IOM (Internationale Organisation für Migration)

Veröffentlicht Juli 31st, 2021 - von: Inken Bartels

Basisdaten und kurze Charakterisierung

Die Internationale Organisation für Migration, kurz IOM, ist eine Internationale Organisation mit einer spannungsreichen Geschichte der globalen Expansion und wachsendem Einfluss auf die Gestaltung und Umsetzung internationaler Migrationspolitik. Die IOM wurde 1951 von den USA und westeuropäischen Staaten gegründet, um diese logistisch bei der Umsiedlung von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstützen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts weitetet die IOM ihre Aktivitäten geographisch und inhaltlich aus. Mittlerweile ist ihre Mitgliedschaft mit 173 Mitgliedstaaten von globaler Reichweite. Die in Genf ansässige IOM ist nicht nur maßgeblich an der Entwicklung und Verbreitung des Konzepts des Migrationsmanagements beteiligt, sie ist auch weltweit mit dessen Umsetzung betreut. Projekte werden zum Großteil im Globalen Süden durchgeführt, aber von Staaten aus dem Globalen Norden finanziert. Nach jahrzehntelanger selbstgewählter Unabhängigkeit ist die IOM 2016 als „verwandte Organisation“ den Vereinten Nationen beigetreten.

Ökonomie und Regierung

Die IOM wurde 1951 als „Provisorisches Intergouvernementales Komitee für Migrationsbewegungen aus Europa“ (Provisional Intergovernmental Committee for the Movement of Migrants from Europe, PICMME) von den USA und den westlichen Alliierten gegründet. Die Organisation sollte deren geostrategische Interessen verfolgen und damit ein Gegengewicht zum UNHCR bilden, dessen humanitäre Arbeit den westlichen Staaten während des Kalten Krieges als zu neutral galt (siehe Georgi 2019). Aufgabe des PICMME war es zunächst, seine Mitgliedstaaten bei Logistik und Transport von Vertriebenen in Europa nach dem 2. Weltkrieg zu unterstützen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte veränderte die Organisation immer wieder ihre Aufgabenbereiche und weitete ihre Projekte auch geographisch aus. Sie wurde viermal umbenannt, bis sie 1989 zur Internationalen Organisation für Migration wurde, einer dauerhaften Institution mit globalem Aufgabengebiet außerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Als eigenständige Internationale Organisation war sie damit lediglich ihren 173 Mitgliedsstaaten (Stand Juli 2021) gegenüber verantwortlich. Auch nachdem die IOM 2016 den Vereinten Nationen als eine „verwandte Organisation“ beigetreten ist, ist ihre Arbeit nicht an ein internationales legales oder normatives Regelwerk gebunden (wie beispielsweise die Arbeit des UNHCR an die Genfer Konvention gebunden ist). Die IOM hat somit kein formales internationales Schutzmandat und ihre Verfassung bezieht sich nicht auf die fundamentalen Rechte von Migrant*innen (siehe Pécoud 2018). Trotz alledem wurde die IOM von ihren Mitgliedern 2017 mit der Ausarbeitung und Umsetzung des „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ (Global Compact on Safe, Orderly and Regular Migration) betraut.

Die Finanzierung der IOM ist dezentral und projektbasiert organisiert. Als Dienstleisterin für Migrationsmanagement finanziert sich die Organisation überwiegend durch projektbezogene Akquirierung von Geldern. Übergeordnete Entscheidungen und politische Leitlinien werden im Hauptsitz in Genf beschlossen. Die IOM betreibt jedoch weltweit nationale Büros, die nicht nur die in Genf getroffenen Entscheidungen umsetzen, sondern auch die Koordination von Projekten auf nationaler und lokaler Ebene übernehmen und dafür die notwendigen Fördermittel akquirieren. Die projektbezogene Finanzierung führt dazu, dass nationalen Büros stetig damit beschäftigt sind, ihre Aktivitäten auszubauen und neue Projekte zu entwickeln, um die nötigen finanziellen Mittel für die Existenz der einzelnen Büros zu sichern. Die Projekte der IOM werden größtenteils von den USA und den Mitgliedstaaten der EU bzw. deren Entwicklungsagenturen in den einzelnen Ländern finanziert. Zunehmend übernimmt die EU im Rahmen großer Förderprogramme auch direkt die Finanzierung.

Im Zuge neoliberaler Politiken und ökonomischer Umstrukturierungen in den 1990er Jahren wuchs die IOM von einer kleinen, exklusiven Organisation mit ausgewählten Mitgliedstaaten aus dem Globalen Norden zur prominentesten weltweit agierenden Migrationsorganisation. Die wachsende Anzahl von Mitgliedstaaten, nationalen Büros, Projekten und über Jahre gestiegenen Fördersummen verdeutlichen die globale Expansion der Organisation in den vergangenen Jahrzehnten. Heute präsentiert sich die IOM als „die Migrationsagentur“ und fungiert als bedeutende Produzentin und wichtige Quelle von Informationen, Daten, Beratung und technischer Unterstützung für ihre Mitgliedstaaten und andere Akteur*innen. Ihr erklärtes Ziel ist es, damit zu einem „geordneten und humanen Migrationsmanagement“ beizutragen. Seit den 1990er Jahren ist die IOM maßgeblich daran beteiligt, dieses Konzept programmatisch zu entwickeln, es diskursiv zu verbreiten und praktisch umzusetzen (siehe Georgi 2019). Sie fungiert dabei nicht nur als Think-Tank für neue Migrationspolitiken, sondern bietet Staaten auch diverse konkrete Dienstleistungen an, diese praktisch umzusetzen. Dabei präsentiert die IOM ihre Projekte als besonders (kosten)günstig, professionell und flexibel. Die IOM verkörpert somit beispielhalt eine neoliberale Politik des internationalen Migrationsmanagements, die der Maxime folgt, eine gut geregelte Migration würde zum Wohlergehen von Staaten und Migrant*innen gleichermaßen beitragen.

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Verschlossen in einem wohlhabenden Viertel zwischen Botschaften befindet sich das Büro der IOM in Marokko. Migrant*innen selbst sieht man hier nur selten. Foto: Inken Bartels

Mit der Jahrtausendwende hat sich die IOM als eine zentrale Akteurin in der internationalen Migrationspolitik etabliert. Seither kooperiert und konkurriert sie zugleich mit anderen Internationalen Organisationen (IOs) wie dem UNHCR, der ILO oder dem ICMPD um globalen Einfluss und internationale Fördergelder. Zudem gewann die IOM auch als Kooperationspartnerin für Migrationsmanagementprojekte in Afrika, Asien und Osteuropa an Bedeutung, insbesondere durch die Umsetzung humanitärer Interventionen im Kontext zunehmender Vertreibung in Folge von Umweltkatastrophen und der Verschärfung klimatischer Verhältnisse. In dieser Rolle ist die IOM häufig auch zuständig für die Verteilung internationaler Fördergelder an lokale NGOs. In vielen Ländern des Globalen Südens koordiniert die IOM migrationsbezogene Aktivitäten von diversen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und schult deren Personal im Umgang mit vulnerablen Migrant*innen, Opfern von Menschhandel oder Rückkehrer*innen. Als internationale Expertin für Migration verbreitet sie objektive Diskurse, globale Standards und praktisches Wissen, welches oft als neutral und objektiv wahrgenommen wird und ermutigt Herkunfts- und Transitstaaten zur Kooperation in Migrations- und Grenzkontrollprojekten. Diese Aktivitäten bieten der IOM die Gelegenheit, (insbesondere schwächere) Staaten im Globalen Süden in ihre Politik und Programmatik des Migrationsmanagements einzubeziehen und dabei formal deren Souveränität zu achten. Auf diesem (Um)Weg bietet sie ihren mächtigen Mitgliedstaaten ein „sanftes“ Instrument, Migrationspolitiken von Staaten des Globalen Südens in ihrem Interesse zu beeinflussen (siehe auch Geiger und Pécoud 2014). Ihr Ziel ist es, dass diese Staaten Migration als ihr eigenes Problem begreifen und Verantwortung für dessen Kontrolle übernehmen.

Migrationsbewegungen

Laut der Website der IOM sind Migrationsbewegungen „in ihrer Vielfalt und Komplexität“ die Hauptzielgruppe ihrer Aktivitäten. Die IOM bietet Migrant*innen „in Not“ ihre Unterstützung insbesondere in Form humanitärer Hilfe an. Zu ihrer Zielgruppe zählt die IOM explizit auch intern Vertriebene (IDPs), Rückkehrer*innen und Opfer von Menschenhandel. Lediglich Flüchtlinge und Asylsuchende als explizite Zielgruppe des UNHCR gelten nicht zu den Adressat*innen ihrer Projekte.

Die IOM hat ihre Zielgruppe stetig ausgebaut und den politischen Umständen entsprechend angepasst. So etablierte die IOM Anfang der 2000er Jahre zunächst in Osteuropa „Opfer von Menschenhandel“ (Victims of Trafficking) als eine weitere Kategorie, auf die sie die Entwicklung ihrer Politiken und Projekte stützt. Mit dieser Kategorie steckte sie einen neuen Wirkungs- und Einflussbereich ab, der sich vom Mandat des UNHCR abgrenzt.

In Nordafrika definierte die IOM zudem marginalisierte Jugendliche aus Regionen mit sogenanntem hohem Emigrationsrisiko als eine weitere Zielgruppe ihrer Informationskampagnen, die über die Gefahren „irregulärer“ Migration und Menschenhandel aufklären sollen. In Form von Musikfestivals, Theaterworkshops oder Filmprojekten bietet die IOM Jugendlichen in Regionen, die von starker Emigration geprägt sind, Gelegenheiten, sich mit Migration auseinanderzusetzen und Alternativen kennenzulernen. Ihr Ziel ist es, so potentielle Emigrant*innen über die Gefahren „irregulärer“ Migration aufzuklären, damit diese eine „informierte Entscheidung“ treffen können. Außerdem arbeitet die IOM vermehrt mit Vorbildern in der eigenen Gesellschaft, die ihnen einen alternativen Weg und eine Perspektive „in der Heimat“ aufzeigen sollen. Die Informationskampagnen der IOM beruhen somit auf der Idee, dass mehr Wissen über die Gefahren „irregulärer Migration“ junge Menschen von einer Überfahrt nach Europa abhalten würde. Mit dieser Zielgruppe erweiterte die IOM ihren Wirkungsbereich über Migration im engeren Sinne hinaus und bietet vermehrt soziale und pädagogische Projekte für marginalisierte Gruppen in Herkunftsländern an.

Diese Beispiele zeigen, wie breit und divers die Zielgruppe der IOM ist. Diese Offenheit und Flexibilität hilft der IOM, ihre Projekte kontextuell zu spezifizieren und an die verschiedenen Interessen, die bei der Implementierung eines Projektes berücksichtigt werden müssen, anzupassen. Dabei bildet die jeweils in den Projektrichtlinien mit den Geldgeber*innen festgelegte Zielgruppe die Grundlage für die Auswahl der von einem Projekt begünstigten Personen. Zudem hilft diese Anpassung der Zielgruppen an die Strategien ihrer Geldgeber*innen der IOM, sich gegenüber anderen bürokratischeren Durchführungsorganisationen der UN als flexible Dienstleisterin zu positionieren.

Projekte der EU

Die IOM ist eine wichtige Kooperationspartnerin für die EU und ihre Mitgliedstaaten. Aus deren Perspektive fungiert die IOM als eine vertrauenswürdige Anbieterin von Dienstleistungen, die sich an Vereinbarungen hält und in der Lage ist, stabile Beziehungen zu Staaten aufzubauen und zu unterhalten, in denen die Projekte umgesetzt werden sollen (siehe Korneev 2014). Für die EU ist die Kooperation mit der IOM besonders attraktiv, da die Organisation als scheinbar neutrale, unabhängige Akteurin in Staaten des Globalen Süden auftreten kann. Aus Sicht dieser Staaten wiederum, bietet die IOM die Gelegenheit, an Fördergelder zu kommen, internationale Kooperationen einzugehen oder Standards umzusetzen, ohne direkt mit der EU verhandeln und kooperieren zu müssen. Die IOM ist jedoch mehr als nur ein Forum oder ein Instrument mächtiger Staaten. Sie übt international politischen und diskursiven Einfluss aus, der die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen steigert und beteiligt sich proaktiv an der globalen Verbreitung ihrer Migrations(kontroll)-Projekte.

Die IOM nimmt damit eine zentrale Rolle in der Externalisierung europäischer Migrationskontrolle ein. Auch wenn die Organisation nicht wie beispielsweise Frontex direkt in die Militarisierung der europäischen Außengrenzen involviert ist, spielt sie als Kooperationspartnerin und Ausführungsorgan europäischer Migrations- und Grenzkontrollprojekte eine wichtige Rolle, indem sie Staaten außerhalb Europas dazu ermutigt, ihre globale Mission und konkrete Praxis des Migrationsmanagements zu lernen und perspektivisch selbst umzusetzen (siehe Andrijasevic und Walters 2010). Dieses „softe“ Outsourcing geschieht durch verschiedene Formate des Wissens- und Informationsaustausches, diverse Schulungen von Sicherheitspersonal, Behördenmitarbeiter*innen und NGO-Vertreter*innen etc.

In Nordafrika beispielsweise eröffnete die IOM Ende der 2000er Jahre in den meisten Landeshauptstädten Büros und begann sich einen Namen zu machen – zunächst vor allem durch logistische Unterstützung bei der „freiwilligen Rückführung“ und der Durchführung von Informationskampagnen. Spätestens mit den politischen Umbrüchen 2011 etablierte sie sich jedoch als eine prominente Beratungsinstanz bei der Einführung von neuen nationalen Migrationspolitiken in vielen nordafrikanischen Staaten.

Gestärkt wurde die Arbeit der IOM vor den europäischen Außengrenzen zuletzt durch den auf dem Migrationsgipfel von La Valletta 2015 eingerichteten „Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika“ (EUTF): Gerahmt von einem neuen Diskurs der „Fluchtursachenbekämpfung“ versucht die EU in Afrika mit seiner Hilfe das „Übel unregulierter grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen […] an der Wurzel“ zu packen (Kipp und Koch 2018, S. 18). Ein Drittel der EUTF-Gelder, die ehemals für entwicklungspolitische Zwecke vorgesehen waren, wird an Internationale Organisationen vergeben, allen voran an die großen UN-Organisationen aus dem Feld der Migrations- und Flüchtlingspolitik (siehe Bartels 2018). Auch die IOM erhielt knapp 375 Mio. Euro aus dem EUTF (Stand August 2018).

In Nordafrika geht sogar etwa die Hälfte der für die Region vorgesehenen EUTF Gelder an die IOM. Mit einem Großteil sollen Projekte in Libyen durchgeführt werden, die für die „Verbesserung von internationalem Schutz und humanitärer Hilfe für Menschen auf der Flucht“ sorgen sollen. Konkret sollen damit die lokale Verwaltung der Migration verbessert und Zugänge zu sogenannten Schutzräumen für Migrant*innen geschaffen werden. An diesen Orten sollen Migrant*innen nach humanitären, ökonomischen und sicherheitspolitischen Kriterien in unterschiedliche Gruppen kategorisiert werden, welche über ihren weiteren Zugang zu Rechten, Leistungen und Mobilitätschancen entscheiden.

Nicht erst seit der Skandalisierung sklavenähnlicher Zustände in libyschen Lagern im Dezember 2017 gibt es in Europa Bewegungen, die sich dafür einsetzen, Libyen zum sichere(re)n Terrain für Migrant*innen zu machen. Während politische Debatten zunächst von der Empörung über die menschenunwürdigen Zustände dominiert waren, hielten europäische Regierungen nichtsdestotrotz an ihrer Idee fest, die auf dem Mittelmeer Geretteten nach Libyen zurückzuführen und eines Tages Asylverfahren dorthin auslagern zu können. Dies ist bei weitem keine neue Idee: Seit Anfang der 2000er Jahre taucht die Idee von der Errichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika unter unterschiedlichen Namen wie Transit Processing Centers oder Regional Protection Areas immer wieder in der europäischen Politik auf. Bislang ist dies vor allem an der konsequenten Weigerung nordafrikanischer Staaten, solche Transit-, Schutz- oder Asylzentren auf ihrem Territorium errichten zu lassen, gescheitert. Mit den Geldern des EUTFs wird nun finanzkräftiger und konzentrierter versucht, im Namen des internationalen Schutzes und der humanitären Hilfe solche Orte entlang der Hauptmigrationsrouten zu schaffen. Diese sollen zügig und ohne Einbeziehung afrikanischer Staaten, vorrangig durch bereits in der Region tätige IOs eingerichtet werden. Die IOM war bereits in der Logistik und Verwaltung von Lagern in Tunesien und dem Niger tätig, wobei sie sich stets und besonders durch ihr Beratungsangebot zur „freiwilligen Rückführung“ hervorgetan hat. Inwiefern sich die vermehrte Einrichtung von sogenannten Schutzräumen und die Bereitstellung humanitärer Hilfe durch IOs entlang der Migrationsrouten längerfristig auf die Einschätzung der Transitländer in Nordafrika als sichere Drittstaaten auswirken wird, bleibt zu beobachten. Sicher ist jedoch, dass die IOM mit den knapp 90 Mio. Euro, die sie aus dem EUTF für ihre Projekte in Nordafrika erhält, ihre aktive Präsenz dort sichern, stärken und ausbauen kann (siehe Bartels 2018).

Welche Rolle spielen welche NGOs?

NGOs kooperieren und konkurrieren mit der IOM. Als Internationale Organisation ist die IOM in der Lage, große Summen an Fördergeldern zu absorbieren. Aus der Perspektive der Geberstaaten ist es oftmals bequemer, ein großes Programm der IOM zu finanzieren, als sich die Mühe zu machen, die Gelder auf viele kleinere Projekte zu verteilen, die von NGOs durchgeführt werden. Als Koordinatorin großer Migrationsmanagementprogramme verteilt die IOM Fördergelder an NGOs, die als ihre lokalen Durchführungspartner*innen agieren, weiter.

Insbesondere in der Durchführung humanitärer Projekte konkurriert die IOM jedoch auch direkt mit transnational agierenden NGOs um internationale Fördergelder. Während NGOs dabei jeweils ihre eigene Expertise unter Beweis stellen müssen, ist die IOM bei den Geber*innen häufig durch Kooperationen in anderen Ländern oder Projekten bereits bekannt.

Was sind die wirtschaftlichen Interessen und wer profitiert?

Die praktische Arbeit der IOM steht oft im Gegensatz dazu, wie sie ihr Migrationsmanagement als gleichermaßen gewinnbringend für Herkunfts- und Aufnahmestaaten und Migrant*innen rechtfertigt und anpreist.

An erster Stelle profitieren die Aufnahmestaaten im Globalen Norden, die ihre Ambitionen der globalen Migrationskontrolle an die IOM „auslagern“ können, ohne dabei selbst in die öffentliche Kritik zu geraten. Sie fördern das Migrationsmanagement der IOM, mit dem Ziel „irreguläre“ Migration weltweit unter effektive staatliche Kontrolle zu bringen, und das vorzugsweise ohne zu viele Turbulenzen, Kritik und Tote zu produzieren. In Nordafrika bauen die Projekte der IOM auf Expert*innenwissen und innovative Methoden, die auf der Partizipation der (potentiellen) Migrant*innen basieren, um Kontrolle über unerwünschte Migrationsbewegungen zu erlangen. Sie sollen dazu beitragen, das krisenhafte europäische Grenzregime zu stabilisieren und ihm neue normative Orientierung und Legitimität verschaffen. Langfristig unterstützen die Projekte der IOM so die bestehende internationale Ungleichverteilung von Mobilitätchancen, ohne dafür direkt auf physische Gewalt und/oder offensichtliche Repressionsmittel zurückzugreifen, welche jedoch gleichsam die Bedingung ihrer effektiven Umsetzung sind. Mit pädagogischen Präventionskampagnen und humanitärer Hilfe kompensieren die Projekte der IOM zudem die brutalen Auswirkungen der Migrationskontrolle und normalisieren sichtbarere Formen der Gewalt an den europäischen Außengrenzen (siehe Bartels 2021).

Auch Transit- und Herkunftsstaaten wissen die Projekte der IOM für sich zu nutzen. Diese Staaten bringen ihre eigenen Strategien und Interessen in die Verhandlungsprozesse mit der IOM ein. Sie sind keineswegs nur passive Empfänger von IOM-Dienstleistungen, sondern beteiligen sich aktiv an der Umsetzung der Programme für ihre eigenen Zwecke wie beispielsweise finanzielle Gewinne, internationale Kontakte und Kooperationen oder Expert*innenwissen.

Und schließlich kann auch die IOM ihre eigenen Interessen – zum Beispiel an Selbsterhaltung und Expansion – gegenüber Staaten verfolgen. (Dies ist aber gegenüber Staaten des Globalen Südens leichter zu bewerkstelligen als gegenüber ihren Geldgeber*innen aus dem Globalen Norden.) Durch ihre proaktive Wissensproduktion und -verbreitung ist die IOM beispielsweise in der Lage, in internationalen politischen wie medialen Diskursen eine bestimmte Realität oder ein „Problem“ zu schaffen, das spezifische Maßnahmen erfordert, die durch die Dienstleistungen der IOM bereitgestellt werden können. Da sie weitestgehend als neutrale Expertin anerkannt wird, kann die IOM eine dominante Sichtweise auf Migration und deren „angemessenes Management“ fördern und gleichzeitig die Nachfrage nach ihren eigenen Dienstleistungen schaffen bzw. aufrechterhalten.

Wer verliert und inwiefern?

Verlierer*innen der IOM-Projekte scheinen vor allem die Migrant*innen zu sein, deren Menschenrechte missachtet oder verletzt werden. Im Rahmen humanitärer Projekte und Programmen zur Unterstützung „freiwilliger Rückkehr“ kategorisiert und sortiert die IOM Migrationsbewegungen in Transitländern. Sie filtert Migrant*innen nach flexiblen Kategorien und richtet ihre Mobilitätsmöglichkeiten damit neu aus, bevor sie in ein europäisches Asylverfahren überhaupt eintreten können. Auf diese Weise führt die praktische Arbeit der IOM neue Formen der differenzierten Inklusion ein, die sich nicht nach politischen Rechten richten, sondern nach humanitären Kriterien wie der Vulnerabilität von Migrant*innen. So bietet die IOM in Nordafrika ihre Unterstützung vorrangig Frauen, Minderjährigen, Kranken, Opfern von Menschenhandel und in Not geratenen Migrant*innen an. Die Arbeit der IOM fördert somit einen globalen Trend, den Schutz von Migrant*innen und Flüchtlingen von einer Frage der Rechte in einen Akt der Barmherzigkeit zu verwandeln. Die IOM etabliert und fördert damit neue Hierarchien legitimer Ansprüche auf internationale Mobilität und Schutz und ist für deren materielle Folgen verantwortlich.

Welchen Widerstand gibt es?

Migrant*innen sind keine passiven Objekte ihres Managements, sondern eigenen sich dieses an und/oder wehren sich gegen ihre Vereinnahmung und suggerierte Alternativlosigkeit. Da die Projekte der IOM weitestgehend auf die freiwillige Teilnahme der Migrant*innen angewiesen sind, um effektiv zu sein, bleibt ihre Umsetzung ein besonders fragiler Aushandlungsprozess. Während das Migrationsmanagement der IOM auf einem Glauben an eine kontrollierbare Migration beruht, bleibt die praktische Umsetzung somit unvorhersehbaren Kämpfen unterworfen.

So sammeln und teilen Migrant*innen beispielsweise ihr Wissen über die humanitären Kategorien, die für die Teilnahme am Programm zur Unterstützung der „freiwilligen Rückkehr“ in Frage kommen und versuchen, diese Kategorien zu erfüllen, um von den IOM-Diensten zu profitieren. Andere Migrant*innen lehnen die Teilnahme an dem Programm ab, da es ihnen nicht die von ihnen geforderten Rechte einräumt. Als die Fördergelder ab 2012 gekürzt und die Umsetzung des Programms zur „freiwilligen Rückkehr“ in Marokko unklar waren, demonstrierten Migrant*innen vor dem IOM Büro in Rabat für dessen Fortführung. In Tunesien protestierten Migrant*innen etwa zeitgleich gegen die Alternativlosigkeit des Angebots und stellten dessen freiwilligen Charakter öffentlich in Frage. Der nordafrikanische Kontext zeigt somit, dass die Projekte der IOM seitens der Migrant*innen sowohl Aneignung als auch offenen Widerstand erfahren.

Migrationsstatistik

Die IOM ist eine der führenden Produzent*innen von Migrationsstatistiken. Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Politiker*innen und Aktivist*innen, die sich mit Migration beschäftigen, nutzen routinemäßig das Material der IOM als Datengrundlage und beteiligen sich teilweise an ihren Forschungs- und Politikprogrammen. Insbesondere den Migrationsstatistiken wird dabei eine besondere wissenschaftliche Autorität zugesprochen. Diese Daten sind jedoch weder objektiv noch neutral, sondern Resultat von umkämpften Datenpraktiken, Entscheidungen über Kategorien, Indikatoren und Messeinheiten. Statistiken bilden keine vorbestehende Realität ab, sondern konstruieren und verfestigen sie. In diesem Sinne tragen auch die Migrationsstatistiken der IOM zur eigentlichen Existenz von „Migration“ bei, indem sie das Phänomen sichtbar und zählbar machen. Wie umkämpft die Produktion von Migrationsstatistiken ist, zeigt exemplarisch das Missing Migrants Project der IOM, welches Todesfälle von Migrant*innen zählt und damit zwar eine langjährige aktivistische Forderung, diese sichtbar zu machen, erfüllt, gleichzeitig die Todeszahlen aber entpolitisiert und in den Dienst eines humanitären Migrationsmanagements stellt (siehe Heller & Pécoud 2019).

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Weltsozialforum 2013, Tunis: Aktivist*innen machen auf die toten Migrant*innen im Mittelmeer aufmerksam. Foto: Inken Bartels

Zum Nachschlagen und Weiterlesen

Andrijasevic, Rutvica, and William Walters. 2010. “The International Organization for Migration and the International Government of Borders.” Environment and Planning D: Society and Space 28 (6): 977–999.

Bartels, Inken. 2018. Geld gegen Migration der Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. EPaper. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.

Bartels, Inken. 2021. The International Organization for Migration in North Africa: Making International Migration Management. Routledge.

Geiger, Martin, and Antoine Pécoud. 2014. “International Organisations and the Politics of Migration.” Journal of Ethnic and Migration Studies 40 (6): 865–887.

Georgi, Fabian. 2019. Managing Migration? Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Berlin: Bertz + Fischer.

Heller, Charles, and Antoine Pécoud. 2020. “Counting Migrants’ Deaths at the Border: From Civil Society Counterstatistics to (Inter)Governmental Recuperation.” American Behavioral Scientist 64 (4): 480–500.

Kipp, David, and Koch, Anne. 2018. Auf der Suche nach externen Lösungen. Instrumente, Akteure und Strategien der migrationspolitischen Kooperation Europas mit afrikanischen Staaten. In: Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, Anne Koch, Annette Weber and Isabelle Werenfels (Hg.), 8-22. SWP Studie 3. Berlin: Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit.

Korneev, Oleg. 2014. “Exchanging Knowledge, Enhancing Capacities, Developing Mechanisms: IOM’s Role in the Implementation of the EU–Russia Readmission Agreement.” Journal of Ethnic and Migration Studies 40 (6): 888–904.

Pécoud, Antoine. 2018. “What Do We Know about the International Organization for Migration?” Journal of Ethnic and Migration Studies 44 (10): 1621–1638.

Das Beitragsbild zeigt das "IOM Agadez Transit Centre" in Agadez, Niger. Foto: Christian Jakob

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