Kenia
Veröffentlicht März 3rd, 2020 - von: Simone Schlindwein
Wie Geflüchtete Terrorist*innen werden
Überblick
Kenia unterhielt einmal das größte Flüchtlingslager der Welt. Dann wurden die Flüchtlinge zu Terrorist*innen erklärt und sollten nach Hause gehen.
Kenia gilt in der Region Ostafrika als Gravitations- und Stabilisationspunkt. Das wirtschaftlich im Vergleich weit fortgeschrittene Land an der Küste zum Indischen Ozean, mit einem der meist frequentierten Häfen des Kontinents, ist Anziehungspunkt für Arbeitssuchende aus ganz Afrika, für afrikanische sowie internationale Investorinnen, Händler, Transportunternehmer sowie Touristinnen aus aller Welt. So ist Kenia und dessen Millionenmetropole Nairobi ein Magnet für Flüchtlinge und Arbeitsmigrant*innen vom Horn von Afrika und Ostafrika.
Trotz allem hat Kenia selbst eine jüngere, konfliktreiche Geschichte. Rund um die Wahlen 2008 kam es zu gewaltsamen ethnischen Ausschreitungen, bei welchen über 1.300 Menschen getötet und rund 600.000 landesweit vertrieben wurden. Auch bei den Wahlen 2013 und 2017 kam es zu Gewaltaktionen und Toten. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl wurde in beiden Wahlrunden von der Opposition angefochten. 2017 mussten die Wahlen aufgrund eines Beschlusses des Verfassungsgerichtes wiederholt werden. Beide Male gewann Uhuru Kenyatta, Sohn des einstigen Präsidenten Jomo Kenyatta, gegen seinen Erzrivalen Raila Odinga.
Kenia hat seit 2010 regelmäßig Terroranschläge erlebt. In Erinnerung geblieben ist vor allem die 4-tägige Geiselnahme im berühmten Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi, bei welchem 71 Menschen getötet worden waren. Hinter den Terroranschlägen steckt meist die somalische, islamistische Miliz Al-Shabaab, die weite Teile des Nachbarlandes unter Kontrolle hält. Kenia stellt einen Teil der Soldaten der Friedensmission der Afrikanischen Union (AU) in Somalia (AMISOM) und beherbergt einen Großteil somalischer Flüchtlinge. Als Folge der Terroranschlagswelle zwischen 2010 und 2013 brach der Tourismussektor, der rund zehn Prozent des Bruttosozialproduktes ausmacht, ein was zur wirtschaftlichen Rezension führte.
Obwohl Kenias Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern gut entwickelt ist und der Mittelstand theoretisch stetig größer werden müsste, geht dennoch aufgrund der extremen Korruption und Vetternwirtschaft die Schere zwischen Arm und Reich stark auseinander. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet der Kabira-Slum in Nairobi zum Brandherd der Gewaltausbrüche wird, Nairobi generell als Hub der Klein- und Großkriminalität gilt und sich die Mega-Reichen Kenianer*innen hinter hoch gesicherten Mauern verriegeln.
Flüchtlinge unter Generalverdacht
Es muss ein Ende haben, Flüchtlinge zu beherbergen“, hatte Kenias Regierungssprecher im Mai 2016 verkündet. Ein Vierteljahrhundert war das weltweit größte Flüchtlingslager damals alt. Einst war es von UN-Hilfswerken aus dem kargen Wüstenboden gestanzt worden. Unter dem somalischen Namen „Dadaab“ hatte die Zeltstadt, die bis heute auf keiner Landkarte verzeichnet ist, während des somalischen Bürgerkrieges traurige Berühmtheit erlangt. Fotos von bis auf die Knochen ausgehungerten Kindern im Wüstensand gingen um die Welt.
1992 war das Lager im Nordosten Kenias entlang zur Grenze mit Somalia für rund 30.000 Menschen errichtet worden, die vor dem ausbrechenden Konflikt in ihrer Heimat ins Nachbarland flüchteten. Im Verlauf der Jahrzehnte wuchs Dadaab zum größten Flüchtlingslager der Welt an. Rund 600.000 Menschen hausten dort unter elenden Bedingungen, als 2011 und 2012 in Somalia Krieg, Dürre und Hungersnot wüteten.
Laut UNHCR beherbergt Kenia 2019 rund 476.000 Flüchtlinge, über die Hälfte von ihnen aus Somalia, ein Viertel Südsudanes*innen. Dem Gesetz nach dürfen sich Flüchtlinge nur in Lagern aufhalten, jenseits der Lager benötigen sie eine Sondergenehmigung. 44 Prozent der Flüchtlinge leben in Dadaab, 40 Prozent im Flüchtlingslager Kakuma und 16 Prozent in Städten, meist in Nairobi.
Somalische Flüchtlinge erhielten in Kenia bislang automatisch Asyl, sobald sie in Dadaab vom UNHCR registriert wurden. Diese Regelung wurde auf Anweisung des Innenministers aufgehoben. In Zukunft sollen alle Bewerber*innen individuell geprüft werden. Dafür soll ein Komitee eingerichtet werden, welches die Personalien der Asylbewerber*innen mit Geheimdienstdatenbanken abgleicht, um keinen Terrorist*innen Schutz zu gewähren. Diese Kommission soll dem Innenministerium unterstehen, welchem ebenso der Geheimdienst sowie die Anti-Terror-Einheiten der Polizei unterstellt sind. Gemeinsam sollen diese Abteilungen aus den Asylbewerber*innen Terrorist*innen heraussieben.
Wichtig ist dies auch im Zuge einer möglichen Abschiebung. Da die Regierung die Flüchtlinge bislang nicht registrierte, konnte sie nicht anerkannte Asylbewerber*innen auch nicht abschieben. Selbst wenn UNHCR jemandem den Status verweigerte, gab es keine Instanz, die diese Person des Landes verweisen konnte. Auch dies soll mit dem neuen Gesetz möglich werden.
(Un-)freiwillige Heimkehr
Bereits 2013 hatten sich Kenias und Somalias Regierungen in einem trilateralen Abkommen mit dem UNHCR auf die Schließung der Lager in Kenia verständigt. Darin war die Frist einer freiwilligen Rückkehr auf Ende November 2016 angesetzt gewesen. Somalias und Kenias Regierungen wollten an diesem Datum festhalten und erhöhten dementsprechend den Druck. UNHCR hingegen beharrt auf dem internationalen Prinzip der Freiwilligkeit der Rückkehr und bleibt bei seiner Hochrechnung bis zum Jahr 2032. Die Frist wurde daher von Regierungsseite mehrfach vertagt, zuletzt sprach die Regierung von einer potenziellen Deadline im Jahr 2020.
2019 wurden zwei Bereiche in Dadaab bereits abgebaut und die Flüchtlingsunterkünfte abgerissen. Einst beherbergte das Camp 600.000 Menschen, laut UNHCR-Angaben von August 2019 sind es nur noch rund 212.000, fast alle aus Somalia, die nun systematisch zurück nach Somalia gedrängt werden. Die UN schätzt jedoch, die endgültige, freiwillige Rückkehr aller Flüchtlinge könne erst im Jahr 2032 erfolgen. Doch das geht Kenias Regierung nicht schnell genug. Im Mai 2016 hatte das Innenministerium auf Beschluss des nationalen Sicherheitsrates verkündet, das Lager werde Ende November 2016 dicht gemacht. Es würden dort keine neuen Ankömmlinge mehr registriert. Im Gegenteil: Die Somalier*innen sollen über die rund 100 Kilometer von Dadaab entfernte Grenze in ihre Heimat zurückgebracht werden.
Dazu wurden in Somalia vier Zonen definiert, die für die Rückkehrer*innen als sicher gelten, darunter Somalias Hauptstadt Mogadishu sowie die Hafenstadt Kismayo. 150 Dollar und Lebensmittelrationen für sechs Monate bekommen Rückkehrwillige pro Person als Startpaket vom UNHCR. Drei Viertel der Rückkehrer*innen hatte sich entschieden, nach Kismayo zu gehen, auch wenn die Hälfte davon angab, nicht von dort zu stammen. Doch UNHCR und weitere NGOs haben in Kismayo in ein Vertriebenenlager investiert. Die überwiegende Mehrheit gab in einer UNHCR-Befragung an, sie würde die Region als sicher betrachten und bei der Ankunft von Familienmitgliedern empfangen werden. Die Umfrage ergab, dass die meisten der Rückkehrer*innen arbeitslos oder Studierende waren und sie sich in ihrer Heimat mehr Beschäftigungsmöglichkeiten versprachen. Kenia biete ihnen keine Zukunft. Über 10.000 gaben bei der Befragung als Gründe an, sie befürchten Unsicherheit und Abschiebung.
UNHCR gibt an, dass rund 84.000 Somalier*innen aus Kenia seit 2014 freiwillig zurück in ihre Heimat gegangen sind, weitere 70.000 seien rückkehrwillig. UNHCR versichert, dass das freiwillige Rückkehrprogramm auch im Jahr 2020 weiter vonstattengehen wird. Für 2019 rechnet UNHCR mit rund 10.000 freiwilligen Rückkehrer*innen, jedoch auch mit rund 30.000 Neuankömmlingen, aufgrund von erneuten Kampfhandlungen in Somalia.
Rund 4.500 Somalier*innen wurden im Rahmen des Resettlement-Programms 2019 in westliche Länder ausgeflogen, meist in die USA und nach Kanada oder Schweden. Jüngst berichten US-Medien von sogenannten „Fake“-Flüchtlingen unter ihnen. Die in den USA Ankommenden seien gar keine somalischen Flüchtlinge, sondern Kenianer*innen, die sich über korrupte Wege einen Flüchtlingspass besorgt und sich mit falscher Identität in das Programm hineingeschmuggelt hatten.
Die nicht-somalische Flüchtlinge, die bislang als Minderheit in Dadaab lebten, wurden in ein weiteres Camp in die nordwestliche Region Turkana verlegt. Dort bietet das zweitgrößte Lager, Kakuma, nahe der Grenze zu Südsudan laut dem Stand von August 2019 rund 191.000 Flüchtlingen Schutz, die meisten Südsudanes*innen. Auch Kakuma sollte nach Plänen der Regierung dicht gemacht werden. Doch dann war im Juli 2016 im Südsudan erneut Krieg ausgebrochen, täglich retten sich tausende Südsudanes*innen über die Grenze. Notgedrungen musste Kenia das Lager erhalten. Es wurde in den vergangenen Jahren sogar weiter ausgebaut.
Das Hin und Her um die Dadaab-Lagerschließung hängt im Prinzip an der Frage, wie weit die Lage in Somalia stabil genug ist, die Flüchtlinge den internationalen Konventionen der „Freiwilligkeit“ entsprechend zurückkehren zu lassen. Hassan Sheikh Mohamud besuchte im Juni 2016 als erster somalischer Präsident Dadaab. Er versprach seinen Landsleuten: „Wir wollen nicht, dass ihr gezwungenermaßen zurückkehrt, ohne dass euch Unterkünfte, Bildung und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen“. Wer dafür bezahlen soll, darüber schwieg er sich aus. Indirekt nahmen Kenia und Somalia somit die EU in die Zange: Indem Kenia die Flüchtlinge aus dem Land drängte und Somalias Aufnahmebereitschaft von Finanzhilfe abhing, blieb der EU nichts anderes übrig, diese Lücken zu schließen, um einen Flüchtlingsstrom gen Europa zu vermeiden.
Das Spiel hat funktioniert: Kenias Innenminister, Joseph Nkaissery hieß Somalias Präsident damals in Dadaab willkommen und betonte, Kenia würde bei der Rückführung helfen. Man halte am Datum der Schließung fest. Danach traf Mohamud in Kenias Hauptstadt Nairobi seinen Amtskollegen Uhuru Kenyatta. Der Beginn einer guten Nachbarschaftsbeziehung? Noch nie waren sich die beiden Länder, die seit der Unabhängigkeit zu Beginn der 1960er Jahre auf Kriegsfuß miteinander stehen, so einig wie jetzt in der Flüchtlingsfrage.
Grund dafür sind gemeinsame Interessen gegenüber der Internationalen Gemeinschaft: Geld und Sicherheit. Kenia will die Flüchtlinge wegen der mutmaßlichen Terrorgefahr loswerden und verlangt mehr Geld, um die Lager nicht sofort zu schließen. Somalias Regierung will seine Bevölkerung zurück und hofft, endlich all diejenigen Gelder zu bekommen, die die internationale Gemeinschaft bislang nach Kenia pumpt. Gemeinsam setzen sie die westlichen Geber unter Druck.
Schlachtfeld im Kampf gegen den Terror
In der Anweisung, Dadaab endgültig zu schließen, nannte das Innenministerium die Bedrohung der nationalen Sicherheit sowie Umweltzerstörungen als Gründe. Es ist das mächtigste Ministerium, untersteht direkt der Präsidentschaft und ist damit der verlängerte Arm von Präsident Kenyattas Macht.
Somalias islamistische Terrormiliz Al-Shabaab hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Anschläge innerhalb Kenias verübt. 2013 töteten sie in der Hauptstadt Nairobi 71 Menschen im Luxus-Einkaufszentrum Westgate, wo Kenias Mittelklasse und Ausländer*innen ihre Wochenenden verbringen. 2014 überfielen sie Touristenorte an der Ozeanküste in Lamu. Daraufhin brach der Tourismussektor, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Kenias, ein. 2015 kam es in der östlichen Provinzhauptstadt Garissa, unweit von Dadaab, zu einem Massaker in der Universität, bei dem 148 Studierende getötet wurden. All diese Anschläge können als Vergeltungsaktionen der Shabaab gelesen werden, die sich für den Einmarsch kenianischer Truppen in Somalia rächte.
Die Invasion erfolgte kurz nach der Entführung zweier spanischer Krankenschwestern aus Dadaab 2012, die für Ärzte ohne Grenzen arbeiteten. Die Operation endete im Desaster und provozierte Racheaktionen. Die Miliz drang immer weiter nach Kenia vor. Selbst in Dadaab legte sie Sprengkörper und rammte mit Autobomben die Kasernen der kenianischen Sicherheitskräfte. Die UN-Agenturen mussten Unterkünfte mit meterhohen schusssicheren Betonmauern hochrüsten. Seitdem bewegen sich NGO-Mitarbeiter*innen nur mit Militäreskorte durch das Lager.
Bis heute hat die kenianische Armee über 3.000 Soldaten in Somalia im Rahmen der Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM, stationiert, die von der EU zum Großteil finanziert wird. Zu Beginn 2016 hatte die EU angekündigt, die Gelder zu reduzieren. Da drohte Kenia mit dem Abzug. Kurz darauf bewilligte die EU weitere Gelder.
Machtlose Polizei
Kenias Staatsanwaltschaft hatte nach dem Westgate-Angriff Telefonkontakte der Attentäter in den Flüchtlingslagern ermittelt. Seitdem wird Dadaab als Brutstätte des Terrors bezichtigt. Anti-Terror-Einheiten stürmten die Zeltstadt, nahmen tausende Verdächtige fest, brachten sie nach Nairobi und stellten sie dort innerhalb von 24 Stunden vor Gericht.
Kenias Polizeikräfte haben nur bedingt Kontrolle über die Lager. Sie gelten als rechtfreier Raum mit eigenen Gesetzen. Darin hat die Shabaab mehr Sagen als Kenias Polizei. Die gilt als dermaßen korrupt, dass ihr von Sicherheitsexpert*innen ein Scheitern im Kampf gegen den Terror prophezeit wird. Die Schließung Dadaabs soll deswegen Präventivmaßnahme gegen weitere Terroranschläge sein.
Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) kritisieren, Somalia sei nicht sicher genug und die meisten Rückkehrer*innen würden in ihrer Heimat wiederum in Vertriebenenlagern enden. Viele der von HRW befragten Heimkehrer*innen hätten sich nur für die Rückkehr entschieden, weil sie fürchteten, Kenias Behörden würden Flüchtlinge mit Gewalt über die Grenze zurückführen. Dies sei bereits nach den Westgate-Anschlägen passiert, als tausende Somali gewaltsam abgeschoben worden waren. Da ziehen es die meisten vor, wenigstens noch Geld und Rationen mitzunehmen. Dies entspräche nicht der Definition der „Freiwilligkeit“ und verletze Internationales Recht, sagt Victor Nyamori von Amnesty International in Kenia. Es gebe mehr „Push-Faktoren“, vor allem die Angst vor gewaltsamer Abschiebung, als „Pull-Faktoren“ wie ein besseres Leben in der Heimat.
Kenias Menschenrechtsorganisationen zogen vor Gericht: Die Entscheidung der Regierung, Dadaab zu schließen, würde gegen internationales Menschenrecht verstoßen, so die Sammelklage. HRW und Amnesty International hatten Familien befragt, die nach Somalia zurückgekehrt waren und dort weder Sicherheit noch Unterkünfte vorgefunden hätten. Daraufhin suchten sie erneut in Dadaab Schutz. HRW kritisiert Kenias Regierung dafür, diesen Familien die erneute Registrierung und damit ihre Lebensmittelrationen zu verweigern.
Auch ein anderes Vorgehen der Regierung sei verfassungswidrig, klagen die NGOs: In einer Anweisung vom Mai 2016 hatte der Innenminister die ihm unterstehende Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten aufgelöst. Sie war 2006 im Zuge des damals verabschiedeten Flüchtlingsgesetzes geschaffen worden, um die Rechte von Flüchtlingen zu wahren. Das ursprüngliche Flüchtlings- und Asylgesetz von 1993 hatte die Genfer Konvention zum weltweiten Schutz von Flüchtlingen mit keinem Wort erwähnt.
Der Antrag der Menschenrechtsorganisationen richte sich formell gegen die Vorgehensweise der Regierung, erklärt Andrew Maina von Kenias Konsortium für Flüchtlingsrechte (RCK), welches die Petition mit unterstützt. Der Innenminister könne nicht einfach per Anweisung Gesetze abändern und Behörden auflösen, selbst wenn sie ihm unterstehen, so der Anwalt und Chef der RCK-Rechercheabteilung. Noch vor Ende der Schließungs-Frist im November sollte das Urteil feststehen. Doch bei der ersten Anhörung erschien der Richter nicht.
Besorgniserregend findet Maina vor allem das neue Flüchtlingsgesetz, das im Juli 2019 vom Parlament verabschiedet wurde, denn dieses gehe in Hinsicht der Rechte und des Schutzes „rückwärts“, so Maina. Bis heute habe die Flüchtlingsbehörde ihre Pflicht nicht erfüllt, die Flüchtlinge tatsächlich zu registrieren. Die Ausstellung eines Flüchtlings-Passes, durch welchen sie international geschützt sind, erfolgte bislang vom UNHCR. Kenias Flüchtlingsabteilung im Innenministerium hatte bis zuletzt keine Übersicht, wie viele Menschen in den Lagern leben. Das soll sich jetzt ändern – auch aufgrund der mutmaßlichen Terrorgefahr.
Es gebe zudem einen Ausfall an Hilfsgeldern „Bevorzugt werden die Gelder für diejenigen Flüchtlinge ausgegeben, die in den Westen fliehen“, klagte der kenianische Innenminister. Das UNHCR-Budget für somalische und südsudanesische Flüchtlinge hat seit Jahren enorme Versorgungslücken. Im Dezember 2016 mussten sogar die Lebensmittelrationen um die Hälfte reduziert werden. Diese Lücken kann Kenia nicht schließen und fürchtet nun, mit der Versorgung der Geflüchteten allein gelassen zu werden. „Kein einziges westliches Land“ habe ansatzweise so viele Flüchtlinge aufgenommen, konstatierte Kenias Regierung.
Unterstützung erfolgt derweil von der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan reiste im Juni 2016 nach Nairobi und kritisierte EU und USA, dass Entwicklungsländer die Last der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen und des damit einhergehenden Terrorismus alleine tragen müssten. Die Türkei hat sich in Dadaab schon immer großzügig engagiert. Das Dadaab-Viertel mit der größten und von der Türkei finanzierten Moschee nennen die Flüchtlinge „Istanbul“.
Vorrübergehende Ewigkeit
Die internationale Gemeinschaft sieht die mögliche Schließung Dadaabs kritisch. US-Außenminister John Kerry drückte bereits 2016 seine „tiefe Besorgnis“ aus und warnte vor erzwungenen Rückführungen. Die UN drängt, in der Deadline der Lagerschließung „flexibel“ zu sein und bat die westlichen Geber*innen um eine Aufstockung des Budgets für somalische Flüchtlinge. Sämtliche Flüchtlingslager in Kenia werden ausschließlich von internationalen Gebern unterhalten. Flüchtlinge dürfen sich laut Gesetz nicht frei im Land bewegen, sondern müssen ausschließlich in Lagern leben. Anders als in Uganda, wo Flüchtlinge ein Stück Land zugewiesen bekommen, um Mais und Bohnen anzubauen und sich langfristig selbst zu ernähren, darf laut Gesetz keine „dauerhafte“ Behausung errichtet werden. So müssen die Menschen auch nach 25 Jahren noch unter Zeltplanen hausen.
Somit sind alle Flüchtlinge automatisch von Hilfsgütern der internationalen Gemeinschaft abhängig: von Lebensmitteln, über Gesundheitsversorgung, Schulbildung bis hin zur Behausung. Für die Flüchtlinge eine elende Situation, für die Geber ein teures Unterfangen. Kenia macht damit klar: Die Lager sind nur vorübergehend, eine Integration in die kenianische Gesellschaft bleibt ausgeschlossen.
Es ist nicht einfach, für Somalier*innen in Kenia die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Seit der Festlegung der Grenzen zu Kolonialzeiten lebt in Kenia eine somalische Minderheit, die meisten in der Nordostprovinz entlang der somalischen Grenze mit der Bezirkshauptstadt Garissa und dem Lager Dadaab als größtem Ballungs- und Wirtschaftsfaktor. Nach der Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren kam es zur Entscheidung, die Provinz Somalia zuzuschreiben. Die lokale somali-sprechende Bevölkerung war dafür, die Unabhängigkeitsregierung in Nairobi dagegen. Sie verweigerte die Lossagung. Seitdem kam es immer wieder zu Aufständen, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Massaker an der somalischen Minderheit wurden dokumentiert. Bis 1992, also bis zur Gründung Dadaabs, herrschte in der Provinz Ausnahmezustand. Der kollektive Terrorverdacht gegen die somalischen Flüchtlinge lässt sich auch vor diesem Hintergrund erklären.
Kenia und die Welt
Nairobi ist mittlerweile Anziehungspunkt für Arbeitsmigrant*innen aus ganz Ost- und Zentralafrika. Im Zuge der Integration in die Ostafrikanische Union (EAC) und ihrer Vereinbarung über den freien Waren- und Personenverkehr, auch in Bezug auf Arbeitskräfte und Dienstleistungen, suchen immer mehr gut ausgebildete Ugander*innen, Ruander*innen oder Burundier*innen in Nairobi nach Jobs, vor allem im IT- und Dienstleistungssektor. Für westliche Mitarbeiter*innen internationaler NGOs wird es umgekehrt schwieriger, in Kenia eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Die Regierung will gut bezahlte Jobs den eigenen Landsleuten geben. Europäer*innen und Amerikaner*innen wird systematisch die Arbeitserlaubnis verweigert.
Auch wenn Kenia mittlerweile ein Mittelstandsland ist (lower middle income country), bleibt die Entwicklung in der Peripherie aus, die Korruption ist enorm. Das Land bleibt von Entwicklungshilfegeldern abhängig. Diese wird jedoch zunehmend reduziert, die extreme Korruption wirkt auf westliche Geldgeber abschreckend. Mittel der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) können aufgrund der Kategorisierung als Mittelstandsland nicht mehr geltend gemacht werden.
In Hinsicht der Migrationsabwehr ist Kenia für die EU de facto uninteressant: Gerade einmal 480 illegale Immigrant*innen aus Kenia trafen 2015 in der EU ein. Davon wurden 130 Menschen bereits an der Außengrenze abgewiesen, 310 der Asylantrag verweigert, 60 stattgegeben. Kenia gilt als sicheres Herkunftsland – mit Ausnahme für Schwule und Lesben. Diese gelten laut dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2013 als asylberechtigt in der EU.
Befürchtungen, Zehntausende Somalier*innen würden sich im Zuge der Schließung von Dadaab auf den Weg Richtung Europa machen, sind unbegründet. Der Flüchtlingssprecher von Dadaab, Abdullahi Ali Aden, gibt an: Die Überlegung vieler junger Männer scheitere am mangelnden Geld. Eine Reise nach Europa wäre nur unter Einsatz des Lebens per Boot möglich, doch aufgrund der mangelnden Bewegungsfreiheit in Kenia, den zahlreichen Straßensperren und der Investition von mehr als 10.000 Dollar für eine Bootsfahrt durch den Golf von Aden ins Rote Meer sei eine solche Reise für die Flüchtlinge in Dadaab unerschwinglich. Nach Uganda wollen viele, weil sie dort mehr Freiheiten und Bleiberechte genießen – nicht jedoch nach Europa.
Dementsprechend hat Kenia auf dem EU-Afrika-Migrationsgipfel 2015 in Maltas Hauptstadt Valletta aus dem EU-Treuhandfond für Afrika nur geringe Mittel zugesagt bekommen. Im Rahmen der Unterstützung von Pastoralisten-Völkern in der Grenzregion zwischen Südsudan, Äthiopien und Kenia hat die EU 28 Millionen Euro in Landwirtschaftsprojekte und Ernährungssicherheit investiert. Dazu kommen 12 Millionen Euro, die in verbesserte wirtschaftliche Chancen für Jugendliche in strukturschwachen Regionen entlang der Küste zu Somalia oder dem Norden entlang der Grenze zu Südsudan investiert wurden.
Die Europäische Kommission hat 2015 das Budget des Aktionsplans für sogenannte gemischte Migrationsströme am Horn von Afrika auf sechs Millionen erhöht. Die Länder, darunter Kenia, sollen darin unterstützt werden, ihre Kapazitäten auszubauen, um mit den Migrationsbewegungen umzugehen. Der Anteil für Kenia ist jedoch marginal.
Auch im sogenannten Khartum-Prozess ist Kenia ein eher zu vernachlässigendes Partnerland der EU. Unter dem Schlagwort „Besseres Migrationsmanagement“ (BMM) wird die EU mit 45 Millionen Euro Projekte zur besseren Regulierung von Migration in neun Ländern im Horn von Afrika umsetzen. Kenia spielt in diesem Prozess jedoch aufgrund seiner Lage – weit weg von Europa – nur eine kleine Rolle.
Die EU unterstützt in Dadaab bislang die dort aktiven NGOs und UNHCR mit Geldern. CARE erhielt in den vergangenen acht Jahren von der EU-Hilfsagentur ECHO 1,5 Millionen Euro jährlich für Wasserversorgung und Sanitärprojekte. Auch das Auswärtige Amt hat Wasserversorgungs- sowie Bildungsprojekte in Dadaab finanziert. Seitdem die Regierung 2016 jedoch die Schließung angekündigt hat, fällt es internationalen Gebern immer schwerer, Finanzhilfe zu leisten, weil sie aufgrund der unsicheren Frist keine Budgets planen können.
Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) leistet daher im Flüchtlingslager Kakuma Unterstützung für südsudanesische Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden in Kenia durch Maßnahmen für Ernährungssicherung und bessere ärztliche Versorgung. Gestärkte Konfliktbearbeitungsmechanismen richten sich gleichermaßen an die Flüchtlinge und an die lokale Bevölkerung in der Grenzregion zu Südsudan, also in und um das Lager Kakuma. Sämtliche Projekte in Dadaab wurden bereits 2016 abgewickelt.
Die Bundesregierung gilt nach den USA als wichtigster Partner Kenias. Entwicklungsminister Gerd Müller besuchte im März 2016 Dadaab: „60 Millionen Flüchtlinge weltweit stellen viele Entwicklungsländer vor gewaltigen Herausforderungen“, sagte er dort: „90 Prozent haben in Entwicklungsländern Zuflucht gefunden. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung muss die internationale Gemeinschaft den Menschen vor Ort wieder Perspektiven geben.“
Aufrüstung in Milliardenhöhe
Nach dem Westgate-Anschlag hat Kenia hochgerüstet. Enorme 2,6 Milliarden Dollar umfasst das Verteidigungsbudget im Haushaltsjahr 2016/2017: davon gehen 1,2 Milliarden an den Geheimdienst und 1,2 Milliarden an das Innenministerium, welchem Polizei und Anti-Terror-Spezialkräfte unterstehen – ein gigantisches Budget für ein afrikanisches Land. Die Hochrüstung ist sichtbar: Überall in Nairobi hängen Überwachungskameras, sind schwer bewaffnete Sicherheitskräfte der Anti-Terror-Einheiten stationiert, selbst in Supermärkten oder Banken. Der internationale Flughafen in Nairobi wurde mit Überwachungskameras ausgestattet, ebenso der Containerhafen in der Küstenstadt Mombasa. Jede Abflughalle des großen Flughafens in Nairobi ist mit Ganzkörper-Scannern ausgestattet.
Kenias Grenzposten wurden landesweit mit Computern, Fingerabdruckscannern und Gesichtserkennungssystem ausgestattet. In den vergangenen Jahren druckte eine israelische Firma biometrische Pässe für Kenianer*innen und baute die Datenbanken dazu auf. Auch biometrische Personalausweise wurden ausgegeben. Bei der Vertragsvergabe gab es Kontroversen, angeblich habe das Präsidentenbüro entschieden, welche Firmen den Zuschlag erhalten. Eine britische Sicherheitsfirma mit Tochter in Kenia bekam den Auftrag, die Pässe zu drucken. Nadra, eine Agentur des pakistanischen Innenministeriums, entwickelt die Software. 2017 haben die Mitgliedsstaaten der Ostafrikanischen Union (EAC) gemeinsame Pässe eingeführt.
Seit dem verstärkten Einsatz von Sicherheitstechnologien bieten Fluggesellschaften jüngst erstmals wieder Direktflüge zwischen Nairobi und Mogadishu an. Mit dem elektronischen Visa-Verfahren erhalten jetzt auch Somalier*innen Einreise nach Kenia. Jeder Visaantrag wird mit der Geheimdienstdatenbank abgeglichen. Auch Direktflüge in die USA sollen ab 2017 wieder möglich sein. Die staatliche Fluggesellschaft Kenya Airways hatte aufgrund der Sicherheitsrisiken enorme Verluste hinnehmen müssen und stand kurz vor der Pleite. Langsam erholt sich Kenias Tourismussektor, immerhin der wichtigste Wirtschaftszweig und Devisenfaktor. Er war im Zuge der Westgate-Attacken und den Überfällen in der Küstenstadt Lamu eingebrochen. Das Vertrauen westlicher Safari-Tourist*innen in die Sicherheitsorgane kommt langsam zurück. Erst 2016 stiegen die Touristenzahlen wieder.
Eine Mauer aus Israel
Koste es was es wolle“, hatte Kenias Vizepräsident William Ruto betont, als er 2015 die Entscheidung verkündete, eine Mauer zu Somalia zu bauen. Über 700 Kilometer ist der Grenzabschnitt lang, mitten durch die Wüste und das Shabaab-Gebiet. Betonmauer, Grenzanlagen, Überwachungskameras und Patrouillen-Fahrzeuge werden benötigt.
Auch deutsche Firmen haben sich für diesen Großauftrag interessiert. Die deutsche Internationale Handelskammer hatte 2015 eine „Markterkundungsreise“ im Bereich zivile Sicherheitstechnologien nach Kenia organisiert. Treffen mit dem Verteidigungsministerium und Anti-Terror-Einheiten standen auf dem Programm. Deutschlands führende Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen wie Rheinmetall und Siemens waren dabei.
Letztlich erhielt die israelische Firma Magal Security den Zuschlag für den Mauerbau sowie den Ausbau der Sicherheit an Flughafen und Hafen. Israel hatte sich seit den Westgate-Anschlägen als enger Partner erwiesen. Das ist kein Zufall: Das Einkaufszentrum gehört einem israelischen Investor. An den Eingangspforten mit Sicherheitsscannern sind heute israelische Wachleute in Zivil postiert, Kenias ausladender Sicherheitssektor hat im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes mittlerweile gute Beziehungen zu Israels Geheimdienst Mossad.
Israels Grenzanlagen zu Palästina, Ägypten und Jordanien gelten als Prototyp moderner High-Tech-Zäune mit Bodensensoren, Wärmebildkameras sowie Satelliten- und Drohnenüberwachung aus der Luft. Die ambitionierten Pläne Kenias scheitern jedoch an der Wirklichkeit: Bauarbeiten, geschützt von der Armee, mussten aufgrund von Shabaab-Attacken eigestellt werden. Als überteuert gilt der Aufwand allemal, da die Terrormiliz längst innerhalb Kenias Basen hat. Als „Gipfel der Sinnlosigkeit“ kritisierte jüngst George Morara, Vize-Direktor von Kenias Menschenrechtskommission, den Mauerbau.