Lager ― Genealogie der Flüchtlingsabwehr

Veröffentlicht November 21st, 2021 - von: Eberhard Jungfer

Ich danke Leonie Jegen und Tim Zumloh für Korrekturen, Ergänzungen und Hinweise.

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Pagani Lesvos 2009 (aus Still Moving Europe, credit w2eu)

Lager[1] sind in der Regel gekennzeichnet durch eine vorläufige Architektur. Fortwährend besteht die Möglichkeit, bauliche und administrative Anpassungen vorzunehmen, Versorgungsleistungen zu reduzieren oder Komponenten hinzuzufügen. Lager sind häufig unsichere Orte. Merkmale im Innern sind Enge, fehlende Privatsphäre und Fremdbestimmung. Der Aufenthalt ist meist unfreiwillig. Oft sind die Lager von NATO- oder Stacheldraht umgeben. Derartige Lager sind Ausdruck einer Politik der Feindschaft.[2]

Kontinuitätslinien in Europa seit Beginn des 20. Jahrhunderts

Joël Kotek und Pierre Rigoulot haben in ihrem Buch Das Jahrhundert der Lager eine Systematik der Lagertypen vorgelegt. Die Autoren unterscheiden Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager und nennen sechs Hauptfunktionen von Lagern: Isolieren, Bestrafen, Terrorisieren, Ausbeuten, Vernichten und „Umgestaltung der Gesellschaft“.[3]

Der Terminus Konzentrationslager wurde erstmals gebräuchlich auf Kuba gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In so genannten Campos de concentración konzentrierte die spanische Kolonialmacht Greise, Frauen und Kinder.[4] In Westeuropa etablierte sich der Begriff im Zusammenhang mit Berichten über die britischen Lager im Südafrikanischen Krieg (1899 – 1902) und über die deutschen Lager im Vernichtungskrieg gegen die Herero.[5] Zweifellos gab es Kontinuitätslinien aus den Kolonien zurück nach Europa[6] – noch wichtiger aber war hier die Radikalisierung der Lagersysteme im Ersten Weltkrieg. Alan Kramer schrieb in seiner Einleitung zum Sammelband Die Welt der Lager, 2013:

(Es ist) nicht zu hoch gegriffen, von einer Kulturrevolution des Staates zu sprechen, die im Ersten Weltkrieg die Entstehung des modernen Lagersystems ermöglichte. Was die imperialen Mächte auf dem Experimentierfeld der kolonialen Peripherie erprobt hatten,wurde im Ersten Weltkrieg in den Metropolen im großen Stil angewandt. […] Die menschenverachtenden Lebensumstände in den Lagern in Mittel- und Osteuropa, die absichtliche Unterversorgung und die Zwangsarbeit führten zu einem Massensterben, das bisher ein weitgehend verborgener Aspekt des Weltkrieges geblieben ist. […] Die Idee war zwar in den Kolonien entstanden, doch waren die Lager mit ihrer extensiven Infrastruktur und ihrer militarisierten transnationalen Lagerkultur»vor allem ein Produkt des Weltkriegs«. (…)
Stacheldrahtzäune und Wachtürme mit Maschinengewehrposten prägten fortan das Bild des Lagers, [...]. Der Faschismus und der Kommunismus mussten nur wenig hinzufügen, um ein gewaltiges Repressionsinstrument zu bedienen. Die Technologie und die Kultur, sogar die normierte Architektur der Lager standen nach dem Weltkrieg bereits zur Verfügung.[7]

Im Ersten Weltkrieg wurden Lager zur Masseneinrichtung. Acht bis neun Millionen Menschen wurden in Europa als Kriegsgefangene in Lagern untergebracht.[8] Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurden in den großen Stammlagern die Zelte durch Baracken ersetzt, die Lager wurden zu Dauereinrichtungen. Andererseits wurden die Kriegsgefangenen seit 1915 zunehmend zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die großen Stammlager wurden ersetzt durch ein verzweigtes System kleinerer Zwangsarbeitslager.[9]

Die Erfahrung und das Wissen, Massen von Menschen – Kriegsgefangene, so genannte feindliche Ausländer und Flüchtlinge – unterzubringen und zu versorgen, waren nach 1918 weiterhin vorhanden. Außerdem blieb ein Teil der Infrasttruktur erhalten.

In Deutschland tauchte der Begriff des Konzentrationslagers 1920 wieder auf, im Zusammenhang mit der Ausweisung und Internierung unerwünschter „Ostjuden“.[10] Ab Frühjahr 1915 waren auch „ostjüdische“ Arbeiter für die Arbeit im Reich rekrutiert worden. Im September 1917 wurden sogar alle speziell sie betreffenden Zuzugsbeschränkungen aufgehoben. Am Ende des Kriegs lebten daher etwa 100.000 „Ostjuden“ im Reich.[11] Sie waren in dieser kleinen Zahl „die Fremden“ par exellence[12] und wurden, wie auch die polnischen Arbeitsmigranten, zu einer exemplarischen Manövriermasse für staatliche Kontroll- und Abschiebemaßnahmen . Der seinerzeitige preußische Innenminister Heine führte aus:

Was die unerwünschten Elemente der Ostjuden betrifft, stehe ich bereits in Verhandlungen. Ich bin der Ansicht, daß auf die Dauer nichts übrigbleiben wird, als die von ihnen besonders heimgesuchten Städte zu evakuieren und sie in irgendwelche Konzentrationslager zu überführen.[13]

Diese Äußerungen verweisen auf eine Denkweise, wie sie im immer aggressiveren Gebrauch der „Läger“ nach 1933 zum Ausdruck gekommen ist. Internierungslager, Konzentrationslager, Arbeitslager, Sammellager, Vernichtungslager wurden nun errichtet.[14] In den letzten Jahren des 2. Weltkriegs, als die Produktion um jeden Preis hochgetrieben wurde, befanden sich mehr als 7 Millionen „Fremdarbeiter“ im Reichsgebiet – 20 % aller Beschäftigten. Die Konzentrations- und die Arbeitslager diffundierten aufs Land und auf die Fabrikgelände.

In vielen Städten und Dörfern gab es [noch in den 60er Jahren] Barackenlager, die nacheinander etwa von Reichsarbeitsdienst-Kolonnen, dann während dies Kriegs von „Fremdarbeitern“, später von DPs und anschließend von Vertriebenen bewohnt worden waren, um nicht selten seit den frühen 60er Jahren als „Gastarbeiterlager“ Verwendung zu finden. Unbeschadet aller rechtlichen und sozialen Unterschiede dieser verschiedenen Gruppen führte dies bei den Einheimischen doch zu Kontinuitäten in der Wahrnehmung der Lagerbewohner.[15]

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Gedenkstätte Lager Sandborstel (credit: https://www.landeszentrale-bremen.de/)

Lager für Geflüchtete und Vertriebene gibt es in großem Maßstab in Europa und weltweit erst seit dem 2. Weltkrieg. Lager für Displaced Persons (DP) wurden errichtet zuerst für die Menschen, die vor den Nazis geflohen waren und später auch für die Menschen, die das KZ überlebt hatten oder die vor der Sowjetarmee geflohen waren.

Diese Verschiebung ist auch aus heutiger Sicht noch bemerkenswert. Gerade als die Lager als Orte der Grausamkeit einen Höhepunkt erreicht hatten, kamen sie auch als Orte eines mitfühlenden Humanitarismus in Gebrauch. Arendt schrieb zu dieser Zeit (in We Refugees): „Die Welt hat eine neue Art Mensch geschaffen, die von ihren Feinden in Konzentrationslager und von ihren Freunden in Internierungslager gesteckt wird“.[16]

Als 1959 die letzten Lager für Displaced Persons in Europa geschlossen wurden, hatte die BRD längst die ersten „Gastarbeiter“ aus Italien angeworben. Die ersten Migrant*innen aus Italien wurden rassistisch stereotypisiert und in Lagern untergebracht, in denen sich die Zustände noch Mitte der 1960er Jahre kaum verbessert hatte:

Bei VW in Wolfsburg lebten 1966 6.000 vor allem italienische Arbeitsmigranten und damit 86% der ausländischen Arbeitnehmer in einem Lager aus 58 doppelstöckigen Holzbaracken. Nach innen wurde die Ordnung in der Unterkunft durch eine strikte Reglementierung und Kontrolle durchgesetzt, die manchmal unsinnige Formen annahm.[17]

Vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anwerbestop 1973 kamen, in einer Kontinuitätslinie mit den Zwangsarbeiter*innen der NS Zeit, rund 14 Millionen Arbeitsmigrant*innen in die BRD, 11 Millionen kehrten in ihre Herkunftsländer zurück.[18] Die Immigration verlagterte sich nach dem Anwerbestop auf den Familiennachzug und auf das „Nadelöhr Asyl“. Asylsuchende und illegalisierte Migrant*innen wurden in einem "dezentralen Lagersystem" untergebracht, das es ermöglichte, die "Gastarbeiter" durch noch stärker deregulierte Arbeitsmarktsegmente zu ersetzen.[19] Geflüchtete wurden 1975 auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zugelassen. Ab Ende der 70er Jahre wurde dann die "Einwanderung in die Sozialsystene" immer stärker in den Vordergrund gestellt.[20] Die "Asyl-Sammellager" wurde mit dem Asylbewerberleistungsgesetz von 1982 zu einem Zwangsmittel der Abschreckung. Im Sommer 1983 veröffentlichten Mitarbeiter*innen des UNHCR einen Bericht über die Zustände in diesen Lagern, in dem es hieß:

Der allgemein depressive Zustand der Asylbewerber, die wir gesehen haben, und die Auswirkungen ihrer verlängerten Inaktivität, die Unsicherheit über die Zukunft, Isolierung, das Gefühl der Zurückweisung, Hilflosigkeit und eine wachsende Verzweiflung waren deutlich spürbar.[21]

Nach dem Tod von Kemal Altun gab es 1983 erste zivilgesellschaftliche Widerstände gegen die deutsche Asyl- und Abschiebungspraxis. 10 Jahre später, nach dem Anschluss der DDR, gab es die Pogrome in Lichtenhagen, Hoyerswerda und an zahlreichen anderen Orten in Ost- und Westdeutschland. Die Unterbringung in Lagern spielte hier eine wesentliche Rolle:

Die Lagerunterbringung von Asylsuchenden hat bei diesen Anschlägen den Effekt, dass Flüchtlinge leicht identifizierbar sind, denn sie sind die Bewohner der Lager. Die Lager machen Flüchtlinge sichtbar und deutlich abgrenzbar von der einheimischen Bevölkerung. Mit der Unterbringung von Flüchtlingen in abgeschlossenen Lagern werden diese als Ziel von Anschlägen exponiert.[22]

Pro Asyl Broschüre Lager Deutschland

2011 erschien diese Broschüre , herausgeben von den Flüchtlingsräten und Pro Asyl, mit ausführlichen Analysen und Berichten zur Unterbringung der Geflüchteten in Deutschland

Lager in Afrika

Afrika gilt als „Kontinent der Flüchtlingslager“.[23]Hungernde Menschen, die von UNHCR registriert und durch WFP notdürftig verpflegt werden, bestimmen das Bild. Wichtig ist aber auch, dass diese Flüchtlingslager zugleich Orte der Improvisation, der Hoffnungen und der Agency sind, wie es Ben Rawlence am Beispiel des Lagers Dadaab / Kenia und Ulrike Krause am Beispiel ugandischer Flüchtlingslager beschrieben haben.[24]

Die kolonialen Internierungslager in Libyen und Algerien gehören zur Vorgeschichte dieser Lager. In Libyen errichteten die italienischen Truppen ab Mai 1930

Konzentrationslager in der Umgebung ihrer Stützpunkte und umgaben sie mit einem doppelten Stacheldrahtzaun. Dann begann das, was die italienischen Kolonialisten selbst als „biblische Märsche“ bezeichneten: die Entvölkerung ganzer Regionen, die Fußmärsche der Bevölkerung unter militärischer Bewachung äthiopisch-italienischer Truppen, und schließlich die Ankunft in der Hoffnungslosigkeit der Lager. In kürzester Zeit starben Abertausende Menschen. Gleichzeitig wurden das Weideland und die Äcker aufgeteilt. Wurde Vieh ausserhalb der Demarkation angetroffen, wurde es beschlagnahmt, das freie Weidenlassen galt als Widerstandshandlung. Die Repression richtete sich besonders gegen die nomadisierenden und mobilen Lebensweisen. Diesen Kolonialkampf verstanden Graziani und seine Truppen als zivilisatorische Mission.[25]

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Konzentrationslager El Abiar (credit: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_concentration_and_internment_camps#/media/File:El_Abiar_Concentration_Camp.jpg)

Während des Algerienkriegs, 1954 – 62, errichtete die französische Kolonialverwaltung ähnliche camps de regroupementin Algerien und konzentrierte dort bis zu 2 Millionen Menschen.[26] In Frankreich selbst wurden Konzentrationslager des Vichy-Regimes wiedereröffnet, um algerische Widerstandskämpfer zu internieren und später am selben Ort die verbündeten Harkis unterzubringen – und 20 Jahre später, in den 1980er Jahren, kurdische Refugees aus dem Irak.[27]

Gibt es Verbindungslinien zwischen den kolonialen Lagern in Libyen und Algerien und den heutigen Flüchtlingslagern Afrikas? Postkoloniale Staaten setzen in mancher Hinsicht die „zivilisatorische Mission“ der Kolonialmächte fort, wenn sie Regionen unter Kontrolle bringen, Bevölkerungen vertreiben, Ländereien enteignen und an Investoren verkaufen. Warlords und islamistische oder ethnische Milizen sind Fermente dieser Modernisierungsprozesse (und zum Teil auch Formen des Widerstands). Die Bevölkerungen werden zwischen Milizen und staatlichem Militär aufgerieben und in den Lagern aufgefangen. Von Ruanda über Somalia, Darfur, dem Sahel insbesondere im Dreiländereck Mali / Niger / Burkina Faso und rund um den Tschadsee, dem Südsudan und Kongo, zuletzt in diesem Jahr auch Mosambik und Äthiopien – allenthalben ist ein Zusammenhang von Gewaltprozessen, Vertreibung, Enteignung und der Ansiedlung extraktiver Industrien oder großer Agrarbetriebe erkennbar.[28]

In diesem Zusammenhang wäre der Funktionswandel von UNHCR zu diskutieren, der 1951 mit dem Schutz und der Sorge für Integration von Geflüchteten, entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention, beauftragt wurde. Statt dessen wurde UNHCR in den folgenden Jahrzehnten zum Lagerverwalter. Die Genfer Konvention hatte von vornherein nur für Europa Geltung.[29] Im Globalen Süden wurden Flüchtlingslager seit Ende der 1970er Jahre zu Dauereinrichtungen – sie wurden geradezu zum humanitären Standard und es entstand eine vielfältige „humanitäre Industrie“, die sich der Geflüchteten und Vertriebenen im Globalen Süden annahm.[30] Getrieben von einer Finanzierungskrise und der Unwilligkeit des Westens / Nordens, Politiken des Resettlements auch nur im Ansatz zu erwägen, entwickelte UNHCR in den 1990er Jahren seine Care and Maintainance-Strategie und wurde damit zu einer Einrichtung zur Verwaltung der Lager und der Katastrophen.[31] Das Überleben der Menschen in den Lagern war von Jahr zu Jahr von den Verhandlungen von UNHCR und WFP mit den „Geberländern“ abhängig, die ihrerseits vor allem das Interesse verfolgten, diese Menschen von sich fern zu halten.

Während Hunderttausende in den Flüchtlingslagern festgehalten und mehr oder weniger notdürftig verwaltet wurden, führte die Modernity in Africa[32] andernorts zu einer Erweiterung der Mobilitätsradien – meist innhalb Afrikas, aber auch auf den Spuren der Migrationsrouten nach Libyen, in die Golfregion und nach Europa, die sich seit den 1960er Jahren entwickelt hatten. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde das Mittelmeer, komplementär zum Einigungsprozess in Europa, zu einem Raum der Abschreckung und zum Massengrab.[33]Der Funktionswandel von UNHCR überschnitt sich mit der europäischen Flüchtlingsabwehr. Zunehmend sah sich UNHCR gezwungen, in Sachen Lagerhaltung und Repatriierung den Interessen der Flüchtlingsabwehr zu folgen und wurde – insbesondere in Libyen – zum Komplizen der EU in völlig unhaltbaren Situationen.[34]

Im März 2003 legte die britische Regierung ein Konzept namens New Visions for Refugees vor, in der sogenannte Transit Processing Centres außerhalb der EU vorgesehen waren. Anerkannte Flüchtlinge sollten „heimatnah“ in Safe Heavens weit außerhalb Europas angesiedelt werden.[35] Dieses Modell rekurrierte auf Erfahrungen während des Jugoslawienkriegs in Mazedonien und Albanien. Im Jahr 2004, nach der Landung des Schiffs „Cap Anamur“ mit 37 (!) geretteten Boat Peoplein Sizilien, sprach der damalige deutsche Innenminister Schily über die Möglichkeit, „Begrüßungslager“ in Nordafrika zu errichten, in denen die auf See aufgegriffenen Menschen „entgegengenommen und geprüft“ werden sollten. Die italienische und die deutsche Regierung verhandelten mit Gaddafi, und Libyen errichtete mindestens drei Lager, in denen aus Italien abgeschobene Boat People interniert wurden. Dieses Verfahren wurde durch Einspruch des EGMR unterbunden.[36] Dessen ungeachtet wurden ähnliche Projekte im Haager Programm der EU von 2005 vorgeschlagen[37] und stehen seither regelmäßig auf der Agenda.[38] Die Afrikanische Union reagiert auf derartige Pläne mit Ablehnung.[39]

Obwohl die EU in den 2000er Jahren erheblichen Druck auf die Maghreb-Staaten ausübte, war keines der Regimes bereit, externe Lager für Europa einzurichten. Ein solcher Schritt wäre extrem unpopulär gewesen. Nach der arabischen Revolution hätte die Errichtung derartiger Lager die sozialen Unruhen weiter befeuert. Aus diesem Grund gibt es über die Lager in Tunesien, die auch nach dem Sturz Ben Alis weiter betrieben werden, kaum Informationen. Die Camps in Marokko, bei Ceuta und vor Melilla, sind informell und werden in Abständen von der marokkanischen Polizei heimgesucht. Im Sudan gibt es nicht nur die eritreischen Communities in Khartum, sondern wahrscheinlich auch geheime Lager der Hemeti-Milizen.[40] Algerien errichtet keine Lager, sondern schiebt die Subsahariens in „Nacht-und Nebel-Aktionen“ in die Wüste nach Niger ab, wo sie zumeist von IOM aufgelesen und nach Agadez in sogenannte Transit Camps verbracht werden. In Westlibyen wurde für einige Refugees – hauptsächlich für Geflüchtete aus den Sudan – von UNHCR ein Emergency Transit Mechanism (ETM) eingerichtet, der Rücktransporte in ein humanitäres Lager , ebenfalls nach Agadez, betreibt.[41] Die Lager in Libyen, in welche Boat People durch die dortige Küstenwache verbracht werden, sind unter den Augen von UNHCR und IOM geradezu zum Drehkreuz der europäischen Externalisierungspolitik geworden.[42] Die Lager und Detention Centres in den einzelnen Ländern werden in den Länderberichten des Global Detention Project beschrieben.[43]

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Protest im Zintan Detention Center 2019 (credit: Sally Hayden)

Nach dem Sommer der Migrationen

Im Rückblick und in Kenntnis der heutigen Situation – der Lager und der Todeszonen, die Europa umgeben – wird deutlich, welch eine große Chance nach 2015 vertan wurde. Die Überlastung der Verwaltungen wurde durch die Mobilität der Migrant*innen und durch „eine Zivilgesellschaft im Aufbruch“[44] übertrumpft. Solidarity Cities und Welcome United erschienen als greifbare Möglichkeit. Das große Camp in Idomeni war der Anfang vom Ende der großen Migrationsbewegung, aber es war zugleich ein Ort der vielfachen Selbstorganisation der People on the Move. Europa hätte so viel lernen können von einer Gastfreundschaft, wie sie hier nur in Nieschen noch existiert und die in islamischen Gesellschaften noch lebendig ist,[45] oder von der Gastfreundschaft in der afrikanischen Ubuntu-Philosophie.[46]

Getrieben vom Rechtspopulismus haben die Innenpolitiker*innen Europas alles daran gesetzt, die kleinen Blüten von Solidarität und Freiheit so rasch wie möglich zu ersticken. Dass Geflüchtete ins Lager gehören und nach Möglichkeit zu deportieren sind, wurde in Westeuropa rasch wieder zur Normalität. Das System der Lager spielte dabei eine entscheidende Rolle. In Deutschland etwa wurden Ankunftszentren, Abschiebeknäste und ANKER-Zentren eingerichtet oder ausgebaut.[47]Noch wichtiger aber war die Unterbrechung der Migrationsbewegung durch den EU-Türkei-Deal, mit dem die EU die Unterhaltung eines Lagersystems in der Türkei finanziert hat, und durch den Aufbau der Hot Spots auf den griechischen Inseln und auf Lampedusa.[48] Auf den Kanaren werden neuerdings ähnliche Lager errichtet, aber mit einem Asylverfahren nicht durch die europäische Asylagentur EASO wie in den anderen Hot Spots, sondern unter spanischer Kontrolle.[49]

Allerdings ist es der EU trotz zahlreicher Vorstöße bis heute nicht gelungen, den Türkei-Deal formell auf auch nur einen nordafrikanischen Staat auszuweiten. Sie verlegt sich seit 2017 zunehmend auf den Ausbau eines innerafrikanischen Grenzsystems und auf die informelle Zusammenarbeit mit Regimes und Milizen. Mit der Europäischen Lösung des „Flüchtlingsproblems“, dem Ertrinken lassen und der Kooperation mit der libyschen „Küstenwache“, knüpft Europa an eine Tradition der Nekropolitik an, die in den kolonialen Lagern und der Plantagenökonomie einen Ursprung hatte.

Footnotes

  1. Der folgende Text folgt einer europäisch-afrikanischen Blickachse; die Lager in Russland unter Stalin und China sind ebenso ausgespart wie die Lager in Süd- und Südostasien (bis hin zu den australischen Offshore-Lagern).

  2. Achille Mbembe (2017): Politik der Feindschaft, Frankfurt (Suhrkamp).

  3. Kotek, Joël und Pierre Rigoulot (2001): Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft,Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin/München; allerdings gibt es gute, quantitativ begründete Argumente, die Systematik der Lager auf das „Containment“ zu beziehen: Vgl. McConnachy, Kristen (2016): Camps of Containment: A Genealogy of the Refugee Camp, https://ueaeprints.uea.ac.uk/id/eprint/67827/1/Published_manuscript.pdf.

  4. Kaminski, Andrzej (1982): Konzentrationslager 1896 bis heute, Stuttgart, S. 34.

  5. Jonas Kreienbaum (2015): Ein trauriges Fiasko. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908, Hamburger Edition.

  6. Ein aktuelles Forschungsprojekt zu diesem Thema an der Uni Bayreuth: https://www.africamultiple.uni-bayreuth.de/en/Research/1research-sections/mobilities/Africa-in-the-Global-History-of-Refugee-Camps-/index.html.

  7. Alan Kramer (2013): Einleitung, in: Greiner, Bettina und Alan Kramer (Hg.), Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburger Edition.

  8. Oltmer, Jochen (Hrsg.) (2006): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Paderborn; zur Geschichte der Kriegsgefangenenlager seit den Revolutionskriegen in Frankreich siehe auch McConnachy, aaO (FN3).

  9. Fannrich, Isabel (2014): Das Jahrhundert der Lager, https://www.deutschlandfunk.de/internierung-das-jahrhundert-der-lager.1148.de.html.

  10. Fox, John P. (1988): Weimar Germany and the 'Ostjuden', 1918-1923: Acceptance or Expulsion?, in: Anna C. Bramwell (Ed.), Refugees in the Age of Total War, London: Unwin Hyman, S. 51 – 68.

  11. Herbert, Ulrich (2001), Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München, S. 99 ff.

  12. Aschheim, Steven E. (1982): Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800 – 1923, Madison: University of Wisconsin Press.

  13. Zit. n. Maurer, Trude (1986): Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg, S. 417; Vgl. auch http://www.materialien.org/texte/migration/fluebewrass.pdf, S. 8.

  14. Einen Überblick zur jüngeren Literatur über die Lager im NS gibt Mark Buggeln in seiner Sammelrezension 2010: https://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=29950.

  15. Herbert, aaO (FN 11) S. 197.

  16. McConnachy, Kristen (2016): Camps of Containment: A Genealogy of the Refugee Camp, https://ueaeprints.uea.ac.uk/id/eprint/67827/1/Published_manuscript.pdf.

  17. Dünnwald, Stefan (2011): Die Bundesrepublik als Lagergesellschaft, in: AusgeLAGERt - Zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland, https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2012/02/AusgeLAGERt.pdf.

  18. Bade, Klaus J. und Jochen Oltmer (2005): Einwanderung in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg, in: Kölner Kunstverein et al.: Projet Migration, Köln.

  19. Pieper, Tobias (2004): Das dezentrale Lagersystem für Flüchtlinge – Scharnier zwischen regulären und irregulären Arbeitsmarktsegmenten, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 136, 34. Jg., 2004, Nr. 3.

  20. Zur „Asyldebatte“ am Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre in der BRD Herbert, aaO (FN 11) S. 263 ff.; vgl. Zumloh, Tim (2021): https://migration-control.info/early-developments-in-migration-control-migration-policy-categorisations-in-the-%e2%80%8eaftermath-of-the-recruitment-ban-in-west-germany/.

  21. Zit. n. Herbert, aaO (FN 11) S. 266f.

  22. Stefan Dünnwald (2011) aao, FN 18.

  23. Glasman Joël und Hanno Brankamp (2016): Europa ist nicht das Zentrum der Flüchtlingskrise, https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/fluechtlingskrise-afrika-fluechtlingspolitik-erfahrung-integration-refugee-societies/komplettansicht.

  24. Rawlence, Ben (2016), City of Thornes, macmillan; Krause, Ulrike (2017): „Das Leben im Flüchtlingslager wird zur Normalität“, https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/239166/fluechtlingslager: Zur Selbstorganisation kurdischer Refugees im Domiz Refugee Camp im Irak gibt es das schöne Projekt: Refugee Republic https://refugeerepublic.submarinechannel.com/intro_en.php?o=o.

  25. Helmut Dietrich (2005): Koloniale Lagergeschichte in Libyen, in: AusgeLAGERt, https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf. Die Zahl der Toten wird auf 50 – 80.000 geschätzt; das Militär tötete etwa die Hälfte der Bedouinenbevölkerung: https://de.wikipedia.org/wiki/Konzentrationslager_in_der_Cyrenaika_(1930%E2%80%931933).

  26. https://en.wikipedia.org/wiki/Internment_camps_in_France#Algerian_war; vgl. auch https://fr.wikipedia.org/wiki/Camp_de_regroupement.

  27. Ebd. Auf Wikipedia findet sich auch eine verdienstvolle weltweite, nach Ländern geordnete Liste der Konzentrations- und Internierungslager: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_concentration_and_internment_camps.

  28. In der Landnahme steckt zudem ein spekulativer Überschuss. Die gerade veröffentlichte Misereor-Studie weist aus, dass nur 10% des enteigenten Lands tatsächlich genutzt wird: https://www.bauernstimme.de/news/details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=4077&cHash=6521737f7dbab47763f70d7fdd415d50.

  29. Abuya, Edwin O., Ulrike Krause, Lucy Maybin (2021): The neglected colonial legacy of the 1951 refugee convention https://www.econstor.eu/bitstream/10419/240944/1/IMIG_IMIG12898.pdf.

  30. McConnachy, aaO (FN3) S. 405 f.

  31. Betts, Alexander, Collier, Paul (2017): Refuge.Transforming a Broken Refugee System, Penguin, S. 59; Slaughter, Amy and Jeff Crisp (2009): A surrogate state? The role of UNHCR in protracted refugee situations, https://www.unhcr.org/research/working/4981cb432/surrogate-state-role-unhcr-protracted-refugee-situations-amy-slaughter.htm.

  32. Peter Geschiere u.a. (Ed) (2008): Readings in Modernity in Africa, Bloomington.

  33. Helmut Dietrich, Das Mittelmeer als Raum der Abschreckung, https://ffm-online.org/aus-dem-archiv/.

  34. Beaumont, Peter (2021): War crimes and crimes against humanity committed in Libya since 2016, says UN, https://www.theguardian.com/world/2021/oct/04/war-crimes-and-crimes-against-humanity-committed-in-libya-since-2016-says-un.

  35. Cornelia Gunßer und Christopher Nsoh (2005) in: AusgeLAGERt, Berlin, S. 127 ff, https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf.

  36. Gunßer aaO (FN 32) S. 135.

  37. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52005XG0303%2801%29.

  38. Mc Namara, Frank (2018): The external processing of asylum seekers. Member states’ migration talking shop, https://core.ac.uk/download/pdf/151651958.pdf ; siehe auch https://www.france24.com/en/20180619-eu-considering-disembarkation-platforms-end-migrant-row; und für Dänemark kürzlich https://www.infomigrants.net/en/post/32041/denmark-seeks-to-externalize-asylum-obligations-to-rwanda.

  39. ECRE (2019). https://ecre.org/eu-las-summit-overshadowed-by-au-document-thwarting-eu-plans-for-disembarkation-platforms/; AU (2021): https://au.int/en/pressreleases/20210802/press-statement-denmarks-alien-act-provision-externalize-asylum-procedures.

  40. Die Publikationen der Save Road Initiative sudanesischer Aktivisten werden wir demnächst auf dieser Seite veröffentlichen und unterstützen.

  41. End of mission statement of the UN Special Rapporteur on the human rights of migrants, Felipe González Morales, on his visit to Niger (1-8 October 2018), https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23698&LangID=E.

  42. Sally Hayden (2019): The U.N. Is Leaving Migrants to Die in Libya, https://foreignpolicy.com/2019/10/10/libya-migrants-un-iom-refugees-die-detention-center-civil-war/ und Amnesty International (2020): https://ffm-online.org/libyen-tausende-boat-people-nach-push-back-verschwunden-amnesty-international/; Guardian 08.10.21: Reports of physical and sexual violence as Libya arrests 5,000 migrants in a week, https://www.theguardian.com/global-development/2021/oct/08/reports-of-violence-libya-arrests-5000-migrants.

  43. https://www.globaldetentionproject.org/.

  44. Werner Schiffbauer u.a. 2017, So schaffen wir das. Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch, Bielefeld (transcript).

  45. Tahir Zaman (2021): Moralische Geographien der Flucht in Europa aus der Perspüektive des Islam, in: Niki Kubaczek und Monika Mokre (Hsg), Die Stadt als Stätte der Solidarität, Wien transversal texts), S. 67-95, https://transversal.at/books/stadt.

  46. Siehe das Video mit Nelson Mandela auf Wikipedia.

  47. Zu den Lagern in Deutschland siehe https://lager-watch.org/.

  48. Brigitta Kuster, Vassilis Tsianos (2016): Hotspot Lesbos, https://www.boell.de/sites/default/files/160802_e-paper_kuster_tsianos_hotspotlesbos_v103.pdf; Valeria Hänsel (2019): Gefangene des Deals. Die Erosion des Europäischen Asylsystems auf der griechischen Hotspot-Insel Lesbos, https://bordermonitoring.eu/berichte/2019-gefangene-des-deals/; Petra Molinar (2021): Inside new refugee camp like a ‘prison’: Greece and other countries prioritize surveillance over human rights, https://theconversation.com/inside-new-refugee-camp-like-a-prison-greece-and-other-countries-prioritize-surveillance-over-human-rights-168354; Fallon, Katy et al.: Das neue Moria, https://dasneuemoria.eu/.

  49. https://www.statewatch.org/analyses/2021/the-canary-cage-the-making-of-deportation-islands-on-spain-s-atlantic-border/.

Zum Verzeichnis