Mali
Veröffentlicht November 30th, 2020 - von: Rahmane Idrissa
Auszug aus der von Rahmane Idrissa verfassten Studie: Dialog im Widerstreit: Folgewirkungen der EU-Migrationspolitik auf die westafrikanische Integration. Dargestellt anhand der Fallbeispiele Nigeria, Mali und Niger, FES
Migrationsmuster in Mali
Mali gehört neben den beiden anderen Staaten Burkina Faso und Niger zur Gruppe der drei Binnenländer der Sahel-Zone von Westafrika. Migration ist dort – oftmals eher zirkulär als dauerhaft – eine Zwangsläufigkeit im Kontext der heutigen politischen Ökonomie.
In der frühen Kolonialzeit musste die geringe Bevölkerungsdichte als Hauptgrund dafür herhalten, dass das landwirtschaftliche Potenzial des Nigertals – der Strom durchfl ießt größtenteils malisches Staatsgebiet – nicht voll ausgeschöpft wurde. Die Franzosen unternahmen gar den Versuch, Arbeitskräfte aus der angrenzenden Kolonie Obervolta (heute Burkina Faso) einzuführen, um die Arbeitskräfteknappheit im französischen Sudan (heute Mali) zu beheben. Bis zum Ende der Kolonialzeit war infolge des Bevölkerungswachstums ein Arbeitskräfteüberschuss im Vergleich zum Kapital des Landes entstanden.
Die erste unabhängige Regierung von Mali erprobte in den Jahren 1960-68 so genannte sozialistische Vorgehensweisen der Arbeitermobilisierung. Sie hätte im Idealfall die Abhängigkeit von Kapital zur Entwicklung einer produktiven Wirtschaft umgangen. Entsprechende Versuche schlugen jedoch zumeist fehl – mit dem Ergebnis einer jahrelangen gravierenden Nahrungsmittelknappheit. Die Dürre in der Sahel-Zone zu Anfang der 1970er Jahre führte zu einer weiteren Verschärfung. Zahlreiche Bauern aus der am stärksten betroffenen ariden Region Kayes in Mali sahen sich gezwungen, ihren Lebensunterhalt als Wanderarbeiter in Frankreich zu bestreiten, wo die Periode der so genannten „Trente Glorieuses“ (die „dreißig glorreichen“ Jahre ungewöhnlich starken Wirt-schaftswachstums) bzw. der Vollbeschäftigung in vollem Gange war. Die Mehrheit von ihnen wanderte jedoch in das an ihr Heimatland angrenzende Côte d’Ivoire mit einer gleichfalls boomenden Wirtschaft ab.
In Mali entwickelte sich nun ein eigentümliches Migrationsmuster. Der Großteil der Binnenmigration entfiel auf Auswanderer, die aus kleineren Ortschaften in Großstädte wie insbesondere Bamako und Ségou zogen. Insbesondere Frauen entschlossen sich zum Wegzug vom Land in die Städte, die sie jedoch keineswegs als Sprungbrett für die Abwanderung ins Ausland nutzten, wie andernorts häufig der Fall. Aus ländlichen Regionen stammende Männer dagegen zog es ins Ausland. Vielfach beruhte ihre Entscheidung auf geografischen Gründen. Hauptziele waren und sind nach wie vor die Nachbarstaaten Côte d‘Ivoire (440.960), Niger (69.790) und Burkina Faso (68.295) sowie die weiter entfernten Länder Nigeria (133.464) und Frankreich (68.786) (diese IOM-Zahlen aus 2013 sind insbesondere in Bezug auf Côte d‘Ivoire höchstwahrscheinlich unterschätzt). Die Mehr-heit der Auswanderer aus der ländlichen Region Kayes bevorzugte Côte d‘Ivoire, Migranten aus der Gao-Region zogen nach Niger.
Seit Ende der 1990er Jahre ist Mali sowohl Durchzugs / Transit- als auch Herkunftsland der transsaharischen und transmediterranen Migration nach Europa. Die Ströme nach Europa ebbten aufgrund der Rolle Libyens (unter Gaddafi) als Bollwerk des europäischen Kontinents und Anbieter von Jobs für Migranten aus der Süd-Sahara Ende der 2000er Jahre ab. Nach der Entmachtung Gaddafis und dem Absturz Libyens ins Chaos 2012 nahmen sie wieder zu. Die neuerlichen Migrantenströme folgten zunächst der Route über Niger und Libyen nach Italien. Aber aufgrund des harten Durchgreifens gegen die irreguläre Migration in Niger ist die ehemalige Route durch die Sahara nach Marokko und Spanien wieder attraktiv geworden. Vorläufigen Schätzungen für 2018 zufolge stammen 12 % der in Spanien registrierten Ankömmlinge – laut IOM 3.227 Personen – aus Mali. Das folgende Kapitel erläutert den sozioökono-mischen Kontext des Entstehens dieser Migra-tionsmuster sowie die Reaktion der malischen Regierung und die Art und Weise, wie das EU-Konzept diese Reaktion beeinflusst.
Migration: eine kurze Geschichte des Status-Quo
In Mali wie andernorts ist die Auswanderung das Ergebnis der einfachen Gleichung zwischen Arbeitskräfteüberschuss und Kapitalknappheit. In einem solchen Kontext, und hier vielleicht noch mehr als in anderen Teilen Westafrikas, war eigentlich der Staat Schlüsselfaktor für die Entwicklung. In den 1990er Jahren wurden seine Entwicklungskapazitäten unter Federführung der Bretton-Woods-Institutionen und des Konsenses von Washington jedoch zu Gunsten des freien Marktes abgebaut. Nicht zufälligerweise setzten zur damaligen Zeit die irregulären Migrationsströme nach Europa auf Dauer ein.
Der Arbeitskräfteüberschuss in Mali war die Folge des Bevölkerungswachstums. Die Bevölkerungszahl – rund 18 Millionen im Jahr 2018 – ist zwar vergleichsweise gering, hat aber gegenüber den vergangenen Jahrhunderten stark zugenommen. Zur damaligen Zeit führte der Arbeitskräftemangel zum Aufkommen der Sklaverei als eine wichtige Form (erzwungener) Arbeitermobilisierung, und das einzige praktikable Mittel zur Kapitalbildung war der Fernhandel. Der Kolonialismus war tatsächlich eher ein System zur Kapitalentziehung als zur Kapitalbildung und schuf insbesondere keinerlei Grundlagen für die heimische Industrialisierung. Die politische Ökonomie in Mali war von Anbeginn an – seit den 1960er Jahren – von der Prädominanz des nicht produktiven Kapitals (Händlerkapital) geprägt, obwohl dies mit der Produktion so genannter tropischer Produkte wie Erdnüsse und Baumwolle verbunden war. Diese Waren werden zu volatilen Preisen auf dem Weltmarkt gehandelt und waren naturgemäß fragile Stützen der wirtschaftlichen Entwicklung.
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Die Migration blieb daher für die Bevölkerungsmehrheit die einzige Ausflucht. Eine zu Beginn der neunziger Jahre erstellte Studie belegte eine gewisse Rückläufigkeit der Auswanderung gegen Ende der achtziger Jahre, allerdings vor dem Hintergrund, dass nahezu eine Million Malier als zirkuläre Migranten in Nachbarstaaten lebten. 1993 beispielsweise hielten sich 10,5 % der Gesamtbevölkerung Malis – sage und schreibe 735.000 Personen – in Côte d‘Ivoire auf. Dies verringerte um Einiges die Belastung der angeschlagenen Wirtschaftsstruktur Malis, und durch die Geldsendungen und (zumeist informellen oder kleinen) Investitionen der Diaspora erlangte das Land einen gewissen Wohlstand.
Die Wirtschaftskrise, die in den neunziger Jahren über einen großen Teil der Region hereinbrach, zerstörte diesen Gleichgewichtszustand jedoch innerhalb kurzer Zeit. Durch die Strukturanpassungsmaßnahmen sahen sich die Länder zur Aufgabe ihres Konzepts vom Staat als Aktivposten zur Entwicklung gezwungen. Sie mussten seine Kapazitäten – die als verschwenderisch eingesetzt und unwirtschaftlich galten – abbauen, um die Schulden zahlen zu können, die sie im Zuge ihrer früheren Bemühungen um die Finanzierung ihrer Entwicklung aufgenommen hatten. Angesichts der Bedeutung des Staates für die regionalen Wirtschaften endeten seine zügigen drastischen Sparmaßnahmen allenthalben – auch in Côte d‘Ivoire – in einer sozialen Krise.
Als größtes Aufnahmeland malischer Migrant_innen rutschte Côte d‘Ivoire schrittweise aus seiner sozialen in eine politi-sche Krise. 1993 kam der Tod des Präsidenten, der das Land seit Erlangung der Unabhängigkeit regiert und das ivorische Wirtschaftsmodell auf einwanderungsfreundlicher Grundlage entwickelt hatte, erschwerend hinzu. Die neuen Regenten schürten die Fremdenfeindlichkeit gegen Migrant_innen aus der Sahel-Zone, um Punkte zu sammeln für die aufkommenden politischen Konflikte, die Zehntausende drangsalierte Malier_innen veranlassten, das Land zu verlassen. Auch Menschen, die zunächst nicht abwandern mochten, sollten später zur Flucht gezwungen werden.
Anfang der 2000er Jahre brach in Côte d‘Ivoire ein regelrechter Bürger-krieg aus, und auch die wirtschaftliche Lage Malis begann, sich zu verschlechtern. Das Land litt unter einer Haushaltskrise und sah sich zu ungewollten strukturellen Anpassungsmaßnah-men gezwungen. Tausende von Arbeitsplätzen brachen weg, und die Verwaltungskapazitäten – auch in Sozialbereichen – wurden drastisch reduziert. Gerade erst 1992 hatte Mali die erste demokratische Verfassung seiner Geschichte verabschiedet, aber die Wucht der Wirtschaftsreformen löste eine Welle sozialer Proteste ge-gen das gerade erst angetretene Regime aus. Im April 1993 wurde die Nationalversammlung ebenso wie der Wohnsitz des neu gewählten Staatsoberhauptes in Brand gesetzt, und die Massen drohten mit einem Angriff auf die Botschaften der Geberländer, die als Unterstützer der Reformen galten.
Die Lage verschlimmerte sich zusätzlich, nachdem 1994 das französische Finanzministerium und die Westafrikanische Zentralbank den Wert der gemeinsamen Wäh-rungseinheit CFA-Franc auf die Hälfte reduzierten. Mali war der Währung etwa ein Jahrzehnt zuvor zum Preis von deutlichen Einschnitten in die Gehälter von Angestellten beigetreten. Plötzlich hatten sich ihre Einkommen praktisch in Luft aufgelöst.
Vor diesem Hintergrund begannen die Malier_innen, von ihrem wichtigsten traditionellen Zielland Côte d‘Ivoire abgeschnitten und in ihrer Heimat einer akuten sozialen und wirtschaftlichen Krise ausgesetzt, nach neuen Wegen zu suchen. Diese führten sie in andere Teile des afrikanischen Kontinents und nach Europa.
Der politische Dialog zwischen der EU und Mali: aufgeschlossener Staat, abweisende Zivilgesellschaft
Mali hat den Stellenwert der Migration längst (an)erkannt. Als einziges Land in Westafrika etablierte es 2004 ein Ministerium für seine Diasporagemeinschaft – Ministry of Maliens Abroad and African Integration (Ministerium für Auslandsmalier und die Integration von Afrikanern). In der Periode nach der poststrukturellen Anpassung galt Migration als Aktivposten für die Entwicklung, wenn auch ohne ordentliche Umsetzungsstruktur.
2018 belegte Mali nach Angaben der Weltbank mit Blick auf Geldüberweisungen aus dem Ausland in Höhe von rund einer Billiarde USD nach offiziellen Zahlen zwar Rang zehn unter den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, es hatte aber bis 2015 keine eigene Migrationspolitik betrieben. Ebenso wie Nigeria hatte es sich auf weitgehend ver-altete Einwanderungsgesetze, regionale Inte-grationsabkommen (ECOWAS und WAEMU), den migrationspolitischen Rahmen der AU und internationale Konventionen als allgemein ver-folgte Politik verlassen. Das Ministerium der Auslandsmalier_innen – zu dessen Zuständigkeitsbereich auch die „Integration von Afrikanern“ zählt – bot der malischen Diaspora im Namen des Staates eine Vereinbarung an. Es erwartet von der Diaspora, dass sie an der nationalen Entwicklungspolitik mitwirkt, und offeriert im Gegenzug eine Reihe von Leistungen. Während einige dieser Dienstleistungen darauf abzielen, die Diaspora darin zu unterstützen, weiterhin am Leben des Landes und seiner Entwicklung beteiligt zu bleiben, sollen andere Dienstleistungen Migrant_innen bei ihren Projekten sowie im Falle ihres Scheiterns unterstützen. Somit würde das Ministerium ihnen beispielsweise bei der Rekrutierung malischer Arbeitskräfte für Arbeitermigrationsprogramme unter die Arme greifen, würde daneben aber auch humanitäre Hilfe für gestrandete Migrant_innen oder für Wiedereingliederungsmaßnahmen für Migranten aus gefährdeten Ländern leisten.
Einige dieser Zusagen hat das Ministerium erfüllt. Erst kürzlich entstand in Bamako ein großes Gebäude für die vorübergehende Unterbringung von Rückkehrer_innen, das aber gleichzeitig Sitz des Hohen Rates der im Ausland lebenden Malier ist. Dieses Organ von Interessengruppen hat sich 1991 etabliert, ist in 62 Ländern der Welt vertreten und hat erhebliches finanzielles Gewicht und ausschlaggebende Bedeutung für die Wahlen. Andererseits hat insbesondere die aus der Kayes-Region stammende Diaspora umfangreiche Investitionen in die Entwicklung der Region getätigt, indem sie Schulen, Krankenhäuser – auch Moscheen – gebaut und Kapital für produktive Aktivitäten bereitgestellt hat. Das Ministerium bietet institutionelle Unterstützung, was unter anderem den beachtlichen Erfolg dieser Vorhaben erklärt. Damit die malische Diaspora jedoch zu einer echten Stütze für die Entwicklung wird, bleibt noch Einiges zu tun, wie die diesbezüglichen Errungenschaften von Ländern wie Israel und Indien zeigen.
Jedenfalls mussten die Malier_innen, für die Migration ein Aktivposten für die Entwicklung war, irgendwann Kenntnis von der Sichtweise der Europäer nehmen, die in der afrikani-schen Migration ein Problem sahen. Im Sinne des Rabat-Prozesses wurden Bemühungen unternommen, diese Unterschiedlichkeit in eine Art von Synergie zu verwandeln. 2008 stellte die EU-Kommission zehn Millionen Euro aus dem 9. Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) für die Einrichtung eines Informations- und Managementzentrums für Migration (Centre d‘Information et de Gestion des Migrations – CIGEM) bereit. Diese Pilotorganisation sollte Daten sammeln und auswanderungswilligen Migrant_innen, Rückkehrer_innen sowie im Ausland lebenden Malier_innen beratend und unterstützend zur Seite stehen und sich generell für die Förderung legaler Migration und die Verhinderung illegaler Migration engagieren. Die EU-Finanzhilfe war als Startkapital für eine Einrichtung vorgesehen, die eine malische Ins-titution unter dem Dach des Ministeriums für Auslandsmalier werden und den Weg für die Entwicklung einer nationalen Migrationspolitik bereiten sollte.
Darüber hinaus sollte das CIGEM Pionierprojekt für vergleichbare Institutionen in anderen ECOWAS-Mitgliedstaaten werden. Mali war nach Auffassung der EU-Kommission angesichts der „Entwicklung der Beziehungen zwischen Mali und der EU durch das Cotonou-Abkommen, den Dialog im Rahmen des französisch-malischen Ausschusses und die handfesten Erfahrungen in Fragen der gemeinsamen Entwicklung“ (Zitat aus dem operativen Vermerk des CIGEM) idealer Ausgangspunkt für das Experiment. Obwohl als unabhängiges Organ konzipiert, erhielt das CIGEM von der EU eine auf drei Jahre angelegte Finanzierung in Höhe von zehn Millionen Euro – ein um das Sechsfache höherer Betrag als das Jahresbudget des Ministeriums für Auslandsmalier – und [war] somit gegenüber der EU rechenschaftspflichtig. Seine Hauptaufgabe bestand eher in der Eindämmung irregulärer Migration als in der Unterstützung entwicklungsfördernder Migrationsmaßnahmen.
Während die Vorstellung von Migration als Stütze der Entwicklung die Etablierung institutioneller und regulatorischer Mechanismen anregen sollte, die die Malier in der Diaspora in die Lage versetzen würden, in Zusammenarbeit mit den Gastländern auf produktive Weise in die Wirtschaft ihres Landes zu investieren, sah das CIGEM seine Aufgabe darin, potenzielle Migrant_innen vom Aufbruch nach Europa abzuhalten. Insbesondere hat sie sie über die Gefahren der Migration aufgeklärt und ihnen Unterstützung für die Arbeitssuche oder Erwerbstätigkeit in Mali angeboten. Im malischen Kontext hat sich diese Idee als unrealistisch erwiesen – es gibt im Lande kaum Arbeitsplätze, kaum Kredite für die Finanzierung von Unternehmen, und das institutionelle Umfeld des Landes verfügt weder über den hohen technischen Entwicklungsstand noch über nötige Ressourcen, um die Aktionen des CIGEM weiterzugeben. Nach dem Versiegen der Finanzhilfen aus Europa hat das Zentrum den größten Teil seines Personals eingebüßt. Es soll als neue Abteilung im Ministerium für Auslandsmalier angesiedelt werden, und wird dessen ohnehin überlasteten Haushalt mit neuen finanziellen Verpflichtungen belasten.
Das CIGEM diente als institutionelle Grundlage für die Umsetzung mindestens einer proaktiven europäischen Politikmaßnahme. 2007, ein Jahr vor ihrer Gründung, hatte Spanien auf der Grundlage der Prinzipien des Rabat-Prozesses wie gleichberechtigte Partnerschaft und Verbindung von Migration und Entwicklung ein Abkommen mit Mali unterzeichnet. Darin wurde hervorgehoben, dass Mali und Spanien auf der Grundlage der Analyse der gegenseitigen Ergänzung ihrer Arbeitsmärkte die rechtmäßige Beschäftigung ihrer Staatsangehörigen im Lande des jeweils anderen Partners fördern würden. Spanien wurde zugestanden, Mali ein Gastarbeiterprogramm vorzuschlagen, und das Programm wurde von CIGEM umgesetzt. Es waren darin jedoch Klauseln enthalten, nach denen Spanien in Zusammenarbeit mit der malischen Regierung malische Migranten ausweisen durfte. Letztendlich erwies es sich in Mali als unpopulär, da das Gastarbeiterprogramm rasch ins Stocken geriet, während Spanien in den Jahren nach seiner Unterzeichnung das Recht hatte, eine gegenüber Frankreich und Italien wesentlich größere Anzahl malischer Migrant_innen auszuweisen.
Einige in Mali bekannt gewordene Interviews legten die Vermutung nahe, dass Vorgänge dieser Art die malische Zivilgesellschaft auf etwas aufmerksam machten, was diese als Täuschung durch die Europäer und übermäßigen Eifer der malischen Regierungen auslegte, mit ihren zahlungskräftigen europäischen Kollegen zusammenzuarbeiten. Malische Beamte wandten damals dagegen ein, dass Spanien nicht betrügerisch gehandelt hätte, seine Zusagen vielmehr infolge der europäischen Wirtschaftskrise nach 2008 hätte brechen müssen, die Spanien stärker betroffen hatte als die Länder nördlich der Pyrenäen. Der Streit, der daraufhin ausbrach, verdeutlicht jedoch, dass in Mali – im Gegensatz z.B. zu Niger – ein leistungsfähiges Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen und Aktivisten existiert, das Migration und Migrant_innen unterstützt. Dazu gehören auch Befürworter wie die polemisch als Associ-ation Malienne des Expulsés (AME – Selbsthilfegruppe der ausgewiesenen Malier) bezeichnete Gruppe sowie einflussreiche öffentliche Stimmen wie die der ehemaligen Ministerin und der afrikanisch-nationalistischen Intellektuellen Aminata Dramane Traoré.
Es wird dadurch auch deutlich, dass, während die malische Regierung zu einer Kooperation mit der EU in Bezug auf deren Auffassungen und Ansprüche bereit ist, es den zivilgesellschaftlichen Gruppen gelingt, die eigenen Auffassungen und Ansprüche Malis in aller Öffentlichkeit zu vertreten. So zwang ein öffentlicher Aufschrei 2016 die malische Regierung, die Einreise von zwei Migrant_in-nen zu verweigern, die mit dem europäischen Passierschein Laissez-passer (ohne malischen Pass) aus Frankreich abgeschoben worden waren. Der Zwischenfall macht deutlich, wie heikel das Thema „Rückkehr und Rückübernahme“ in Mali ist, was die Regierung zur Zurückhaltung veranlasst.
Schließlich verabschiedete Mali 2014 etwa zeitgleich mit Nigeria seine Nationale Migrationspolitik (Politique Nationale de Migration – PONAM). Ebenso wie das nigerianische Dokument zielt die PONAM darauf ab, die zuversichtliche Einstellung des Landes zu Migration mit den europäischen Bedenken in Einklang zu bringen. Um diese unwahrscheinlich anmutende Synergie zu schaffen, soll Mali die Auswanderung im Rahmen internationaler Normen steuern und sich parallel dazu mittels Entwicklungsmaßnahmen mit deren eigentlichen Ursachen befassen.
Diese Formulierung spiegelt den Tenor des Rabat-Prozesses wider, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, wie er interpretiert und umgesetzt wird. Diesbezüglich sind zwei europäische Initiativen besonders zu beachten.
Zum einen stellte die EU ausgehend von einem früheren in Spanien unternommenen Experiment zur Steuerung irregulärer Migration durch die Bekämpfung des so genannten Menschenhandels in der Sahel-Zone 41,6 Millionen Euro für ein länderübergreifendes Projekt zur Ausbildung von Gendarmerie-Einheiten im gesam-ten Sahel bereit. An dem Projekt „Schnelle Eingreiftruppen“ bzw. GARSI (Groupes d‘Action Rapides – Surveillance et Intervention) beteiligen sich Mitglieder der Regionalorganisation G5 Sahel (Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger) sowie Senegal. Vorgesehen ist die Umsetzung eines der Ziele des Gemeinsamen Aktionsplans von Valletta, der „Verhinderung und Bekämpfung der irregulären Migration, der Schleusung von Migranten und des Menschen-handels“. Mali hat seine GARSI-Einheit 2017 ins Leben gerufen. Zum anderen hat der Nothilfe-Treuhandfonds der EU in puncto „Entwicklung“ im selben Jahr an die niederländische Entwicklungsorganisation SNV 20 Millionen Euro für die Planung und Umsetzung von Projekten vergeben, die darauf abzielen, in Regionen mit höchster Abwanderung – wie Bamako, Gao, Kayes und Koulikoro – wirtschaftliche Chancen und Arbeitsplätze zu schaffen.
In der alles entscheidenden Frage der Rückkehr und Wiederaufnahme hält sich Mali je-doch weiterhin zurück. Seine Zivilgesellschaft misstraut der europäischen Politik und hat die Migrationskonzepte Europas heftig kritisiert. Sie wirft ihnen vor, strukturelle Ursachen würden verharmlost und Migration damit auf gewissermaßen willkürliche Weise mit Kriminalität gleichgesetzt; die nachteiligen Auswirkungen restriktiver europäischer Politik auf potenzielle Vorteile von Migration würden schlicht und einfach ignoriert, die regionalen Abkommen zu Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht verletzt und Spannungen zwischen den ECOWAS-Mitgliedstaaten geschürt. Diese Beschwerden sind in einer von AME im April 2018 veröffentlichten Studie zusammengefasst.[1]