die von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellten Beamt*innen angewiesen ist. Frontex ist die am schnellsten wachsende EU-Agentur, und ihre Rolle im EU-Grenzregime wird in den kommenden Jahren noch viel stärker zunehmen, so wie die Grenzen selbst. Kontrolle und Rechenschaftspflicht werden dagegen nicht weiter ausgebaut, zudem werden die existierenden Mechanismen kontinuierlich unterminiert.

Externalisierung: Kontrollmaßnahmen in Nicht-EU-Staaten

Die EU-Mitgliedsstaaten sind seit langem bestrebt, mit sogenannten Drittstaaten zusammenzuarbeiten, um irreguläre oder unerwünschte Einreisen zu verhindern. Frontex ist an einer Reihe dieser Vereinbarungen beteiligt, führt aber auch eigene Aktivitäten durch.

Die Agentur hat mehr als zwei Dutzend Arbeitsvereinbarungen mit Nicht-EU-Staaten, regionalen Gremien und internationalen Organisationen unterzeichnet, die eine Zusammenarbeit bei Schulungen, Informationsaustausch, gemeinsamen Operationen und Unterstützung bei der Implementierung von Grenzkontrollstrategien und -technologien ermöglichen. Sie kooperiert auch mit Staaten, mit denen sie keine formellen Arbeitsvereinbarungen hat – zum Beispiel durch die Africa-Frontex Intelligence Community (AFIC) und das Projekt EU4BorderSecurity in Nordafrika und der Levante.

Der Balkan

Im Balkan manifestiert und zementiert sich die restriktive und brutale Grenzpolitik der EU immer weiter. Die EU hat mittlerweile Statusabkommen mit Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nord-Mazedonien sowie Serbien. 2019 wurden Abkommen unterzeichnet, die es Frontex-Beamt*innen erlauben, in Albanien und Montenegro bei Grenzkontroll- und Überwachungsaufgaben aktiv zu werden; 2021 waren hier rund 150 Frontex-Offizier*innen stationiert. Im Falle Albaniens enthält das Abkommen keine Bestimmungen, die eine Aussetzung der Aktivitäten im Falle von Verletzungen der Grundrechte ermöglichen. Beschwerdeverfahren sind kaum geregelt und entsprechend verunmöglicht.

Außerdem darf das Frontex-Personal Gewalt und Waffen anwenden und erhält Immunität vor ziviler und krimineller Strafverfolgung. 2021 wurde der Einsatz im Westbalkan ausgeweitet; knapp 90 Offizier*innen werden nun in Serbien eingesetzt, auch in Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Nord-Mazedonien ist Frontex nun aktiv in Überwachung und Grenzeinsätzen involviert. Die Aktivitäten sind weitestgehend intransparent, dennoch gibt es bereits zahlreiche Berichte über Menschenrechtsverletzungen.

Den Balkan sieht die EU als eine wichtige Pufferzone in ihren Bemühungen, Einreisen zu verhindern. Informationen werden regelmäßig über das seit langem bestehende Risikoanalyse-Netzwerk von Frontex für den Westbalkan ausgetauscht. Weitere derartige Netzwerke decken die osteuropäischen Grenzen, die Türkei und die an der AFIC beteiligten Staaten ab.

Frontex Liaison Officers

Die Entsendung von „Verbindungsbeamt*innen“ (FLO) ist ein weiteres Instrument der Agentur. Über 500 solcher Beamt*innen werden derzeit von den Behörden in EU-Mitgliedsstaaten sowie außerhalb eingesetzt, um Informationen und Erkenntnisse über Migrationsbewegungen zu sammeln und Profile von ausreisenden Personen zu erstellen, die als „riskant“ eingestuft werden. Eigene Verbindungsbeamt*innen der Agentur sollen zu dieser Arbeit beitragen, und Frontex scheut sich nicht, ihren Auftrag zu nennen – sie sollen „lokale und regionale Netzwerke von Verbindungsbeamte*innen bei der Verringerung der Migrationsströme in die EU unterstützen“[2]. Die Gesetzgebung von 2019 hat die Anforderung gestrichen, dass Verbindungsbeamt*innen nur in Ländern eingesetzt werden dürfen, in denen „die Praktiken des Grenzmanagements mit den Mindeststandards der Menschenrechte übereinstimmen“. Mittlerweile hat Frontex eigene Beamt*innenin der Türkei (2016), Serbien und Niger (2017), Senegal (2019) sowie in Albanien (2021). Geplant ist außerdem ein Einsatz in der Ukraine sowie Pakistan. Des Weiteren kooperiert Frontex mit Common Security and Defence Policy (CSDP / Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik GSVP) und stellt unter anderem Personal für Operationen zur Verfügung. So wird Frontex-Personal für die CSDP-Einsätze in Libyen (EUBAM) und EU NAVFOR Med Sophia sowie die NATO-Operation in der Ägäis zur Verfügung gestellt. Die genauen Aufgaben und Privilegien des entsendeten Verbindungspersonals sind unklar. Da die CSDP zwar das militärische und polizeiliche Instrument der EU ist, jedoch formell keine EU Institution, gibt es keine verbindlichen Transparenzanforderungen, z.B. in Bezug auf die Operation Sophia.

Datensammlung

Nicht-EU-Staaten werden als Teil des „vorgelagerten Grenzgebiets“ betrachtet, welches alle Gebiete jenseits der EU-Grenzen umfasst, die für die Arbeit von Frontex relevant sind. Informationen über dieses „Vorfeld“ werden von den Mitgliedsstaaten, von Frontex und anderen EU-Agenturen wie der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs und dem Europäischen Satellitenzentrum gesammelt. Dazu nutzen sie Flugzeuge, Drohnen, Schiffe, Satellitenbilder, Wetterberichte, soziale Medien, Einsatzberichte und mehr. In den nächsten Jahren wird der Einsatz von Aufklärungssatelliten weiter ausgeweitet. Die Satelliten des EU-Erdbeobachtungsprogramms dienen offiziell vor allem der Umweltüberwachung, Frontex nutzt sie im Rahmen des 67 Millionen schweren Programms Copernicus für die Grenzüberwachung (vorläufiges Budget von 2022 bis 2028). Die Daten werden durch das europäische Datenrelaissatellitensystem (EDRS) von Airbus übermittelt. Die erhobenen Daten werden in das Europäische Grenzüberwachungssystem (EUROSUR) eingespeist.

Ursprünglich als Mittel zur Rettung von Menschenleben auf See angepriesen, werden die in EUROSUR eingespeisten Daten inzwischen unter anderem zur Risikoanalyse verwendet, sowie als Mittel zur „Bekämpfung von illegaler Einwanderung und grenzüberschreitender Kriminalität“[3]. Die Risikoanalyse ist „Ausgangspunkt für alle Frontex-Aktivitäten“, so die Agentur, „von der strategischen Entscheidungsfindung auf hoher Ebene bis hin zur Planung und Durchführung operativer Maßnahmen“. Die Daten aus EUROSUR werden mit einer Reihe anderer Quellen kombiniert, um Lageberichte zu erstellen, die europäische und nationale Entscheidungsträger*innen beeinflussen sollen. So werden personenbezogene Daten trotz massiven Einwänden der Frontex-Datenschutzbeauftragten Perez mit Europol ausgetauscht. Darunter auch sensible Informationen zu politischen und religiösen Einstellungen sowie zur sexuellen Orientierung (s. 4.5). Auf diese Weise kultiviert die Agentur „politische Unterstützung für noch härtere Grenzen“, sowohl in Nicht-EU-Staaten wie auch an den Grenzen der EU selbst. Zugleich verwehrt sich die Agentur jeglicher Transparenz, da "kriminelle Netzwerke" davon profitieren würden.

Maßnahmen zur Grenzkontrolle

Die Aufgaben, die im Rahmen der Grenzkontrollmaßnahmen von Frontex durchgeführt werden, reichen von der Grenzüberwachung über die Überprüfung von Dokumenten und die Befragung von Personen, die auf irregulärem Wege in das EU-Gebiet gelangt sind, bis hin zu Such- und Rettungsaktionen. Die Aktionen von Frontex an den EU-Außengrenzen haben sich oft als widersprüchlich erwiesen. Der Agentur wird seit langem vorgeworfen, in Pushbacks verwickelt zu sein, bei denen Schutzsuchenden der Zugang zum Hoheitsgebiet eines Staates gewaltsam – und illegal – verweigert wird.[4]

Illegale Pushbacks

Im April 2022 wurde eine gemeinsamen Recherche von Lighthouse Reports, Der Spiegel, SRF Rundschau, Republik und Le Monde veröffentlicht, aus der deutlich wird, dass Frontex mindestens 957 Fällen illegale Pushbacks dokumentierte und in der eigenen Datenbank “Jora” unter “prevention of departure” (Verhinderung der Ausreise”) ablegte. Damit wurde die Behauptung, Frontex wisse nichts von illegalen Pushbacks an den europäischen Außengrenzen, vollends widerlegt. Zwei Tage nach der Veröffentlichung trat Fabrice Leggeri von seinem Posten als Direktor von Frontex zurück. Ein anderer ausschlaggebender Grund für den Rücktritt war vermutlich ein erneuter Bericht des European AntiFraud Office (OLAF), welcher trotz Anfragen nicht veröffentlicht wurde. Ende Juli 2022 wurde der Bericht geleakt und liegt dem Spiegel, sowie Leighthouse Reports und LeMonde vor. Seit dem 13. Oktober 2022 ist er auf der Website von FragDenStaat einsehbar. Der Bericht bestätigt und erweitert die früheren Recherchen. Frontex vertuscht und finanziert illegale Pushbacks und die Verantwortlichkeiten und Verstrickungen reichen weit über Leggeri hinaus.

Es hatte über Jahre zahlreiche Recherchen mit stichhaltigen Beweisen von diversen Medien und NGOs gegeben. Eine Recherche des Spiegels aus dem Jahr 2020 führte zu einer ersten Reaktion von Seiten der EU neben den üblichen Dementis. Es wurde ein Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments eingerichtet. In seinem Abschlussbericht aus dem Juli 2021 kam der Ausschuss unter der Leitung von Tineke Strik zum gleichen Schluss: Frontex war in Menschenrechtsverletzungen verwickelt.

Seit dem Rückzug von Fabrice Leggeri ist Aija Kalnaja die Interimsgeschäftsführerin von Frontex. Sie verspricht mehr Transparenz und Rechenschaft. Bis Ende November 2022 sollen 40 “fundamental rights monitors” eingesetzt werden . Es gibt jedoch kaum eine Garantie dafür, dass die Agentur nicht einfach weitere Methoden zur Verschleierung oder Auslagerung von Menschenrechtsverletzungen entwickelt. Die Organisation Abolish Frontex weist darauf hin, dass Kalnaja die Agentur und ihre Mitarbeitenden zu Opfern stilisiert, wenn sie davon spricht, dass Frontex durch die Kritik “traumatisiert” sei.

Frontex und die sogenannte libysche Küstenwache

Andere Methoden, Menschen an der Einreise in die EU zu hindern, beruhen auf der Auslagerung von physischer Gewalt. Im Jahr 2016 begann Frontex damit, die sogenannte libysche Küstenwache in Zusammenarbeit mit der EU-Militärmission im Mittelmeer gegen Schleuser auszubilden und zu trainieren. Die Tatsache, dass „einige Mitglieder der lokalen libyschen Behörden in Schmuggelaktivitäten verwickelt sind“, hat die EU und ihre Mitgliedsstaaten – insbesondere Italien– nicht davon abgehalten, die „Kompetenzen“ der Küstenwache zu stärken, Menschen, die aus dem vom Krieg zerrütteten Land fliehen wollen, „zurückzuholen“ oder sie von vornherein an der Ausreise zu hindern. Dieser Ansatz folgt ähnlichen Taktiken, wie sie vor den Küsten von Senegal und Mauretanien in der Operation Hera eingesetzt wurden.

Neben der Ausbildung wird auch der Informationsaustausch zur Unterstützung der libyschen Behörden genutzt. Die Überwachung des Mittelmeers durch Flugzeuge, Boote, Drohnen und andere Mittel – Informationen die über EUROSUR verarbeitet werden – ermöglicht es, die libysche Küstenwache über den Standort von Booten in Seenot zu informieren. Kritiker*innen argumentieren, dass diese Form der Unterstützung gegen internationales Recht verstößt; die EU beharrt auf dem Gegenteil. Ein vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängiges Verfahren soll Klarheit schaffen, wird aber erst in einiger Zeit verhandelt werden.

Die Einsätze

Die Vorwürfe der Komplizenschaft bei illegalen Handlungen sind mit dem Ausmaß und der Reichweite der Operationen von Frontex gewachsen. Die erste dieser Operationen war die Operation Hera, die 2006 im Atlantik als Reaktion auf einen starken Anstieg der Zahl von Menschen, die auf dem Seeweg aus Westafrika auf den Kanarischen Inseln ankamen, ins Leben gerufen wurde. Seitdem wurden gemeinsame Operationen, die von der Agentur koordiniert wurden, von Italien, Griechenland, Ungarn und Kroatien durchgeführt. Die Agentur ist auch an den griechischen Landgrenzen zu Albanien und Mazedonien aktiv, aber eine zunehmende Intransparenz macht es schwer, eine umfassende Liste der Einsätze zu erstellen.

In den letzten Jahren mit neuen Befugnissen ausgestattet, wird Frontex eine zunehmend proaktive Rolle bei der Einleitung und Koordinierung von Einsätzen übernehmen. Um die Abhängigkeit von Beamt*innen zu verringern, die von den Mitgliedsstaaten an die Agentur „ausgeliehen“ werden, wurde die Agentur ermächtigt, ein 10.000 Personen starkes ständiges Grenzschutzkorps bis 2027 aufzustellen. Die Beamt*innen des Korps werden in verschiedenen Teams eingesetzt, um die nationalen Behörden beim Grenzmanagement, bei Abschiebungen und beim Migrationsmanagement zu unterstützen. Zudem werden sie mit Handfeuerwaffen ausgestattet, wobei dies bis heute juristisch nicht erlaubt ist.

In den meisten Fällen werden die Einsätze auf Anfrage eines Mitgliedstaats gestartet, aber Frontex kann den Mitgliedstaaten auf der Grundlage seiner Risikoanalysen nun auch Einsätze vorschlagen. Lehnen die nationalen Behörden das Angebot ab, müssen sie dies begründen; wenn „dringende Maßnahmen“ allerdings für notwendig erachtet werden, kann der Rat der EU einen Beschluss fassen, der einen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, einen Einsatz der Agentur zu akzeptieren.[5]

Rolle in den “Hotspots”

Im Zuge der 2015 beschworenen, sogenannten „Migrationskrise“ wurde Frontex eine Schlüsselrolle in dem berüchtigten „Hotspot-Ansatz“ in Griechenland und Italien zugesprochen, um bei der Überprüfung, Registrierung und Identifizierung von Menschen, die auf EU-Territorium ankommen, zu helfen. Durch den Aufbau des Reserve-Korps erhält Frontex eine größere Rolle in bestehenden und zukünftigen Hotspots.

Im September 2020 schlug die Europäische Kommission einen neuen „Pakt zu Migration und Asyl“ vor. Zu den Vorschlägen gehören neue Regeln für das „Screening“ von Personen, die irregulär in der EU ankommen, was Identitäts-, Sicherheits- und Gesundheitskontrollen beinhaltet. Nach diesen Regeln wird der Ort, an dem das Screening stattfindet, nicht als EU-Territorium betrachtet, was ernste Fragen über die Verfügbarkeit von rechtlichen Garantien und Schutzmaßnahmen aufwirft. Galina Cornelisse und Marcelle Reneman zeigen, dass die im Pakt vorgesehenen Grenzprozeduren einige der selbst gesetzten Prinzipien und Ziele sowie internationale Vereinbarungen ignoriert und verletzt. Aktuelle Probleme in den Grenzgebieten, wie die Inhaftierung von Migrant*innen, werden außerdem damit weiter verschlimmert. Die Beteiligung von Frontex dürfte angesichts der kontroversen Vorgehensweise bei Befragungen von Personen (die jetzt Gegenstand einer Beschwerde beim Europäischen Ombudsmann ist, mit der Begründung, dass sie gegen das Gesetz verstößt) und der mangelnden Transparenz bei den operativen Plänen sowie den Anweisungen, die den Beamt*innen erteilt werden, für weitere Bedenken sorgen.

Datensammlung an der EU-Außengrenze

Die Recherche des Balkan Investigative Reporting Network (BIRN), sowie weiteren Zeitungen und Reportern, zeigt, dass die Datenerfassung trotz Datenschutzverletzungen weiter ausgebaut wurde. 2021 kündigte Leggeri die Ausweitung des Programms zur Massenüberwachung an. Erfasst werden unter anderem genetische und biometrische Daten sowie Informationen zu religiösen und politischen Einstellungen und sexueller Orientierung. Dafür werden auch Social Media Profile ausgewertet. Die Daten werden mit Europol und Sicherheitsinstitutionen von Mitgliedstaaten geteilt und analysiert. Zwischen 2016 und 2021 erhielt Europol die Daten von 11.254 Personen. Legitimiert wird dies mit dem “Kampf gegen den Terror” sowie gegen “illegale” Migration. Durch den deutlichen Ausbau der Überwachung deutlich, werden Migrant*innen und Geflüchtete noch stärker kriminalisiert und diskriminiert. Das Recht auf Asyl wird weiter angegriffen, zudem ist der systematische Datenaustausch zwischen Frontex und Europol laut der europäischen Datenschutzbehörde EDPS nicht zulässig. Jedoch kontrollierte und unterminierte der langjährige Leiter der Frontex-Rechtsabteilung Hervé Caniard interne Prüfungen des Überwachungsprogramms. Die Bedenken und Stellungnahmen der Frontex-Datenschutzbeauftragten Nayra Perez wurden gezielt ignoriert.

Nicht nur Menschen, die auf irregulärem Weg in die EU kommen, sind mit strengeren Kontrollmaßnahmen konfrontiert. Auch reguläre Reisende werden strengeren Kontrollen unterzogen, und Frontex wird einen wichtigen Teil dieses Prozesses verwalten. Ab 2023 wird das Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) für die Vorabprüfung von Reisenden genutzt, die kein Visum für die Einreise in den Schengen-Raum benötigen; Einzelpersonen müssen einen Online-Fragebogen ausfüllen, nachdem ihnen die Erlaubnis zur Reise entweder erteilt oder verweigert wird. Diejenigen, die mit dem Bus oder dem Flugzeug reisen, werden von der Transportgesellschaft auf ihre Berechtigung überprüft und ihnen kann das Recht verweigert werden, an Bord zu gehen, geschweige denn in die EU einzureisen. Frontex wird für die Verwaltung der zentralen Datenbank verantwortlich sein und einige der „Risikoindikatoren“ definieren, die für die automatische Erstellung von Profilen von Reisenden verwendet werden. Frontex und Europol arbeiten an einem wachsenden Überwachungsapparat. Ihre gemeinsame „Future Group" hat "automatische Ziel- oder Screening-Systeme für das Risikomanagement von Reisenden mit Vorabinformationen" vorgeschlagen, die "Gesetzesänderungen und höchstwahrscheinlich den Einsatz von KI" erfordern würden.

Ausrüstung – Frontex und die Rüstungsindustrie

Die Agentur kauft und least nun selbst Ausrüstung, was ihre Abhängigkeit von den Mitgliedsstaaten verringert und ein Grund für das aufgeblähte Budget von Frontex ist. Der erste Punkt auf der Einkaufsliste war eine Reihe von Autos, wie in einem Werbevideo gezeigt wird. „Das ist erst der Anfang“, sagt Fabrice Leggeri, der damalige Direktor der Agentur. „Wir werden Transporter haben, die als mobile Büros für die Registrierung von irregulären Migranten eingesetzt werden“, so Leggeri weiter. „Und wissen Sie, was als nächstes kommt? Wir werden Schiffe, Flugzeuge, Drohnen und viele andere Arten von technischer Ausrüstung haben, die an den Außengrenzen eingesetzt werden.“

Frontex setzt immer stärker auf Luftüberwachung mit Flugzeugen und Drohnen; hierdurch wird vermieden, Schiffen in Seenot assistieren zu müssen und die Abwehr von Geflüchteten kann gezielter durchgeführt werden. Offiziell dient dies dem „Schutz des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Was der damalige Direktor in dem Video außerdem nicht erwähnt, sind einige der weniger hochtechnischen Anschaffungen, die Frontex tätigt – eine Reihe von Verträgen wurde kürzlich für Tränengas, Schlagstöcke und kugelsichere Westen unterzeichnet.

Der Recherchebericht von Myriam Douo, Luisa Izuzquiza und Margarida Silva belegt, dass Frontex enge und intransparente Beziehungen zur Rüstungsindustrie unterhält. Dies zeigt sich auch in den Anschaffungen der Agentur; immer mehr Equipment wird angeschafft, um so auch rechtliche Verantwortlichkeiten zu umgehen sowie um das expandierende Mandat der Institution zu erfüllen. Entsprechend wird besonders auf Überwachungs- und digitale Technologien gesetzt, was unter anderem pull-backs und die Strafverfolgung von Asylsuchenden ermöglicht. Neben dem Ankauf von Satellitendaten, setzt Frontex eigene Drohnen und Flugsysteme ein. Auf der Anschaffungsliste für 2023 stehen neben Überwachungstechnologie unter anderem letale und nicht letale Waffen und Munition (Details sind nicht transparent), Kommunikationsausstattung, Vehikel für Luft, Land und See, und einiges mehr. Bereits im Februar 2021 wurden Waffen als “technische Ausrüstung” klassifiziert, um die fehlende Rechtsgrundlage zu umgehen. Hinzu kommt Ausrüstung, die von Mitgliedstaaten angeschafft und durch den Internal Security Fund (ISF) und den Integrated Border Management Fund (IBMF) kofinanziert wurde. Grundsätzlich verstärkt Frontex das eigene Waffenarsenal stetig weiter und will nur im Notfall auf die Ausrüstung von Mitgliedstaaten zurückgreifen . Doch “bis heute gibt es keine rechtliche Regelung, die Beamt*innen einer EU-Agentur das Tragen von Schusswaffen erlaubt”.

Innerhalb des Schengen-Raums

Während Frontex sich auf die Gewalt an den Außengrenzen vorbereitet, verschafft sich die Agentur zugleich neue Befugnisse bezüglich der Maßnahmen innerhalb des Schengen-Raums. Die Rolle der Agentur war zunächst strikt auf Aktivitäten an den Außengrenzen und mit bzw. in Nicht-EU-Staaten beschränkt. In den letzten Jahren hat der Gesetzgeber den Aufgabenbereich auf bestimmte Aktivitäten auch innerhalb des Schengen-Raums ausgeweitet. Frontex war in diesem Bereich auch vorher schon aktiv – seit mindestens 2014 ist die Agentur an der Analyse von internen Migrationsbewegungen beteiligt.

Analyse von Migrationsbewegungen

Die Regeln, auf die sich die EU-Gesetzgebenden 2019 geeinigt haben, besagen, dass die Agentur EUROSUR mit Daten füttern soll, die in den Hotspots und über „unerlaubte Sekundärbewegungen“ gesammelt werden. Im politischen Jargon der EU bezieht sich „Sekundärbewegungen“ auf Reisen, die ohne Erlaubnis unternommen werden, insbesondere von Antragsteller*innen auf internen Schutz, die in einem EU-Mitgliedstaat registriert sind, aber in einen anderen ziehen. Sie sind seit langem ein Problem für die Behörden, die eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen vorgeschlagen haben, wie mit ihnen umzugehen sei.

Eine Maßnahme ist das Hinzufügen neuer Datensätze zu EUROSUR. Ziel ist es, Frontex bei der Überwachung der Migration „in die und innerhalb der Union zum Zweck der Risikoanalyse und des Situationsbewusstseins“ zu unterstützen. Dies wiederum soll als Grundlage für operative Maßnahmen der nationalen Behörden dienen, zum Beispiel durch Identitätskontrollen an den Binnengrenzen oder an anderen Stellen innerhalb des Territoriums, was das Risiko des Racial Profilings gegenüber EU-Bürger*innen und Nicht-EU-Bürger*innen gleichermaßen erhöht. Die Daten können auch dazu beitragen, dass die Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen immer weiter ausgedehnt werden. Einige dieser Kontrollen waren bereits vor den Notfallbestimmungen, die zur Eindämmung der Coronapandemie eingeführt wurden, weit länger in Kraft, als es die Obergrenze von zwei Jahren dem Gesetz nach zulässt.

Abschiebungen

Die Rolle von Frontex bei der Organisation von Abschiebungen – von Politiker*innen und Beamt*innen euphemistisch als „Rückführungen“ bezeichnet – im Auftrag von EU-Staaten, hat seit 2005 erheblich zugenommen. Die Vorschläge für die Verordnung von 2019 beinhalteten sogar die Befugnis, Rückführungen von einem Nicht-EU-Staat in einen anderen zu koordinieren – zum Beispiel von Serbien nach Afghanistan. Die Streichung dieser Befugnis aus dem endgültigen Text enttäuschte Staaten wie Ungarn und Polen, die in der Regel sehr an gemeinsamen EU-Maßnahmen interessiert sind, wenn diese gegen Migrant*innen gerichtet sind.

Im Jahr 2006 war Frontex an der Abschiebung von acht Personen aus der EU beteiligt. Fast eineinhalb Jahrzehnte später spielt sie eine Rolle bei der Zwangsabschiebung von Tausenden von Menschen jährlich und übernimmt eine zunehmend zentrale Rolle bei der Organisation, Koordination und Überwachung von Abschiebeaktionen. Zu den jüngsten Erweiterungen ihrer Befugnisse gehört es, die Informationen zu sammeln, die ein Staat für die Ausstellung von Rückführungsentscheidungen verwendet, bei der Identifizierung von Personen zu helfen, die diesen Entscheidungen unterliegen, und mit dem Zielstaat in Verbindung zu treten, um Reisedokumente zu beschaffen. Das übergeordnete Ziel ist es, ein „integriertes System des Rückführungsmanagements“ zu entwickeln,[6] unter anderem durch die Schließung dessen, was die Agentur als „Lücke zwischen Asyl- und Rückführungsverfahren“[7] bezeichnet – womit gemeint ist, dass die meisten Asylsuchenden abgelehnt, aber dann nicht schnell genug abgeschoben werden.

Ein Ziel der Agentur ist die Abschiebung von jährlich 50.000 Menschen, sowohl mit Charter- als auch mit Linienflügen. In der ersten Jahreshälfte 2021 wurden monatlich durchschnittlich 1373 Personen – grösstenteils aus Deutschland (56%) – mit Unterstützung von Frontex abgeschoben. Im Laufe des Jahres 2020 hat Frontex zudem seine Tätigkeiten bei der Koordinierung sogenannter „freiwilliger Rückführungen“ verstärkt und damit seine Rolle in der Abschiebemaschinerie der EU weiter ausgebaut. In diesem Bereich spielt die Internationale Organisation für Migration (IOM) eine wichtige Rolle, ihr Verhältnis zu den Frontex-Plänen ist noch nicht klar. Jedoch sind diese Pläne bezeichnend für die Absicht, Frontex eine größere Rolle in jedem Teil des Abschiebeprozesses zu geben, auch in der Zeit nach der Abschiebung. Die Fähigkeit, Abgeschobenen in allen Phasen der Abschiebung Unterstützung zu bieten, ist in der Verordnung von 2019 vorgesehen, obwohl dies nicht die erste Priorität der Agentur war. Ein Aktionsplan zur Unterstützung nach der Abschiebung wurde für Herbst 2020 erwartet,[8] ist aber noch nicht zustande gekommen.

Mechanismen der Rechenschaftspflicht

Seit der Gründung von Frontex wurden Bedenken geäußert hinsichtlich der begrenzten Möglichkeiten, die Einzelpersonen oder Organisationen zur Verfügung stehen, um die Agentur für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen. Wiederholte Vorwürfe, in Menschenrechtsverletzungen verwickelt zu sein, und ein Mangel an Transparenz haben zu Veränderungen geführt: eine wachsende Anzahl von Menschenrechtsbestimmungen in der Rechtsgrundlage der Agentur, die Einführung eines individuellen Beschwerdemechanismus und die Einrichtung von Überwachungsgremien wie dem Beratenden Forum für Grundrechte und dem Frontex-Grundrechtebüro.

Schutzmaßnahmen auf dem Papier sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie in der Praxis auch durchgesetzt werden. Sowohl die Arbeit des Beratenden Forums als auch des Grundrechtebüros werden immer wieder durch einen Mangel an Ressourcen und eine unkooperative Haltung der Agentur behindert. Der Beschwerdemechanismus wurde seit seiner Einführung verbessert, kann aber immer noch nicht als wirklich unabhängig angesehen werden – die Direktorin der Agentur und die Mitgliedsstaaten behalten die Schlüsselgewalt über die Bearbeitung von Beschwerden. 

Lange Zeit schien es außerdem so, als ob Frontex vor rechtlichen Anfechtungen durch Einzelpersonen, die von den Einsätzen der Agentur betroffen sind, geschützt wäre. In den letzten Jahren hat sich das jedoch begonnen zu verändern. Die Organisation Front-Lex klagt derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Agentur, weil sie versäumt hat, ihre Aktivitäten in Griechenland einzustellen, und weil eine gemeinsame Operation in Griechenland zum Pushback eines syrischen Flüchtlings geführt hat. Frontex wurde erfolglos von Transparenz-Aktivist*innen verklagt, weil sich die Agentur weigerte, Dokumente über ihre Operationen im Mittelmeer freizugeben.

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Fazit

Seit Jahren wird Frontex wegen Menschenrechtsverletzungen von investigativen Medien, NGOs und sogar der EU selbst kritisiert. Trotzdem findet eine beständige Ausweitung der Befugnisse sowie der finanziellen und humanen Ressourcen statt, ohne dabei auch einen Aufbau von Kontrollinstanzen oder Transparenzmechanismen zu gewährleisten.

Eine beschädigte Reputation hat in der Vergangenheit wenig dazu beigetragen, die Expansion der Agentur zu stoppen. Mit einem umfangreichen gesetzlichen Mandat und einer signifikanten Budgeterhöhung ist die EU-Grenzagentur in vielerlei Hinsicht in einer stärkeren Position als je zuvor. Bei der Umsetzung dieses Mandats werden neue Formen der Prüfung, Kritik und Anfechtung erforderlich sein, um sicherzustellen, dass die Grenz- und Migrationspolitik der EU und die mit ihrer Umsetzung beauftragte Agentur die Menschenrechte wahren.

Version Dezember 2020

Footnotes

  1. Laut https://frontex.europa.eu/faq/key-facts/ beschäftigt Frontex ab dem 15. Dezember 2020 direkt 700 Mitarbeiter. Gemäß der Verordnung 1896/2019 werden 1.000 neue Mitarbeiter der „Kategorie 1“ in das ständige Korps eingestellt, und weitere 400 werden als „Kategorie 2“ langfristig von den Mitgliedstaaten in das ständige Korps abgeordnet (insgesamt: 2.100): https://www.statewatch.org/analyses/2020/frontex-launches-game-changing-recruitment-drive-for-standing-corps-of-border-guards/.

  2. Single Programming Document 2016-19, S. 37.

  3. Regulation 2019/ preamble paragraph 28.

  4. siehe z.B.:

    https://aegean.forensic-architecture.org/

    https://www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/Letter-of-concern-from-BVMN-regarding-allegations-of-Frontex-personnel-involved-in-pushbacks1.pdf

    https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2022-001639_EN.html

    https://www.euronews.com/2022/04/28/investigation-claims-frontex-involved-in-aegean-sea-migrant-pushbacks.

  5. REGULATION 1896/2019, Article 37-42 and ‘Situations requiring urgent action – right to intervene?’, https://eulawanalysis.blogspot.com/2016/10/establishing-european-border-and-coast.html.

  6. In der Verordnung von 2016 wird dieser Satz einmal erwähnt, im Text von 2019 erscheint er viermal.

  7. ‘Frontex Programming Document 2020-2022’, enthalten im Council document 5117/20, 9 January 2020.

  8. ‘’Roadmap‘ for implementing new Frontex Regulation: full steam ahead’, Statewatch News, 25 November 2019, http://www.statewatch.org/news/2019/nov/eu-frontex-roadmap.htm.

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