Marokko

Veröffentlicht Mai 26th, 2025 - von: Autor*innen-Gruppe

Einleitung

Marokko, ein Land mit reicher Geschichte und vielfältigen Kulturen, steht heute vor zahlreichen Herausforderungen, die tief in seine Wirtschaft, Sozialstruktur und politische Landschaft eingreifen. Aufgrund seiner geografischen Lage an der Grenze zweier Kontinente, wie auch an den zwei Küstengrenzen am Mittelmeer und an der Atlantikküste, spielt Marokko eine wichtige Rolle in der Externalisierungspolitik der EU, insbesondere durch die Kontrolle der Straße von Gibraltar und der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla.

Marokko unterhält seit Jahrzehnten enge Beziehungen zu Europa, in denen die Fragen der Regulierung der Migrationsbewegungen ein prekäres Kernstück darstellt. Die Prekarität liegt vor allem in den menschenrechtswidrigen Praktiken und den Deals, die in einer Komplizenschaft von Marokko mit der EU begangen werden. Wegen seiner geografischen Lage nimmt Marokko eine Schlüsselrolle hinsichtlich Migrationsbewegungen auf dem Afrikanischen Kontinent sowie zwischen Europa und Afrika ein. Das Land ist ein wichtiger Ausgangs- und Transitpunkt für Menschen aus verschiedenen Afrikanischen Ländern, die das Meer nach Europa überqueren wollen. Dies führt zu einer Politik der immer stärkeren Überwachung und Kontrolle der Grenzen in Zusammenarbeit mit der EU. Zugleich versucht Marokko, von dieser Situation so gut es geht zu profitieren.

Marokko wurde im Jahr 1956 unabhängig. Aber nach wie vor bestehen beträchtliche soziale und wirtschaftliche Probleme und politische Missstände, die zum großen Teil auf die Zeit der Kolonisierung zurückzuführen sind.[1] Diese Probleme werden durch die undemokratischen Praktiken des Regimes und die politische Repression weiter vertieft. Die marokkanische Monarchie (Makhzen) regiert das Land nahezu uneingeschränkt, während lokale demokratische Kräfte und Menschenrechtsorganisationen (diejenigen eingeschlossen, die im Bereich der Migrationspolitik aktiv sind) immer wieder vor erheblichen Herausforderungen stehen.

Map utexas edu

(C) Karte: utexas.edu

1. Ökonomie, Sozialstruktur, Emigration

1.1 Geographie

Marokko erstreckt sich über eine Fläche von 446.550 km². Wenn man das Gebiet der Westsahara hinzufügt, das 1975 nach dem Rückzug Spaniens zu großen Teilen durch Marokko annektiert wurde,[2] beträgt die Gesamtfläche 712.550 km². In Marokko lebten 2024 etwa 38. Millionen Menschen (ohne die 600.000 Bewohner:innen der Westsahara). Zwei Drittel der Bevölkerung sind im Nordwesten und Westen des Landes ansässig; etwa 60 % der Einwohner leben in Städten. Mehr als 2/3 der Bevölkerung sind Amazigh, von denen die Mehrheit arabisiert worden ist.

Das Land ist durch die Straße von Gibraltar vom europäischen Kontinent getrennt. Es grenzt im Norden an das Mittelmeer und im Westen an den Atlantischen Ozean. Die Grenzen zu den am Mittelmeer gelegenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla haben eine Gesamtlänge von etwa 16 km. Dieser Abschnitt der EU-Außengrenze steht für ein ein massives soziales Gefälle: Das Pro-Kopf-Einkommen nördlich der Grenze ist zehnmal höher als auf der südlichen Seite.

Im Osten teilt Marokko eine gut 1400 km lange Grenze mit Algerien. Die Grenzübergänge auf diesem Abschnitt sind seit 1994 formell geschlossen. Die Grenzlinie ist auf marokkanischer Seite mit Gräben und Aufschüttungen, auf algerischer Seite streckenweise mit einem elektronisch überwachten Grenzzaun gesichert. Über diese Grenze führen zahlreiche Schmuggel- und Transitwege. Seit Anfang 2022 ist die Grenze als militärische Sicherheitszone noch stärker gesichert. Die Preise für eine Schleusung über die Grenze bei Oujda, die von den meisten Migrant:innen benutzt wird, wenn sie ihr Glück in Algerien, Tunesien oder Libyen versuchen wollen, haben sich vervielfacht.

Bis heute werden Massenvertreibungen von Marokkaner:innen aus Westalgerien und Algerier:innen aus Ostmarokko, die in den ersten drei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit stattfanden, von den Regierungen für gegenseitige Schuldzuschreibungen und Feindseligkeiten aufgewärmt. Die Grenzschließung wird auch mit dem Konflikt um die Westsahara und seit den 1990er Jahren mit dem Kampf gegen den grenzüberschreitenden dschihadistischen Terrorismus gerechtfertigt.

Die Südgrenze zu der zu 80% annektierten Westsahara erstreckt sich über 443 km. Das von Marokko besetzte Westsahara ist mit zahlreichen militärischen Kontrollpunkten befestigt. Von Nord nach Süd hat Marokko entlang der Westsahara einen 2.400 km langen, verminten Sandwall errichtet. Entlang dieses Walls sind UN-Blauhelme als Beobachter (MINURSO) stationiert.

Die Grenze zwischen der besetzten Westsahara und Mauretanien ist durch einen stark bewachten Kontrollpunkt passierbar. Ein neuer Grenzübergang wurde durch Mauretanien und Marokko angekündigt. Die hier vorgesehene Verbindungsstraße steht offenbar kurz vor der Fertigstellung. Die Umsetzung dieses Vorhabens durch beide Staaten dürfte zu Spannungen zwischen dem Nachbarstaat Mauretanien und der Polisario führen.

Weitere Informationen zur Beschaffenheit der Grenzräume finden sich im Kapitel 4.1.2 (Grenzräume zu Algerien) und 4.2.2 (Grenzräume zu Ceuta und Melilla)

1.2 Wirtschaft und sozio-ökonomische Aspekte

In Marokko klaffen die Entwicklungsunterschiede zwischen den wirtschaftlich aufstrebenden Regionen wie Tanger, Rabat, Casablanca, El Jadida und Marrakesch und den ländlichen, abgelegenen Gebieten wie den Antiatlasgebirgen oder der Riffregion immer weiter auseinander. Zwar hat sich die absolute Armut (nach Kriterien der UN) zwischen 2001 und 2014 verringert, jedoch bestehen die Unterschiede zwischen Stadt und Land und die Einkommensunterschiede zwischen Oben und Unten nach wie vor. Die Jahre 2014 – 19 sahen leichte Einkommenszuwächse bei den Armen, die jedoch in der Covid-Zeit wieder auf das Niveau von 2014 zurückfielen. Das Wachstum der formellen Wirtschaft hat den Anteil schlecht bezahlter, informeller Arbeitsverhältnisse kaum verändert. Die Hälfte der Marokkaner:innen ist „self-employed“ und nur ein Drittel der Arbeiter:innen hat einen Job mit Arbeitsvertrag. Seit 2012 gibt es ein steuerfinanziertes Rentensystem, jedoch sind die Renten sehr niedrig. Die Eindrücke aus dem „Land der Kontraste“ , die Quantara im Jahr 2014 veröffentlicht hat, sind nach wie vor aktuell.

Pelikan

Die Armut erscheint den Tourist:innen nicht selten idyllisch. (C) T.S.

Ländliche Armut

In einigen ländlichen Regionen, vor allem in der Gharb-Ebene, prägen Großanwesen und Bauernhöfe die Landschaft und es gibt einen gewissen Lebensstandard. Aber diese Regionen stehen in starkem Kontrast zu der überwiegenden Armut und Strukturschwäche im Großteil des ländlichen Marokkos. Diese strukturelle Armut, die sich beispielsweise im unzureichenden Ausbau wichtiger Zugangswege und -straßen spiegelt, wirkte sich für die Opfer des Erdbebens 2023 fatal aus, denn Bergungs- und Rettungsfahrzeuge hatten so einen erschwerten Zugang zu den betroffenen Gebieten.

Zu den Peripherien Marokkos gehören insbesondere das Rif-Gebirge und die Westsahara, aber auch die Atlas-Region, in der 2023 das große Erdbeben stattfand. Diese Regionen werden von der Zentralregierung politisch, sozial und wirtschaftlich stark benachteiligt und es herrschen weit verbreitete Armut, chronische Arbeitslosigkeit und ein Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und Infrastrukturen. Diese Probleme werden durch die fortgesetzte Unterdrückung politischer Rechte und die Missachtung kultureller Identitäten noch verschärft.

Zwar hat die Bildungsexpansion in den letzten 20 Jahren eine gebildete junge Generation hervorgebracht. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen mit Hochschulabschluss hoch. Die offizielle Arbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren angestiegen und beträgt in einigen Regionen 30%. Ohnehin erreichen nur 15% der Schüler:innen das Abitur. Die Mehrheit der Nicht-Diplomierten arbeitet im informellen Sektor – in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor, hat keine Aufstiegschancen und keine Sozialversicherung. Zwei Drittel aller Jobs in Marokko und nahezu alle Jobs in der Landwirtschaft sind informell. Gut 40% der marokkanichen Bevölkerung sind von der Landwirtschaft abhängig und erwirtschaften hier 17% des BIP. Semi-feudale Sozialstrukturen und Korruption sind weit verbreitet. Der Anbau und Export von Cannabis wurde 2021 teilweise legalisiert, etwa 1 Millionen Menschen sind wirtschaftlich davon abhängig.

Das Rif-Gebirge bildet einen Mikrokosmos struktureller Ungleichheit in Marokko. Seit Jahrzehnten kämpfen die lokalen Gemeinschaften in diesen Regionen mit mangelnden Bildungschancen, unzureichender Gesundheitsversorgung und hoher Arbeitslosigkeit. Die einst dominierende kleinteilige Landwirtschaft mit Subsistenzanbau hat, abgesehen vom Anbau des Haschisch, an Bedeutung verloren.

Noch schlechter als der Bevölkerung in der Rif-Region ergeht es den Sahauris in der Westsahara, einer seit Jahrzehnten umstrittenen Region mit ungeklärtem politischem Status. Der größte Teil der Westsahara steht seit dem Rückzug der spanischen Kolonialmacht 1975 unter marokkanischer Kontrolle. Nur noch 105.000 ursprüngliche Bewohner:innen stehen dort 180.000 Militärs gegenüber. Viele Familien im Kernland von Marokko haben Angehörige, die aufgrund von Soldzuschlägen und Prämien nach Westsahara umgesiedelt sind. Der langwierige Konflikt um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung[3] hat zu einer anhaltenden sozialen Spaltung in dieser rohstoffreichen, sozial jedoch stark benachteiligten Region geführt.

Während die Besiedlung der Westsahara und vor allem die Auslagerung des Militärs aus dem Kernland das königliche Machtzentrum stabilisiert hat, trägt die fortwährende Marginalisierung und Unterdrückung der Randgebiete nicht nur zur Verschärfung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten innerhalb Marokkos bei, sondern bedroht auch die Stabilität des gesamten Landes. Die Unzufriedenheit und Frustrationen der lokalen Bevölkerung führen regelmäßig zu sozialen Unruhen und Aufständen. Die vom königlichen Regime aktiv geführte Vernachlässigung politischer Rechte dieser Regionen bleibt ein grundlegendes Hindernis für die Demokratisierung des Landes. Es ist fraglich, ob die vom Makhzen angekündigten Erdbebenhilfen daran etwas ändern werden.

Städtische Entwicklung

In den urbanen Zentren treffen wohlhabende und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen krass aufeinander. Der Mietenmarkt ist nicht reguliert. Die Wohnungen sind oft überbelegt, weil viele jüngere Menschen ohne Einkommen in den Haushalten ihrer Eltern schlafen. Ähnlich wohnen die Schwarzen Migrant:innen oft zu mehreren in einem Zimmer. Die Bidonvilles waren wiederholt Ausgangsort von Protesten, aber von auch dschihadistischen Anschlägen (Casablanca 2003). Schon seit 1981 gab es immer wieder Pläne, die Bidonvilles abzureißen; 2024 wurde ein neues Fünfjahresprogramm „Städte ohne Slums“ aufgelegt. Allerdings wird mit diesen Programmen nicht nur preiswerter Wohnraum abgerissen, der auch vielen Migrant:innen als Unterkunft diennt, sondern zugleich die nachbarschaftliche Lebensweise der städtischen Unterschichten angegriffen. In diesem Jahr, 2025, kam es in Rabat und Casablanca zu Protesten gegen den Abriss alter Stadtviertel, wobei der König, der sich gern als König der Armen präsentiert, persönlich verantwortlich gemacht wurde.

Ibnformal Neighbourhood

Wirtschaftliche Entwicklung

Wichtige klassische Wirtschaftssektoren sind der Export von Phosphat, landwirtschaftlichen Produkten und Fisch, wobei die königliche Familie großen Einfluss auf die wesentlichen Unternehmen dieser Sektoren hat (z.B. königliches Monopol des Office Chérifien des Phosphates). Der König ist einer der reichsten Männer Afrikas.

Die marokkanische Wirtschaft besteht überwiegend aus kleinen Unternehmen: 97,3% der Betriebe beschäftigen weniger als zehn Personen und tragen damit 54,2% zur Gesamtbeschäftigung bei. Allerdings hat letzten 10 Jahren in einigen Zentren, über den klassischen Industriestandort Casablanca (bzw. Aïn Sebaâ) hinaus, eine moderne industrielle Entwicklung eingesetzt. In der prosperierenden Region Tanger wurde 2007 der Hafen Tanger Med eröffnet, in dessen Nähe ausgedehnte industrielle Anlagen errichtet wurden, einschließlich der größten Automobilfabrik Afrikas, Renault TangerMed. In der „Tanger Tech City“ sollen mehr als 200 chinesische Firmen ansiedelt werden. Südlich von Casablanca, in der Nähe des Tiefseehafens von El Jadida, befindet sich die Region des Phosphatabbaus und der Düngemittelindustrie. Hier sollen derzeit eine Industrie für Grundstoffe der Batterieproduktion und eine „Gigafactory“ für Batterien entstehen. Zu erwähnen ist auch die wachsende Zahl von Call-Zentren für den französischsprachigen Raum. Großprojekte wie der Ausbau eines Bahnnetzes für Hochgeschwindigkeitszüge oder die Hafenanlagen "Tanger Med" werden mit Krediten überwiegend aus Frankreich und den Golfstaaten finanziert. Aber auch die chinesische Road and Belt-Initiative hat zu Milliardeninvestitionen geführt. China versucht, die Tatsache zu nutzen, dass Marokko privilegierte Handelsabkommen sowohl mit der EU wie auch mit den USA ausgehandelt hat.

All diese Leuchtturmprojekte haben aber nur geringe Auswirkungen auf die „Ordinary People“ in den Armutsvierteln der Städte oder gar auf dem Land.

1.3 Marokko als Land der Emigration

3 bis 4 Millionen Marokkaner:innen leben in der Emigration. Das sind bis zu 12 Prozent der Gesamtbevölkerung.[4] 84% dieser Emigrant:innen leben in der EU. Das Herkunftsland Marokko stellt seit den 1990er Jahren – noch vor der Türkei – die meisten Einwander:innen in der EU, mit stark steigender Tendenz im Vergleich zur algerischen und tunesischen Emigration.

In den 1960er und frühen 70er Jahren gab es offizielle bilaterale Anwerbeverträge für Arbeitskräfte zwischen Marokko und mehreren Staaten Westeuropas. Nach dem Anwerbestopp 1973 blieben das Nadelöhr der Familienzusammenführung, die Heirat oder ein Leben in Europa ohne Papiere, unter der ständigen Bedrohung durch Abschiebungen. Dies gelang nur in den Städten mit großen migrantischen Communities.

Im Jahr 1992 führte Spanien unter dem Druck der EU die Visumspflicht für Marokkaner:innen ein und zwang die Menschen zur klandestinen Überfahrt auf kleinen Booten. Im Sommer dieses Jahres überquerten etwa 30.000 Menschen die Straße von Gibraltar, die in der Folgezeit zum größten Massengrab Nachkriegseuropas wurde. Migrant:innen- und Menschenrechtsorganisationen in Spanien brachten den massenhaften Tod vor Gibraltar an die Öffentlichkeit: Zwischen 1991 und 1996 sind wahrscheinlich allein in der Meerenge von Gibraltar zwischen 2.000 und 4.000 Menschen ums Leben gekommen.[5]

Für Marokkaner:innen gilt in der EU Visumspflicht, für Europäer:innen in Marokko hingegen nicht. Viele Rentner:innen aus Frankreich und Spanien verbringen ihren Lebensabend in der Sonne Marokkos. Spanien stellt Visa für marokkanische Saisonarbeiterinnen aus, ausschließlich für verheiratete Frauen. Reise- und Aufenthaltsmöglichkeiten in der MENA-Region sind für Marokkaner:innen im Alter von 18 bis 40 Jahren, insbesondere für unbegleitete Frauen, in den letzten Jahren enorm erschwert, wenn nicht verunmöglicht worden. Der Wunsch nach Emigration ist allerdings ungebrochen hoch:

Eines haben die drei Länder Algerien, Marokko, Tunesien gemeinsam: Die Menschen, vor allem die Jugendlichen wollen nur noch weg.

In vielen Familien haben sich transnationale Netzwerke zur Ermöglichung der Migration entwickelt, wie beispielsweise der Handel mit Arbeitsverträgen, gemeinsame Investitionen in den Reiseaufwand eines „Wirtschaftsmärtyrers“ oder Familienzusammenführung durch Heirat einer bereits in Europa lebenden Person.[6] Der Staat hat die Emigration von Anfang an gefördert, vor allem, weil die Remissen einen wesentlichen Teil der Einkommen für die Armutsbevölkerung darstellen. Die Höhe der Remissen beträgt zur Zeit jährlich etwa 10 Milliarden Euro. Diese Rücküberweisungen sind eine der wichtigsten Devisenquellen Marokkos und übertreffen in ihrer Bedeutung sowohl die Einnahmen aus dem Tourismus als auch die ausländischen Direktinvestitionen.

2. Monarchie, Religion und Sozialkontrolle

Die marokkanische Monarchie wird seit 1999 von König Mohammed VI. angeführt und bildet das Zentrum der politischen Machtstrukturen des Landes. Nach der Arabischen Revolution, 2011, gab es einige Reformen, aber die Monarchie ist weiterhin der entscheidende Akteur, der politische, ökonomische als auch religiöse Autorität ausübt. Der sunnitische Islam ist Staatsreligion und verleiht dem Königshaus Erhabenheit und Legitimität: Der König ist in seiner Person die oberste staatliche und religiöse Autorität. Die Alawidendynastie herrscht seit Jahrhunderten und leitet ihre Herrschaft direkt aus einer Verwandtschaft mit dem Propheten ab.

Diese enge Verflechtung von Monarchie und Religion führt häufig zur Unterdrückung alternativer politischer oder sozialer Diskurse. Religion wird als Instrument genutzt, um Dissidenten zu unterdrücken und bestehende Machtstrukturen zu festigen. Unter dem Schild der Stabilität und des Zusammenhalts hat das Regime eine ausgefeilte Strategie der sozialen Kontrolle und Überwachung entwickelt, die stark auf religiöse Institutionen und Traditionen zurückgreift.

Politische Verhaftungen und Verurteilungen erfolgen oftmals nicht unter Anklage der politischen Inhalte, sondern mithilfe sittenpolizeilicher Konstrukte, und werden mit entsprechenden Schmutzkampagnen der Massenmedien begleitet. Stadt und Land werden mithilfe einer nachbarschaftlichen Sozialkontrolle polizeilich überwacht. Die informelle Sittenpolizei konterkariert im Alltag den Multikulturalismus, wie auch die formelle Aufwertung von Frauenrechten sowie gender-bezogene und religiöse Freiheiten.

Neben dieser Mikro-Kontrolle gibt es eine ausgebaute elektronische und digitale Überwachung der Aktivitäten und Meinungsfreiheit in den Social Media. Kritische Kommentare auf Facebook oder politische Inhalte auf YouTube können im Fall missliebiger Journalist:innen oder Rapper:innen zu Verhaftung und Verurteilung führen.

Die politischen Eliten in Marokko sind von Loyalität und Treue zum Thron geprägt. Im Inneren des Machtapparats stellen sie eine mächtige Allianz für die Verteidigung der politischen Hegemonie des Königreichs dar; dies bedeutet gegenseitigen Schutz, Berücksichtigung von politischen Interessen und Zugang zu ökonomischen Privilegien. Das Netzwerk der Eliten wird durch den König immer wieder verändert und erneuert, um diese unter Kontrolle zu halten. Neue Figuren, manche auch aus peripheren Regionen, werden in das Netzwerk integriert und alte werden ersetzt, sei es durch Zwang, Bestechung oder politische Privilegien. Gemäß der Verfassung von 2011 ist der König das wichtigste Glied des exekutiven Machtapparats. Obwohl die Verfassungsreform von 2011 die Position des Premierministers gestärkt hat, setzt sie dem Regime des Makhzem keine klar umrissenen Grenzen. Weder die Person des Königs noch die Institution des Throns dürfen direkt und öffentlich in Frage gestellt oder kritisiert werden. Alle Forderungen des Königs müssen vorbehaltlos erfüllt werden. Allerdings gibt es Gerüchte über eine Erkrankung des Königs, die das gegenwärtige Machtgefüge in Frage stellen könnte.

Im Rahmen der Annektierung der Westsahara 1975 konnte der Makhzen das Militär als konkurrierenden Machtfaktor aus dem Kernstaat in den subventionierten westsaharischen Süden verlegen – zuvor hatten 1971 und 1972 zwei Militärputschversuche stattgefunden. Damit wurde das Militär als Machtfaktor ausgeschaltet. Zwischen 2003 und 2014 wurden die Militärausgaben erheblich gesteigert, ohne dass politische Ambitionen seitens des Militärs erkennbar wurden.

3. Protestbewegungen und Repression

Seit Jahren gehen die Menschen auf dem Rif und im übrigen Marokko auf die Straße. Sie fordern ein Ende der Demütigung, “Hogra”, durch Polizei und Staatsbeamte, sowie Investitionen in öffentliche Dienstleistungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das war in Tunesien 2011 nicht anders, aber in Marokko hatte der sogenannte “Arabische Frühling” nicht die gleiche Intensität wie dort oder in Syrien, Ägypten oder Libyen. Dennoch ist es unzutreffend, von einem "marokkanischen Sonderfall" zu sprechen. Tatsächlich waren die Proteste seit 2011 auch in Marokko prägnant und allgegenwärtig. Sie zeigten einen deutlichen Willen zum politischen Wandel, angetrieben hauptsächlich von der marokkanischen Jungend und der städtischen Bevölkerung. Diese Bewegungen deckten die veralteten, ineffizienten und reaktionären Strukturen der politischen Führung des Landes auf und stellten einen Wendepunkt in der politischen Öffentlichkeit dar, indem sie erstmals auch die Monarchie selbst in Frage stellten – ein Thema, das zuvor als unantastbar galt. Die Beweggründe für Proteste in der Bevölkerung während des Arabischen Frühlings waren in den jeweiligen Ländern zwar ähnlich, jedoch strebte die Bewegung in Marokko nicht nach einem radikalen Umsturz des Regimes, sondern forderte staatliche Reformen mit Blick auf die Verfassung, den Arbeitsmarkt, im Bereichen Bildung und Armut sowie gegen die Marginalisierung der Jugend.

Die Bewegung 20. Februar

Die Bewegung „20. Februar 2011“ und die Proteste in der Rif-Region 2017 gegen soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung verdeutlichen den anhaltenden Widerstand von Teilen der marokkanischen Gesellschaft gegen das Regime. Dessen Reaktion war stets durch Unterdrückung und weitreichende Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gekennzeichnet. Friedliche Aktivist:Innen, Journalist:Innen und politische Gegner wurden eingeschüchtert, verhaftet und manchmal sogar gefoltert. Der repressive Umgang des Makhzen mit den Protestierenden hat sich dabei im öffentlichen Raum zunehmend verschärft und somit die Unzufriedenheit in der marokkanischen Bevölkerung weiter befeuert. Die eigentlichen sozio-ökonomischen Anliegen der Protestierenden und die tiefgreifenden Probleme in der politischen Führung des Landes wurden im offiziellen Diskurs weitestgehend ignoriert. Die Reformen waren lediglich eine taktische Antwort des Makhzen, um die öffentliche Meinung im Sinne des Regimes zu beeinflussen. Tatsächlich trugen sie dazu bei, die Lage zu beruhigen und die Proteste abzuschwächen, während es in anderen arabischen Nationen zur Eskalation kam.

20. Februar

Nächtliche Demo in Casablanca 2011: Anhänger der "Bewegung des 20.Februar" demonstrieren für die Freilassung von Mouad Belghouat alias el-Haket (der Empörte), eines unter Jugendlichen sehr populären inhaftierten Rappers. (C) T.S.

Im Verlaufe der Protestbewegung wurden einige Forderungen angepasst: Ursprünglich verlangten die Protestierenden Reformen, um in Marokko eine "parlamentarische Monarchie" zu verankern. Interne Differenzen innerhalb der Bewegung führten jedoch dazu, dass diese Forderung bezüglich der staatlichen Regierungsform zur Forderung einer "demokratischen Verfassung" modifiziert wurde, die den Willen des Volkes widerspiegeln sollte. Die Regierung handelte schnell und geschickt, um eine Radikalisierung der Forderungen oder eine Eskalation der Proteste zu vermeiden, indem sie formale Verfassungsreformen und eine scheinbare Gewaltenteilung zwischen Premierminister und König einführte. Die Aktivitäten der Menschenrechts- und Demokratiebewegungen wurden aus der öffentlichen Sphäre verdrängt und juristisch beschränkt.

Diese politische Strategie wirkt sich sowohl auf die Protestbewegungen als auch auf die Regierung aus. Die Regierung machte teils symbolische Konzessionen oder implementierte kleinere Reformen, um auf die Forderungen einzugehen. Oft nahmen Protestbewegungen die vorgeschlagenen Reformen an, um sich dem Staat gegenüber zu legitimieren, eine konstruktive Zusammenarbeit zu suggerieren und ihre Tätigkeiten fortführen zu können. Dieses Zusammenspiel erklärt das Ende der Proteste der 20. Februar-Bewegung im Jahr 2011 in Marokko. Obwohl die Protestbewegung eine bedeutende Herausforderung für das königliche Regime dargestellt hat und es zu einer Verfassungsreform bewegen konnte, konnte sie keinen langfristigen politischen und gesellschaftlichen Wandel anstoßen: Politische Debatten und Entscheidungsfindungsprozesse wurden nicht demokratisiert und finden nach wie vor in den exklusiven Gremien der politischen Eliten des Landes und unter Ausschluss der gesellschaftlichen Mehrheit statt.

Proteste in der Rif-Region

Im Herbst 2016 entflammten in der Rif-Region im Nordwesten Marokkos Protestwellen. Diese wurden ausgelöst durch den tragischen Tod des Fischverkäufers Mohsen Fikri, der, in einem Müllfahrzeug zermalmt, grausam zu Tode kam, als er versuchte, seine von der Polizei beschlagnahmte Ware zurückzuerlangen. In den darauffolgenden Monaten dehnte sich die Protestbewegung auf andere Teile des Landes aus. Bei den Anliegen der Demonstrierenden handelte es sich hauptsächlich um das Schaffen von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Infrastruktur der Region, ohne dass dabei das Regime direkt angefochten wurde. Die Proteste dauerten über Monate an und gewannen an Dynamik, nicht zuletzt als Reaktion auf die zunehmende Repression. Nach Jahren des Schweigens war die gesamte Bevölkerung der Region direkt oder indirekt an den Demonstrationen beteiligt. Frauen nahmen in diesen Protesten eine führende Rolle ein. Der Konflikt eskalierte, als die Regierung einen der Anführer der Bewegung, Nasser Zafzafi, zusammen mit anderen, verhaftete.

Es folgte eine Reihe von Gerichtsverfahren. 2018 wurden mehr als 100 Aktivist:innen zu Haftstrafen verurteilt. Einige der Verurteilten wurden später durch den König begnadigt, während Zafzafi und andere Führungspersonen ihre Strafen noch absitzen. Über Medien und die Moscheen verbreitet das Regime weiterhin die irreführende Propaganda, die Bewegung betreibe »Separatismus« und sei deswegen »gefährlich« – eine Lüge, die auch in der europäischen Diaspora zu hören ist. Nasser Zafzafi hat nie die Unabhängigkeit der Rif-Region gefordert.

Die anhaltenden Proteste der Berber-Bevölkerung in der Rif-Region markieren einen wichtigen Punkt politischer und sozialer Unzufriedenheit. Sie gelten als die bedeutendsten seit der 20. Februar-Bewegung von 2011. Trotz der Parallelen der zugrundeliegenden Missstände, wie Arbeitslosigkeit und Korruption in den staatlichen Organen, die sowohl die Riff-Proteste als auch die Bewegung vom 20. Februar ausgelöst haben, gibt es deutliche Unterschiede in der Struktur und den Methoden der beiden Bewegungen, vor allem hinsichtlich der regionalen Verankerung der Proteste im Riff.

Proteste in Zagora und Jerada

Diese Proteste waren, ein Jahr nach den Rif-Protesten, deren Fortsetzung in anderen peripheren, überwiegend von Berber-Bevölkerung bewohnten Kleinstädten. Bei den „Mainifestations de la soif“ in der Oasenstadt Zagora, im Süden jenseits des Atlasgebirges, demonstrierte die Bevölkerung im September 2017 gegen die nicht funktionierende öffentliche Wasserversorgung. Eine weitere Manifestation am 8. Oktober wurde gewaltsam aufgelöst. Einige Tage später setzte der König eine Kommission ein, um das Problem der Wasserversorgung zu lösen.

Die Proteste in Jerada, einer Stadt mit 40.000 Einwohnern, begannen am 22. Dezember 2017 nach dem Unfalltod von zwei Arbeitern in einer der lokalen Kohleminen. In dieser kleinen Stadt, gut 50 km südwestlich von Oujda, gab es seit der Kolonialzeit eine Kohlemine, die 1998 geschlossen wurde. Nach der Schließung gab es wiederholt Proteste, und es gab einen informellen Kohleabbau in selbst gebauten Schächten. Am 13. März 2018 gab die Regierung eine Warnung heraus, dass sie die Befugnis habe, „illegale Demonstrationen in öffentlichen Räumen“ zu verbieten. Bei einem Vorfall am 14. März, der in einem Video festgehalten wurde, das in den sozialen Medien viral ging, fuhren Polizeifahrzeuge schnell in eine Gruppe von Protestierenden, wobei eines davon einen 16-jährigen Jungen erfasste und schwer verletzte. Ab diesem Tag brachen Polizeibeamte in Jerrada ohne Vorzeigen von Haftbefehlen in Häuser ein, schlugen mehrere Männer bei der Festnahme und zerstörten Türen und Fenster, wie Aktivist:Innen gegenüber Human Rights Watch berichtet haben.

4. Grenz-Geographien und Migrationsrouten

Die Geographie der Grenzen haben wir bereitsim Abschnitt 1.1 skizziert. (Link) . Hier beschreiben wir die die Einreise nach Marokko (4.1) und die Kämpfe um die Migrationsrouten (4.2). Die Einreise nach Marokko ist für Menschen aus der EU kein Problem, da alle Staatsangehörigen von EU-Mitgliedsstaaten Visa direkt bei der Einreise nach Marokko erhalten. Für Staatsangehörige aus vielen afrikanischen Ländern besteht eine Visumspflicht, was den Zugang zu einer regulären Einreise nach Marokko erheblich erschwert. Sofern Migrant:innen und Geflüchtete von dort nach Europa weiterreisen wollen, erweist sich allerdings die Ausreise als die weit größere Herausforderung. Der marokkanische Staat hat in den letzten Jahren Praktiken entwickelt, mit denen er von subsaharischen Migrant:innen als Verhandlungsmasse vor allem gegenüber der EU profitieren kann. Dieser Profit steht und fällt mit der Möglichkeit bzw. der Verhinderung der Weiterreise. Was die Missachtung der Menschenrechte betrifft, ist die „Migrationspartnerschaft“ zwischen Marokko und der EU zu einer Komplizenschaft geworden.

4.1 Einreise in das marokkanische Staatsgebiet

Die Formen und (Grenz-)Orte der Einreise nach Marokko und die damit verbundenen Hindernisse und Menschenrechtsverletzungen werden maßgeblich von der sozialen und geografischen Herkunft der Migrierenden bestimmt. Staatsangehörige beispielsweise des Kamerun, Nigerias oder auch Togos brauchen ein Visum für eine Einreise nach Marokko. Vielen Menschen bleibt dieser Zugang verwehrt, so dass sie auf Landrouten nach Marokko angewiesen sind, welche durch die Sahara und über die algerisch-marokkanische Grenze führen.

Aber auch für Staatsangehörige der afrikanischen Länder, die Visa-Abkommen mit Marokko unterzeichnet haben, werden inzwischen Prüf- und Regulierungsmechanismen angewendet. Marokko hat 2017 die „Autorisation électronique de voyage“ zunächst für Guinea Konakry, Kongo Brazzaville und Mali eingeführt. Bei Staatsangehörigen dieser drei Länder wird eine de facto Prüfung, welche einem Visumsantrag gleichkommt, vorgenommen. Oft wird eine offizielle Einreise abgelehnt.

4.1.1 Der internationale Flughafen in Casablanca als zentrale Grenze zur Einreise aus Afrika

Für Menschen, die per Flugzeug nach Marokko einreisen, ist der internationale Flughafen von Casablanca ein wichtiger Knotenpunkt. Während es von europäischen Flughäfen zahlreiche Direktverbindungen in unterschiedliche marokkanische Städte gibt, landen die afrikanischen Flüge stets in Casablanca. Dem Flughafen kommt eine Schlüsselrolle bei der Kontrolle von Einreisen aus dem afrikanischen Ausland zu. Menschen, denen die Einreise verweigert wird, werden gemäß des Gesetzes 02-03 zum Teil tage- oder wochenlang im internationalen Teil des Flughafens, der „zone d’attente“, festgehalten und sind von Abschiebungen in die Herkunftsländer bedroht. Das Gesetz sieht den Zugang zu Asylverfahren für Schutzsuchende vor, allerdings werden entsprechende Gesuche in der überwiegenden Anzahl der Fälle verweigert, was einen Bruch des Non-Refoulement Prinzips darstellt. Zudem werden afrikanische Staatsangehörige, wenn sie per Transit in Marokko in Richtung EU umsteigen, in zahlreichen Fällen unter dem Vorwand der Dokumentenfälschung am Flughafen Casablanca festgehalten – eine von der EU durch die Carrier-Sanctions ausgelagerte Dokumentenprüfung, die meist von Mitarbeitenden der marokkanischen Royal Air Maroc durchgeführt wird. 2017 konnte die Menschenrechtsorganisation GADEM in diesem Zusammenhang einen Erfolg verbuchen, indem sie das gewaltsame Festhalten einer Frau aus der CAR und ihres Neugeborenen am Flughafen durch die staatlichen Sicherheitsbehörden und das Risiko ihrer rechtswidrigen Abschiebung öffentlich machte. Die Kampagne erreichte, dass die betroffenen Personen nach Marokko einreisen konnten. Offizielle Statistiken zu der Anzahl der so festgehaltenen und abgeschobenen Personen gibt es nicht. Es ist davon auszugehen, dass viele Personen unter Ausschluss einer kritischen Zivilgesellschaft und Fachöffentlichkeit abgeschoben werden.

4.1.2 Grenzgebiete zu Algerien und Mauretanien

Da die formelle Einreise aus dem afrikanischen Ausland nach Marokko für viele Personen extrem schwierig ist, sind diese auf informelle Routen angewiesen. Diese Form der Einreise führt zumeist über Algerien.

Grenzverlauf bei Oujda

Verlauf der Grenze in der Region Oujda

Die gut 1500 km lange Grenze zu Algerien ist seit 1994 formal geschlossen und teils mit einem tiefen Graben gesichert. Zahlreiche Schmuggel- und Transitwege halten den kleinen Grenzverkehr aufrecht. Afrikanische Drittstaatenangehörige nutzen diese poröse Grenzsituation, um von Algerien nach und aus Marokko ein- und ausreisen. Die Rahmenbedingungen dieses Grenzübertritts bergen ein großes Risiko. Die Migrant:innen werden von sogenannten „Guides“ von der einen auf die andere Seite der Grenzen gebracht. Wiederholt wurde berichtet, dass People on the move betrogen und ausgeraubt wurden. Die erste Station auf marokkanischem Boden, die Stadt Oujda, ist bei den Migrant:innen bekannt für Fälle von Freiheitsberaubung und Ausbeutung, häufig gestützt durch polizeiliche Präsenz bzw. Komplizenschaft. Seit Anfang 2022 ist die Grenze als militärische Sicherheitszone noch stärker gesichert und die Preise für eine Schleusung nach Oujda haben sich vervielfacht. Auch die Migration der marokkanischen Bevölkerung nach Algerien ist von einer zunehmenden Kriminalisierung betroffen. Die Zahl der Grenzpassagen, insbesondere um die Städte Oujda auf marokkanischer Seite und Maghnia auf algerischer Seite, hat in der jüngsten Zeit deutlich abgenommen.

Der Süden Marokkos ist ein nur schwer zugängliches Wüstengebiet und die Westsahara wird militärisch kontrolliert. Ein 2400 km langer Sandwall mit militärischen Stützpunkten und Beobachtungstürmen zieht sich vom Süden Marokkos bis an die Grenze nach Mauretanien. Daher sind die Bedingungen für eine Einreise über die südliche Route von besonderer Herausforderung. Im Laufe des Jahres 2025 soll ein neuer Grenzübergang zwischen dem marokkanisch besetzten Gebiet Westsahara und Mauretanien nahe der Stadt Es-Smara eröffnet werden. Dieser technisch hoch aufgerüstete Grenzübergang dürfte allerdings nur für Personen mit Einreiseerlaubnis von Relevanz sein. Ein Grenzübertritt in der militarisierten Wüstenregion außerhalb der Grenzposten birgt aufgrund von Minenfeldern sehr hohe Risiken und ist deshalb ein wenig genutzter Migrationsweg.

Berm from Air

Luftaufnahme der Grenzbefestigung in Verlauf der Westsahara. (C) Wikipedia

4.2. Die Routen in den Norden: Migrationsbewegungen und Repression

4.2.1. Routen über das Mittelmeer

Nachdem Spanien unter dem Druck der neu gegründeten EU im Jahr 1992 die Visumpflicht für Marokkaner:innen eingeführt hatte, stellte die Route über die Meeresenge bei Gibraltar jahrzehntelang eine wichtige Flucht- und Migrationsroute über das Mittelmeer dar. Boat-People setzten von den Stränden auf der Atlantikseite der Stadt, wie beispielsweise Achakkar, oder auf der Mittelmeerseite bei Tanger Med über, um nach Spanien zu gelangen. Heute ist dort mit Tanger Med einer der größten und naturgemäß stark überwachten Seehäfen des Kontinents entstanden.

Die Repression von Mobilität im Norden des Landes wurde ab der zweiten Hälfte 2010er Jahre systematisiert. Das Ausmaß der Gewalt wird aus den damaligen Berichten von MSF deutlich. Die Gewalt kumulierte 2022 mit dem Massaker von Melilla. Der Kampf gegen Menschenhandel wird instrumentalisiert, um in erster Linie Migrationsbewegungen zu unterbinden, und nicht, um Betroffene zu schützen – im Gegenteil: Zwangsverschleppungen innerhalb der Landesgrenzen und Refoulements bzw. unrechtmäßige Abschiebungen treffen auch heute noch von Menschenhandel gefährdete und betroffene Personen. Die marokkanische Marine fängt Boote im westlichen Mittelmeer wie auch auf der Atlantikroute ab und zieht sie zurück nach Marokko. Zudem gab es permanent Razzien und Verschleppungen ins Inland, insbesondere in den Städten Tanger, Tetouan und Nador sowie in den Waldgebieten Belyounech und Gourougou, welche ausschließlich Schwarze Menschen im Fokus hatten. Diese Razzien führten zu massenhaften Menschenrechtsverletzungen und Todesfällen. De facto Abschiebezentren entstanden in vom Innenministerium kontrollierten Räumen und Menschen wurden ohne jeglichen Zugang zu Verfahrensrechten abgeschoben.

Diese Vorgehensweisen der Sicherheitskräfte halten bis heute an. ASGI und SOLROUTES haben im April 2025 einen Report veröffentlicht, in dem es heißt:
Die zwischen Oktober und November 2024 durchgeführte Feldforschung dokumentiert ein System willkürlicher Inhaftierungen und interner Abschiebungen, das systematisch diejenigen trifft, die versuchen, die Grenzen nach Europa zu überqueren, insbesondere Migranten aus Ländern südlich der Sahara, die auch in den Innenstädten festgenommen werden. Diese Praktiken betreffen auch Personen, die unter dem Schutz des UNHCR stehen, Minderjährige und schutzbedürftige Personen, und folgen einer zutiefst rassistischen Logik der Kontrolle und Repression.

Zivilgesellschaftliche Initiativen sind in diesem anhaltenden Kontext in unterschiedlicher Weise von Repression betroffen. Das politische Engagement durch migrantische, Schwarze Personen ist nur unter schwierigen Bedingungen möglich: Zahlreiche Proteste werden gewaltsam aufgelöst. Aber auch europäische Aktivist:innen erfahren massive Einschüchterung bis hin zu staatlicher Verfolgung. Zum Beispiel wurde die Spanierin Helena Maleno Garzón 2021 von Tanger, ihrer Heimatstadt, nach Spanien abgeschoben und erhielt eine Einreisesperre, die bis heute andauert.

4.2.2. Grenzräume um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla

Ähnlich wie in Tanger herrscht auch in Nador eine repressivere Athmosphäre gegenüber illegalisierten Schwarzen Migrant:innen. Auch hier finden regelmäßig Razzien in Wohnvierteln statt, häufig unter dem Vorwand, Schlepperbanden festzunehmen und Netzwerke von Menschenschmuggel zu treffen. Diese Netzwerke gibt es – insbesondere aufgrund der Probleme bei der Überquerung der Grenze von und nach Algerien. Selbstorganisierte Netzwerke funktionieren aufgrund der Repression kaum mehr.

Die Grenzen zu den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sind heute in extremis aufgerüstet. Das Massaker von Melilla am 24. Juni 2022, begangen von marokkanischen Sicherheitskräften unter den Augen der spanischen Grenzpolizei, war ein Fanal der Zusammenarbeit der marokkanischen mit den europäischen Behörden.

Die Grenzgebiete rund um die Exklaven sind abgelegen: Bei Melilla liegt der Wald von Mont Gourougou und rund um die Exklave Ceuta erstreckt sich der Wald von Belyounech über eine bergige Landschaft, welche im Jebel Moussa gipfelt. Die Abgelegenheit sowie die Militarisierung der Grenzgebiete führen im Falle von Ceuta und Melilla, aber auch im Umland Tangers dazu, dass das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte nur lückenhaft dokumentiert werden kann. Viele Migrant:innen, die in der bewaldeten und bergigen Landschaft vor Sicherheitskräften fliehen mussten, erlitten starke Verletzungen. Der Zugang zu Recht im Sinne einer Strafverfolgung von Sicherheitskräften ist hierbei für People on the move quasi unmöglich.

Wie auch in anderen Teilen des Landes ist die Präsenz von Migrant:innen in Nordmarokko seit den 2000er Jahren immer wieder umkämpft. Zum Beispiel berichtete die antirassistische Gruppe GADEM im Jahr 2018 über Polizeieinsätze in Nordmarokko, bei denen mehr als 6.500 Menschen festgenommen und teilweise in die Wüste verschleppt wurden. Ein ähnliches Vorgehen war bereits 2015 von dieser NRO dokumentiert worden. Eine weitere wichtige zivilgesellschaftliche Organisation, Association Marocaine de Droits Humains (AMDH), Section Nador, berichtete über weitere Razzien im Dezember 2021. Die selbstorganisierten Gemeinschaften in den Lagern, die dazu dienten, das tägliche Leben zu sichern oder Bootspassagen und Vorkehrungen zum Überqueren der Grenzanlagen zu organisieren, wurden nach dem Massaker von Melilla 2022 weitgehend zerstört.

Das inoffizielle Haft- und Abschiebezentrum Arekmane, einige Kilometer östlich der Stadt Nador gelegen, ist eine Drehscheine für die Vorgehensweisen der Sicherheitskräfte vor Ort und die Kettenabschiebungen nach Algerien. Hier verbringen People on the Move den ungewissen Zeitraum zwischen Festnahme und Abschiebung. In Nador und den umliegenden Gebieten ist insbesondere die bereits erwähnte aktivistische Gruppe AMDH präsent, um die hier stattfindenden Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und anzuklagen.

Seit Ende der 2010er Jahre gab es zahlreiche Versuche, die Enklaven auf dem Wasserweg zu erreichen. In diesem Kontext werden regelmäßig Personen vermisst. Die Intervention der Sicherheitskräfte trägt dabei in häufigen Fällen entscheidend zum Tod von Migrant:innen bei, so wie beispielsweise 2014 während des Tarajal Massakers. 2019 ereignete sich ein für die marokkanische Öffentlichkeit besonders schockierender Fall, als die marokkanische Marine eine junge Marokkanerin aus Tetouan bei dem Versuch erschoss, mit einem Boot nach Ceuta zu gelangen.

2021 kam es im Kontext einer diplomatischen Krise zwischen Marokko und Spanien, im Zusammenhang mit der Westsaharafrage, zu einem massiven Übertritt der Grenze nach Ceuta. Achttausend überwiegend marokkanische Jugendliche, die von den marokkanischen Sicherheitskräften nicht aufgehalten wurden, kamen mit Schwimmringen und Badebooten nach Ceuta. Sie wurden von spanischem Militär festgenommen; 5600 wurden noch am Tag der Ankunft nach Marokko zurückgewiesen. Dieser Push Back wurden Anfang 2024 durch das oberste spanische Gericht als rechtswidrig eingestuft, mit Blick auf die Minderjährigkeit der Abgeschobenen.

Spanien hat den Anspruch Marokkos auf die Westsahara im April 2022 anerkannt. Seither kontrollieren die marokkanischen Sicherheitskräfte auch das Grenzgebiet vor Ceuta engmaschig. Das brutale Vorgehen der marokkanischen und spanischen Sicherheitskräfte gipfelte am 24.06.2022 im schon erwähnten Melilla Massaker. Mindestens 37 Schwarze Personen starben bei dem Versuch, die Enklave Melilla zu erreichen, durch die brutale Intervention marokkanischer und spanischer Sicherheitskräfte. Bis heute hat keine umfassende Aufklärung in diesem Fall stattgefunden und noch immer gelten 77 Personen als vermisst. Marokko hat das Areal rund um Melilla nach diesem Zwischenfall eingezäunt. Zudem wurde es Läden und Hotels in Nador verboten, Waren an Schwarze Afrikaner:innen zu verkaufen oder diese zu beherbergen.

In jüngster Zeit waren es überwiegend Marokkaner:innen, die versucht haben, die Exklaven zu erreichen. Im Februar 2024 schwammen einige Menschen nach Ceuta, nachdem die marokkanischen Behörden ihre Häuser in Belyounech im Rahmen eines Entwicklungsprojekts zerstört hatten. Im August 2024 haben noch einmal tausende Personen versucht, teils im dichten Nebel über das Wasser nach Ceuta zu gelangen. Auch diese Menschen wurden nach Marokko zurückgeschoben.

4.2.3. Die Atlantikroute

Seit 2018 hat die Atlantikroute zwischen den besetzen Gebieten im Süden Marokkos und den spanischen Kanaren an Bedeutung gewonnen. Dies hängt direkt mit der weitgehenden Schließung der Westmittelmeer-Route und der Wege in die spanischen Exklaven zusammen. Die Boote legen von unterschiedlichen Orten an einem Küstenabschnitt von rund 800 km zwischen den Städten Tantan Plage und Dakhla, ab. Dieser Abschnitt liegt teils auf marokkanischem Staatsgebiet, zum Großteil aber auch auf dem Gebiet der Westsahara. Ähnliche wie in Tanger und Nador nehmen auch hier repressive Politiken, Razzien und Zwangsverschleppungen ins Landesinnere zu. Während der Covid 19 Pandemie wurden migrantische Personen über Monate in Isolationszentren festgehalten, wie eine Gruppe von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentiert hat.

Obwohl der kürzeste Weg nach Fuerteventura nur 100 km lang ist, ist die Überfahrt weitaus länger und gefährlicher als über die Westmittelmeer-Route. Menschen werden auch hier häufig von der marokkanischen Marine abgefangen und zurück nach Marokko gebracht, einschließlich der in Seenot geratenen Personen. Die Überlebenden werden im Anschluss in andere Landesteile verschleppt.

Einigen tausend Menschen, überwiegend aus Marokko selbst, gelangen auf dieser Route auf die Kanaren. Die Mehrzahl der mehr als 40 000 Personen, die in 2024 auf den Kanaren ankamen, benutzten die noch gefährlichere Route, gegen die Meeresströmung des Canary Current, aus Mauretanien und Senegal.

Westsahara 2006

(C) UN 2006

5. Migrant:innen in Marokko

5.1. Die sozio-ökonomische Situation von Migrant:innen in Marokko

Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl subsharischer Migrant:innen in Marokko deutlich angestiegen. Ihre Zahl wird auf 50 tausend, von anderen auf 70 bis 200 tausend geschätzt. In zwei Legalisierungskampagnen haben 2014 und 2017 etwa 50 000 Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Diese Entwicklungen haben zu einer verstärkten Interaktion zwischen Einheimischen und Zugewanderten geführt. Allerdings ist gesellschaftliche Teilhabe für migrantische und rassifizierte Personengruppen allermeist nicht gewährleistet. Rassistische Vorurteile und Diskriminierungen sind weit verbreitet.

Arbeit

Eine konkrete Hürde ist der begrenzte Zugang zum formellen Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren stark angestiegen und beträgt in einigen Regionen 30%. Ohnehin sind zwei Drittel aller Arbeitsverhältnisse informell. Somit sind auch viele Marokkaner:innen mit dieser Problematik konfrontiert, aber der restriktive Gesetzesrahmen und rassistische Praktiken erschweren den Zugang für Schwarze Afrikaner:innen zusätzlich. Nur mit zwei Nachbarländern, Algerien und Senegal, gibt es Abkommen zum erleichterten Arbeitsmarktzugang der jeweiligen Staatsangehörigen. Allen anderen afrikanischen Migrant:innen werden marokkanische Staatsangehörige grundsätzlich vorgezogen – im Falle einer Stellenbesetzung muss der Arbeitgeber nachweisen, dass keine marokkanischen Bewerber:innen für die Besetzung der Stelle infrage kamen. Es gibt bei diesem Prinzip der préférence nationale, das übrigens auch in der EU auf Drittstaatenangehörige angewandt wird, Ausnahmen für Personen, die im Rahmen einer der beiden Regularisierungskampagnen (2014 und 2017) einen Aufenthaltstitel erlangt haben. In der Praxis ist aber die Geltendmachung dieses Privilegs schwierig.

Der Zugang zur Justiz ist in diesem wie auch in anderen Zusammenhängen erschwert. Die meisten Migrant:innen sind somit auf den informellen Sektor angewiesen. Hier sind niedrige Löhne, gefährliche Arbeitsbedingungen (z.B. im Bausektor) sowie Missbrauch und Ausbeutung (v.a. bei Anstellungen in Privathaushalten) gängig.[7] Trotzdem haben es einige Schwarze Frauen geschafft, einen Job mit geregeltem Einkommen zu finden, zum Beispiel in einem der vielen Call-Center. Die Hälfte der regulärem Schwarzen Migrant:innen sind Frauen.

Gesundheit

Zugang zu Gesundheitsleistungen ist für die meisten Migrant:innen stark eingeschränkt. Für Menschen ohne finanzielle Ressourcen und ohne Aufenthaltspapiere sind die öffentliche und private medizinische Versorgung unzugänglich. Die stationäre Versorgung findet in Marokko überwiegend in Privatkliniken statt. Nur in Notfällen geben die Migrant:innen ihre Ersparnisse für medizinische Behandlungen her. Einige humanitäre Stellen übernehmen die Kosten für dringende Behandlungen auf der Grundlage von Vulnerabilitätskriterien.[8] Dies deckt bei Weitem nicht den Bedarf. Die Reform des Gesundheitswesens, die 2021 eingeleitet wurden, hat zwar zu einer Krankenversicherung für die Marokkaner:innen geführt, jedoch wurden Migrant:innen mit informellem Status aus dem System ausgeschlossen.

Wohnen

Für Menschen ohne Papiere ist der Zugang zu Wohnraum erheblich erschwert. In den urbanen Zentren an der Altantikküste Marokkos wie Casablanca, Agadir- Ait Melloul- Inzegane oder Rabat-Salé leben Menschen aus Zentral- und Westafrika meist in migrantisch geprägten armen Stadtteilen, mit einem hohen Grad von Unsicherheit. In den Städten der Grenzregionen wie Nador oder Oujda sind die Bedingungen der Unterkunft besonders prekär und ständig von Razzien der Sicherheitskräfte bedroht.

Razzien und Übergriffe

In den großen Städten im Westen und Norden Marokkos werden Schwarze Migrant:innen oft auf offener Straße festgenommen. Es finden aber auch Razzien in migrantischen Wohngemeinschaften statt. Die meisten der von der Polizei Abgeführten werden in abgelegene Zonen verschleppt, in die Grenzräume um Oujda, aber auch nach südlich gelegenen Orten. Im Verlauf ihres Aufenthalts in Marokko werden manche Migrant:innen mehrmals festgenommen und verschleppt: zwei Personen aus Mali berichteten, dass sie im Laufe der letzten 10 Jahre rund 30 mal in die Region Oujda verschleppt und mehrmals von dort nach Algerien abgeschoben wurden. Immer wieder schafften sie es aber trotz der großen Gefahren zurück nach Marokko.

Schwarze Migrant:innen (vor allem aus West-, Zentral- und Nordostafrika) sehen sich neben verbalen Anfeindungen auch gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Viele berichten von heftigen Attacken, Angriffen und Raubüberfällen. Ihre größte Sorge gilt allerdings der ständigen Gefahr von Festnahmen durch die Polizei. Dies betrifft auch Geflüchtete, denen durch den UNHCR bereits ein Schutzstatus zuerkannt wurde, oder deren Antrag auf Schutz beim UNHCR noch bearbeitet wird. Offiziell sind die Sicherheitskräfte dazu angehalten, Nachweise über ein Asylgesuch beim UNHCR als Nachweis eines regulären Aufenthalts anzusehen. In der Praxis kommen Verschleppungen und auch Abschiebungen von Asylsuchenden allerdings regelmäßig vor.

Marokko hat bereits 1956 die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und ratifiziert. In einem Memorandum zwischen dem Königreich und dem UNHCR wird letzterem die Kompetenz zur Prüfung von Asylanträgen zugeschrieben. Menschen, denen durch den UNHCR einen Schutzstatus zugesprochen wird, sollen laut dem Dekret zur Ratifizierung der GFK von 1957 durch eine marokkanische staatliche Kommission einen Aufenthaltstitel erlangen. Seit 2013 gibt es die Ankündigung einer Immigrations- und Asylgesetzgebung, jedoch gibt es bis heute kein nationales Asylrecht und keine staatliche Instanz zur Prüfung der Gesuche.

5.2. Formen der Selbstorganisation und Widerstand

Die Camps

Selbstorganisierte Strukturen sind enorm wichtig für das Überleben der Schwarzen Migrant:innen. Diese haben sich immer wieder an unterschiedlichen Knotenpunkten gebildet. Seit 2013 gab es in der Nähe des Hauptbahnhofes der Stadt Fes ein Camp, welches bis zu 6000 Bewohner:innen beherbergte. Es wurde im Jahr 2016 durch marokkanische Sicherheitskräfte zerstört. Im Nachgang entstand in Casablanca, nahe dem Busbahnhof im Stadtteil Ouled Ziane, ein neues Camp. Unter widrigen Umständen kamen hier People on the Move zusammen, um sich von der Zeit an den Grenzen im Norden oder von den Zwangsverschleppungen zu erholen. Allerdings waren die Hygiene- und Sicherheitsbedingungen schlecht. Nachdem das Camp mehrere Male abgebrannt war (zuletzt am 18.02.2024), wurde es von marokkanischen Sicherheitskräften abgerissen. Seit Ende 2024 gibt es hier eine Baustelle, sodass die Besetzung des Platzes vor dem Busbahnhof nicht mehr möglich ist. Andere Orte, die ähnliche Funktionen erfüllen und in denen sich wichtige Communities gebildet haben, sind Agadir/Inzegane/Ait Melloul (Region Souss-Massa) und Beni Mellal (Region Beni-Mellal – Khenifra/Mittelatlas).

In diesen Camps nutzen die migrantisierten Menschen neben ihren Protesten auch kulturelle Ausdrucksformen wie Musik, Theater und Kunst, um ihre Erfahrungen wach zu halten und ihren Widerstand gegen die schwierigen Lebensbedingungen zu kommunizieren. Mit kreativen Mitteln erschaffen sie neue, wenn auch prekäre Identitäten, fördern das Gemeinschaftsgefühl und schärfen das öffentliche Bewusstsein für ihre Situation. Manche entwickeln neue religiöse Sensibilitäten, die ihnen helfen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und in schwierigen Zeiten Kraft zu schöpfen.

Der Migrationsweg durch Marokko wurde in mehreren autobiographischen Büchern beschrieben. Emmanuel Mbolela lebte 2005 in Rabat und gründete dort die Vereinigung der kongolesischen Flüchtlinge und Asylbewerber:innen (ARCOM). In seinem Buch Mein Weg vom Kongo nach Europa berichtet er über die prekären Bedingungen in Bezug auf Wohnen, Gesundheit, Bildung und Arbeit, hinzu kam die tägliche Erfahrung von Razzien und Rückschiebungen. In jenen Jahren versuchte auch Fabien Didier Yene wiederholt, die Grenzbefestigungen von Melilla zu überwinden. In seinem Buch, Bis an die Grenzen, beschreibt er, wie er immer wieder zurückgeworfen, aufgegriffen, an die Grenze abgeschoben wurde und einmal mit ein paar anderen mitten in der Wüste zurückgelassen. 2008 wurde Yene zum Obmann der Kameruner Emigrantengemeinschaft in Marokko gewählt und arbeitete in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen für das Recht auf Bewegungsfreiheit.

Die Camps in den Wäldern von Mont Gourougou, vor Melilla, und dem Wald von Belyounech vor Ceuta sind seit dem Massaker vom 24.Juni 2022 Geschichte. Isabella Alexander-Nathani hat diesen Camps in ihrem Buch Burning at Europe's Borders ein empfindsames Denkmal gesetzt. Sie beschreibt eine Gemeinschaft junger Männer aus Guinea, die sich auf den Angriff auf die Zäune von Melilla vorbereiten. Auch Alexander-Nathani beschreibt den Rassismus und die Deportationen, die in den Jahren 2005 und 2013 einen Höhepunkt erreichten. Insbesondere aber thematisiert sie den Zusammenhang der Erfahrungen und des unbändigen Willens und Leidens der Schwarzen Migrant:innen als „Burning Yesterday for Tomorrow“. Die Schwarzen Migran:innen geraten auf ihrer jahrelangen Reise in „liminale Räume“ und entwickeln neue Beziehungsweisen und Subjektivitäten. Seit dem Massaker von 2022 hat die Route von Oujda über Algerien nach Tunesien eine größere Bedeutung gewonnen für diejenigen, die weiterhin versuchen, nach Europa zu gelangen. Aber auch diese Route ist zunehmend schwieriger und teurer geworden, und seit 2023 sind die Bedingungen in Tunesien unhaltbar. Nicht wenige Menschen kehrten von dort nach Marokko zurück.

This Jungo Life

Einen ergreifenden Einblick in das Leben einiger junger Männer aus dem Sudan gibt der Film This Jungo Life (2024) von David Fedele and the Jungo of Rabat

Alltagswiderstand und Protest

Annélie Delescluse befasste sich in ihren Felduntersuchungen (zwischen 2016 und 2020) mit Praktiken und Vorstellungen der Selbstverteidigung der Migrant:innen aus West- und Zentralafrika in Marokko. Diese erfinden, unterschiedlich und kreativ, individuelle oder kollektive Widerstandsformen, um zu überleben und die Entmenschlichung und die oppressiven Mechanismen anzuprangern. Die meisten von ihnen leben in den Armutsvierteln der großen Städte. Ihr Alltag ist geprägt von Zusammenhalt und Solidarität untereinander, aber auch von sozialer Prekarität und einem historisch verankerten Rassismus der Marokkaner:innen[9], der noch immer in populären Vorstellungen verbreitet ist.

Politische Demonstrationen sind eine häufig gewählte Protestform. Hier erheben Migrant:innen ihre Stimmen, um auf ihre Lage hinzuweisen und Veränderungen zu fordern. Zum Beispiel entstand im Jahr 2012 als Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte im Stadtteil Takkadoum der Hauptstadt Rabat eine friedliche Protestbewegung, aus der sich unter anderem die migrantische Selbstorganisation ALECMA entwickelte. Dieser und andere Momente der kollektiven Mobilisierung haben einen zentralen Platz im Bewusstsein von migrantischen Bewegungen in Marokko. Auch mit Hungerstreiks wird auf Missstände und die Notlagen von Migrant:innen aufmerksam gemacht und Druck auf die Behörden ausgeübt. Manchmal kam es auch zu Gewalt gegen Sachen, als Spiegel der Gewalt, die sie von den Sicherheitskräften und Behörden ausnahmslos erfahren. Oft beziehen sich die Proteste auf globale Bewegungen wie "Black Lives Matter" und zielen darauf ab, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf ihre Lage zu lenken. Es werden Demonstrationen organisiert und öffentliche Erklärungen abgegeben, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Die Beobachtungen von Delescluse (2023) im Stadteil Douar Doum, in der Hauptstadt Rabat, sind ein bezeichnendes Beispiel für die Lebensrealitäten von Migrant:innen in Marokko und ihre Prägung durch Kollektivität. Douar Doum ist ein beliebter, aber auch ärmerer Stadtteil, in dem viele Migrant:innen aus Subsahara-Afrika leben. Der Zugang der Anwohner:innen zu grundlegenden Dienstleistungen wie Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen ist begrenzt. Die Migrant:innen haben hier eine solidarische Gemeinschaft gebildet, in der sie Ressourcen und Informationen teilen und ein Gefühl der Zugehörigkeit schaffen. Auch religiöse Versammlungen und kollektiven Praktiken spielen im Douar Doum eine wichtige Rolle im Leben der Migrant:innen und geben ihnen psychische Resilienz und sozialen Halt.

Ein wichtiges Beispiel für kollektives Handeln der Migrant:innen gegen die Repression waren die Proteste im Zusammenhang mit dem Tod des Senegalesen Ismaila Faye am 8. August 2013. Faye starb an den Folgen von Polizeigewalt im Rahmen einer Festnahme in der Nordmarokkanischen Stadt Tanger. Berichten zufolge starb er an den Folgen einer schweren Kopfverletzung, die er erlitten hatte, als er aus einem Polizeifahrzeug geworfen wurde, während er versuchte, seine Aufenthaltsgenehmigung vorzuzeigen. Die Protestierenden weigerten sich, die Leiche von Faye der Polizei zu übergeben und trugen sie stattdessen durch die Straßen, um auf die Umstände seines Todes aufmerksam zu machen und Gerechtigkeit zu fordern. Dieser Fall erregte internationale Aufmerksamkeit und wurde von verschiedenen Medien behandelt. Menschenrechtsorganisationen und Aktivist:innen forderten eine Untersuchung und Rechenschaftspflicht für die beteiligten Beamten.

6. Migrationspolitik in Marokko

Die Migrationspolitik Marokkos ist eine komplexe Vermischung unterschiedlicher Dispositive unter dem Anspruch einer nationalen Souveränität. Seit 2013 hat Marokko einen neuen Ansatz in der Migrationspolitik verfolgt, die neue Migrations- und Asylpolitik (Nouvelle Politique d’Immigration et d’Asile, NPIA), welche durch die Stratégie nationale d’immigration et d’asile (SNIA) umgesetzt wurde. Unter anderem zeichnete sich die SNIA durch die zwei bedeutende Regularisierungskampagnen aus, die 2014 und 2017 durchgeführt wurden. De facto betraf dies etwa 50.000 Menschen; zumeist afrikanische Migrant:innen, aber z.B. auch philippinische Staatsangehörige, zumeist Frauen, die in den Großstädten im Haushaltssektor arbeiteten. Alle Menschen, die später ins Land gekommen sind, konnten davon nicht profitieren und es gibt, wie unter 5.1 beschrieben, bis heute kein funktionierendes Asylsystem.

Seit 1999, als die EU ihren ersten „Aktiosnplan“ in Szene setze, ist die Migrationspolitik wesentlich durch außenpolitische Zwecke geprägt.

Zum Norden hin hat Marokko es verstanden, die Schwarzen Migrant:innen, aber auch die Harraga aus dem Land selbst, als Manövriermasse in den Verhandlungen mit der EU in Szene zu setzen. Dabei ging es um Anerkennung und Gelder, aber stets auch um die Westsaharafrage. Als erster Staat des Mittelmeerraums unterzeichnete die marokkanische Regierung im Juni 2013 eine „Mobilitätspartnerschaft“ mit der EU, die wesentlich zur Reform der Migrationsgesetze (NPIA) beitrug, die 3 Monate später verkündet wurden. Ab 2014 stellte die EU stellte 232 Millionen € für diese neue Migrationspolitik einschließlich des Migrations- und Grenzmanagements bereit; für Marokko ging es allerdings in diesen Verhandlungen mehr um den Prestigegewinn als um die Gelder. Tatsächlich blockierte die Westsaharafrage die Kooperation mit der EU bis 2019. Näheres hierzu im Kapitel 7.

Im Dialog mit der EU, und nach Milliardenzahlungen, kehrte Marokko 2019 zur Zusammenarbeit mit der EU zurück und begann, die Bootspassagen in den Norden durch Razzien und Deportationen, wie auch durch die Aufrüstung der Küstenwache zu begrenzen. Mit dem Beitritt zu den Abrahams-Verträgen verstand es Marokko, unter den Schild der US-israelischen Allianz zu schlüpfen. In diesen Verträgen wurde die marokkanische Annexion der Westsahara anerkannt. Es war nun nur noch eine Frage der Zeit, bis sich 2022 auch die spanische Regierung zu diesem Schritt bereit fand. Der Lohn war das Massaker von Melilla, mit dem der Sturm auf die Befestigungen der Exklaven endgültig beendet wurde. Zuletzt hat Frankreich die Rolle Marokkos im Westsaharakonflikt bestätigt und wurde im Oktober 2024 mit Wirtschaftskontrakten und einem Rücknahmeabkommen, marokkanische Migrant:innen in Frankreich betreffend, belohnt.

Nach Westen hin, in der Konkurrenz mit Algerien, verzichtet Marokko auf die energiepolitischen und ökonomischen Vorteile einer nordafrikanischen Kooperation, weil die Abgrenzung gegen Algerien und die Annektion der Westsahara zu einer tragenden Staatsdoktrin geworden sind. Marokko hat die Grenze zu Algerien mit Sandwällen und Militärposten befestigt, aber gleichzeitig doch porös gehalten: sowohl für den Schmuggel, der Hunderttausenden zur Lebensgrundlage geworden ist und dessen Schließung das Risiko von Aufständen in der Peripherie erheblich erhöhen würde, wie auch für die Schwarzen Migrant:innen, die als Verhandlungsmasse gegenüber der EU nach wie vor wichtig sind und deren Ausreise nach Algerien erwünscht ist. Andererseits werden schon in wenigen Jahren für Marokko durchaus Probleme eines demographischen Übergangs erwartet, in dem Schwarze Migrant:innen als Arbeitskräfte willkommen sein werden.

Nach Süden hin war Marokko wegen der Westsaharafrage jahrelang isoliert und konnte erst im Jahr 2017 in die Afrikanische Union zurückkehren. Die Verhandlungen mit der EU waren mit einem Presitgegewinn verbunden, wobei auch die Neuausrichtung der Migrationspolitik 2013 eine wichtige Rolle gespielt hat. Allerdings ist dieser Bonus inzwischen verbraucht; seit 2018 geht es mit der NIPA wieder rückwärts.

Marokko hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Investoren in Afrika entwickelt, insbesondere in Westafrika. Das Land verfolgt eine aktive Süd-Süd-Kooperationspolitik, die stark vom Makhzen gefördert wird. Zielgebiete der Investitionen waren Elfenbeinküste, Senegal, Mali, Nigeria, Ghana und Gabun. Vor allem ging es um den Bankensektor, um Maroc Telecom, die Phosphatindustrie, den Bausektor und um Royal Air Moroc; Casablanca ist der Knotenpunkt der Flugverbindungen zwischen Westafrika und Europa.

Zudem versucht Marokko, sich im Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel zu positionieren. Das Land hat militärische Kooperationen mit den UAS und verschiedenen afrikanischen Staaten etabliert. Seit Gründung der Allianz der Sahelstaaten Mali, Niger und Burkina Faso (AES) sieht sich Marokko gegenüber Algerien im Vorteil und hat den betreffenden Militärregimes eine umfangreiche Kooperation angeboten, einschließlich des Ausbaus und der Nutzung des einzigen Hafens der Westsahara, Ad-Dakhla..

Die enge Zusammenarbeit zwischen Marokko und den Vereinigten Staaten zeigt Überschneidungen in den Interessen beider Länder. Marokko strebt eine regionale Führungsrolle an, während die USA ihre Präsenz in Nordafrika (angesichts der immer weiter ausgebauten chinesischen und russischen Interessen in der Region) stärken wollen. Die zunehmende militärische Unterstützung und die Kooperationsabkommen zwischen beiden Ländern verdeutlichen ihre strategische Partnerschaft. Die Entwicklung der Beziehungen zu Israel seit dem Abraham-Abkommen (2020) markiert einen weiteren Schritt in Marokkos geopolitischer Entwicklung. Die Unterzeichnung verschiedener Abkommen und Initiativen zwischen Marokko und Israel zeigt die Vertiefung ihrer Beziehungen in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung und Handel. Neben ihren geopolitischen Interessen verbindet die beiden Länder die Tatsache, dass Hunderttausende der israelischen Bevölkerung marokkanischer Abstammung sind.

Im Balanceakt seiner Außenpolitik muss der Makhzen immer wieder abwägen; in der Bevölkerung gibt es einerseits die traditionelle Sympathie mit den Palästinensern, andererseits die hergebrachten Resentiments gegenüber Schwarzen Menschen. Anfang April 2025 gab es in Casablanca und Rabat Massenproteste gegen den Gaza-Krieg und gegen die Rolle der USA in diesem Krieg. Implizit sind dies auch Proteste gegen den Makhzen. Es ist deshalb nicht zufällig, dass dessen Politik mit einer seit 2018 wieder zunehmenden inneren Repression und Kontrolle einhergeht, wobei es um die Rif-Aufstände und die schleppend umgesetzten Aufbauprogramme in den Erdbebengebieten geht, aber eben auch um die außenpolitischen Manöver des Regimes, die in der Bevölkerung keinen Rückhalt haben.

7. Externalisierungspolitik der EU

Aufgrund seiner geografischen Lage ist Marokko seit den frühen 1990er-Jahren ein zentrales Ziel europäischer Migrationsabwehrstrategien und gilt als Testfeld für die Externalisierung europäischer Grenzpolitik. Wichtige Stationen dieser Entwicklung sind: 1992 die Schließung der EU-Südgrenze, wodurch die Straße von Gibraltar zu einem gefährlichen Fluchtweg wird; 2005 die massenhaften kollektiven Überwindungen der Grenzanlagen von Ceuta und Melilla, woraufhin Spanien eine „Migrationskrise“ ausruft; 2013 der Abschluss einer Mobilitätspartnerschaft mit der EU; ab 2018 die verstärkte Grenzaufrüstung und Durchführung von Razzien, finanziert durch europäische Mittel; sowie schließlich das tödliche Grenzmassaker im Juni 2022 an der Grenze zwischen Nador und Melilla. Bei alledem ist Marokko nicht nur Objekt europäischer Abwehrmaßnahmen, sondern durchaus ein Akteur mit eigenen Interessen. Dabei geht es um Marokkos Stellung als Regionalmacht und um die Westsaharafrage, aber auch um wirtschaftliche Interessen und um die Remissen der Migrant:innen.

7.1 Migration nach Europa

In den 1960er und frühen 70er Jahren gab es bilaterale Anwerbeverträge für Arbeitskräfte zwischen Marokko und anderen westeuropäischen Staaten, wie zum Beispiel Italien, Türkei oder Jugoslawien. Mit Marokko wurde im Jahr 1963 ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften geschlossen. Das Herkunftsland Marokko stellt seit den 1990er Jahren – noch vor der Türkei – die meisten Einwander:innen in der EU; 3 bis 4 Millionen Marokkaner:innen leben in der Emigration, und 84% dieser Menschen leben in der EU. Nach dem Anwerbestopp 1973 blieben das Nadelöhr der Familienzusammenführung oder ein Leben in Europa ohne Papiere unter der ständigen Bedrohung durch Abschiebungen.

Im Mai 1990 führte zuletzt auch Spanien unter dem Druck der EU die Visumpflicht für Marokkaner:innen ein. Im Sommer 1992 überquerten dann etwa 30.000 Menschen auf kleinen Booten die Straße von Gibraltar, die in den folgenden Jahren zum größten Massengrab im Nachkriegseuropa wurde: Zwischen 1991 und 1996 sind wahrscheinlich allein in der Meerenge von Gibraltar zwischen 2.000 und 4.000 Menschen umgekommen. Ein anderer Weg nach Europa führte in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, wo seit 1994 Zäune und Grenzbefestigungen aufgebaut wurden. Diese wurden 2005 von einer großen Zahl von Migrant:innen kollektiv überwunden, was von spanischer und europäischer Seite hektische Reaktionen auslöste (GAMM, Rabat-Prozess, siehe weiter unten). Höhepunkt der Kämpfe und der Push-Backs aus diesen Enklaven war das Melilla Massaker vom 24. Juni 2022, bei dem laut marokkanischen Behörden mindestens 23 migrantische Personen durch Grenzgewalt zu Tode kamen und mehr als 70 vermisst wurden.

In den Jahren nach 2011 verlagerten sich die Migrationsbewegungen und damit auch das Augenmerk Europas in Richtung Libyen / zentrales Mittelmehr. Erst im Zusammenhang mit den Unruhen im Rif ab Herbst 2016, kehrte sich der Trend wieder um. Allein im Jahr 2018 kamen über 64.000 Migrant:innen in Spanien an, davon ein Viertel Marokkaner:innen.[10] Allerdings sind die Zahlen des UNHCR ungenau: Fast zwei Drittel der Menschen, die überwiegend von Marokko aus nach Spanien gelangten, stellten keinen Asylantrag, sondern tauchten unter. Nur jeder zehnte der Boat People aus Marokko und nur jeder zwanzigste aus Guinea oder Mali stellte einen Asylantrag. In vielen marokkanischen Familien haben sich transnationale Netzwerke zur Ermöglichung der transnationalen Migration entwickelt, wie beispielsweise der Handel von Arbeitsverträgen, gemeinsame Investitionen in den Reiseaufwand eines „Wirtschaftsmärtyrers“ oder Familienzusammenführung durch Heirat einer bereits in Europa lebenden Person.[11] Der Staat hat die Emigration von Anfang an gefördert, weil die Rücküberweisungen der Migrant:innen eine wesentliche Devisenquelle sind und vielen Familien das Einkommen sichern.

Im Jahr 2018 geriet Marokko somit wieder ins Zentrum der europäischen Abwehrpolitik. Die spanische Seenotrettung SASEMAR zog sich zurück. Ähnlich wie im Fall Italien / Libyen überwiesen EU und spanische Regierung 170 Millionen Euro an Marokko, teils zweckgebunden für den Aufbau eines marokkanischen SAR-Systems, und verboten den eigenen Flugzeugen und Schiffen, Rettungsaktionen in marokkanischen Gewässern durchzuführen. Im gleichen Jahr 2018 startete das ICMPD ein auf vier Jahre angelegtes Border Management Programm (BMP) mit dem Ziel, die Risiken der Migration durch deren Beschränkung zu verringern. ICMPD lieferte Ausrüstung zur Überwachung der Grenzen.[12] Auch institutionell sollte ein effektiverer Grenzschutz in Marokko und Tunesien gewährleistet werden. Die Passage über die Straße von Gibraltar wurde zudem durch die Frontex-Operation Indalo weitgehend geschlossen. Die Migrationswege verlagerten sich auf die Atlantikroute auf die Kanaren, wo derzeit drei Viertel der Ankünfte in Spanien zu verzeichnen sind. Das Alarmphone berichtete im März 2022, dass der Rückzug der spanischen SAR auch auf dieser Route zu einer „Unsichtbaren Mauer auf dem Atlantik“ geführt habe. Im Jahr 2024 sind laut der spanischen Organisation »Caminando Fronteras« auf dieser Route 9.757 Boat People gestorben.

7.2 Externalisierung 1993 – 2011: Die diplomatische Phase. IOM und ICMPD kommen ins Geschäft

Schon seit den 1970er Jahren arbeiteten die europäischen Länder an einem gemeinsamen Polizei- und Sicherheitsapparat. Schrittmacher der gemeinsamen Grenzkontrollen an den Außengrenzen und des gemeinsamen Polizeisystems war die Öffnung der innereuropäischen Grenzen im Schengen-Abkommen 1985.[13] Gegründet wurde die EU 1992 mit dem Vertrag von Maastricht und schon im folgenden Jahr setzte sich in der EU die prinzipielle Entscheidung durch, eine Ausweitung nach Osten zu suchen und sich zum Süden hin abzuschotten. Den Staaten im Osten und Südosten wurde im Gegenzug zur Kontrolle der unerwünschten Migration eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt – nicht aber den Staaten südlich des Mittelmeers, denen noch nicht einmal eine großzügige Visaregelung angeboten wurde.

Die Verhandlungen mit Marokko folgten dem Pfad Spaniens, das bereits im Februar 1993 ein Rückübernahmeabkommen mit Marokko abgeschlossen hatte, welches auch die Rücknahme von Drittstaatenangehöringen vorsah.[14] In der Tat hat Marokko seither bilaterale Rückführungsabkommen mit einer Reihe von Staaten abgeschlossen.[15] Allerdings hat es in den letzten 30 Jahren konsequent und trickreich vermieden, ein derartiges Abkommen für Drittstaatenangehörige abzuschließen. Dazu wären auf Seiten Marokkos eine Kette weiterer Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten und Visaregelungen erforderlich, was Marokkos Verhältnis zu den westafrikanischen Staaten entschieden beeinträchtigen würden. Allerdings akzeptierte Marokko den Bau hoher Zäune um Ceuta und Melilla und informelle Abschiebungen aus diesen Exklaven.

Weitere Etappen der Verhandlungen waren die EU-Mittelmeerpartnerschaft von 1995 und der EU-Sondergipfel von Tampere 1999, auf dem versucht wurde, eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik zu definieren, die in bilateralen und EU- Abkommen mit den sogenannten Entsende- und Transitstaaten durchgesetzt werden sollte. Bereits im Vorfeld dieses Gipfels hatte der EU-Rat einen Aktionsplan für Marokko16 vorgelegt, der als Prototyp zahlreicher weiter solcher Papiere gelten kann.

2005 kam es an den schwer bewachten Zäunen von Ceuta und Melilla hundertfach zu kollektiven Grenzübertritten. Wiederum wurde Spanien zum Schrittmacher der Zusammenarbeit mit Marokko; einvernehmlich wurden die Grenzbefestigungen rund um die Exklaven Ceuta und Melilla weiter ausgebaut. Spanien zahlte zudem Gelder für Razzien der marokkanischen Polizei in den Camps rund um die Enklaven und die Deportation der Menschen über die Grenze nach Algerien ins Niemandsland.[16] Diese „Migrationskrise” induzierte den “Global Approach to Migration” (GAM, seit 2006 GAMM), der in den Folgejahren zum “Rückgrat der EU-Migrationspolitik” wurde.[17] Ein Jahr später folgte mit dem Rabat-Prozess ein multinationaler Dialogprozess, in dem das ICMPD die Verhandlungsführung übernahm. Die Verhandlungsführung wurde damit aus dem diplomatischen Bereich direkt zu einem Think Tank verlagert. Das ICMPD lieferte nicht nur Expertise und Verhandlungsführung jenseits des diplomatischen Verkehrs, sondern lieferte auf kurzem Wege auch Technik und Ausrüstungen. Tunesien und später Marokko konnten dazu gebracht werden, die Ausreise aus ihrem Hoheitsgebiet unter Strafe zu stellen.

Auch die IOM fand in Marokko ein "unternehmerisches Feld" oder "Testgelände" für die Ausweitung ihrer Managementpraktiken, wobei neben Informationskampagnen vor allem Programme „freiwilliger“ Rückkehr durchgeführt wurden. Seitdem haben Unsicherheit und Willkür die Position der IOM in den nordafrikanischen Grenzgebieten geprägt.[18]

7.3 Externalisierung 2011 – 2017: Die Folgen der Arabischen Revolution

Die Arabische Revolution durchkreuzte die Mittelmeer-Strategie der EU. Der Sturz des Diktators Ben Ali in Tunesien, der die Ausreise aus seinem Land unter Strafe gestellt hatte, öffnete den Weg nach Lampedusa, und der Sturz Gaddafis in Libyen führte zur Öffnung der zentralen Mittelmeerroute. Insbesondere aber erzeugte der Krieg des syrischen Machthabers Al Assad gegen die eigene Bevölkerung nachhaltige und bis heute relevante Flüchtlingsbewegungen.

Das königliche Regime in Marokko überstand die Revolutionszeit relativ unbeschadet (siehe Kap. 3) und stand nicht so stark unter dem Druck der Bevölkerung wie z.B. die Regierung in Tunesien. Als erster Staat des Mittelmeerraums unterzeichnete die marokkanische Regierung im Juni 2013 eine „Mobilitätspartnerschaft“ mit der EU. In der zugehörigen Erklärung hieß es:

In Bezug auf die illegale Migration werden die EU und Marokko zusammenarbeiten, um besser gegen Schleuser- und Menschenhändlernetze vorgehen zu können und den Opfern zu helfen. Ferner werden sie eng zusammenarbeiten, um Marokko zu helfen, ein nationales System für Asyl und internationalen Schutz einzurichten.“

Tatsächlich verkündete der König drei Monate später eine Reform der Migrationsgesetze und die EU stellte ab 2014 232 Millionen € für die neue Migrationspolitik einschließlich des Migrations- und Grenzmanagements bereit, wobei für Marokko weniger die EU-Gelder als vielmehr der Prestigegewinn als euroafrikanische Mittlerinstanz ausschlaggebend waren.[19]

An die Stelle erster EU-Programme zur Finanzierung der Migrationsabwehr, die nach Tampere[20] aufgelegt worden waren, trat in den Jahren 2014 - 2017 das Europäische Nachbarschaftsinstrument, mit dem für Marokko über 800 Millionen Euro, hauptsächlich als Budgethilfen, bereitgestellt wurden. 2016 wurde zudem den EU Emergency Trust Fund for Africa (EUTF for Africa) ins Leben gerufen, womit als Reaktion auf die großen Migrationsbewegungen ab 2015 zusätzliche und umfangreich Gelder für deren Abwehr bereitgestellt wurden.

Marokko stand zu diesem Zeitpunkt nicht im Fokus der EU. Das änderte sich kurze Zeit später, als mit dem Aufstand im Rif 2016 die Zahlen der Ausreisen nach Spanien wieder anstiegen.Allerdings hatten sich zu diesem Zeitpunkt die Beziehungen Marokkos zur EU wegen der Westsaharafrage verschlechtert.

7.4. Externalisierung seit 2018: Aufrüstung, Razzien und ein Massaker

Die EU verzichtete angesichts der hohen Zahl der Bootsankünfte und massenhafter Überquerungen des Grenzzauns von Ceuta im Jahr 2018 bewusst auf eine klare Positionierung in der Westsaharafrage, da sie bei der Kontrolle der Migrationsbewegungen auf die Kooperation mit Marokko angewiesen war. In diesem Zusammenhang kam sie auch Marokkos Forderungen nach Ausrüstungen entgegen. Der Dialog der EU mit Marokko wurde 2019 wieder aufgenommen. Rückblickend schrieb der Europäische Rat in seinem „Update on the Field of Play“ im Juli 2023:

Nach mehreren Jahren des Stillstands (im Rahmen des allgemeinen Einfrierens der Beziehungen zwischen der EU und Marokko) wurde der Dialog 2019 formell wieder aufgenommen (Assoziationsrat vom 27. Juni 2019). Marokko erkennt Migration und Sicherheit als zentrale Bereiche für die Zusammenarbeit mit der EU an. Marokko hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Strom irregulärer Migranten, die über das Mittelmeer in die EU gelangen, deutlich zu verringern. Allerdings ist die Zahl der irregulären Ankünfte von Marokkanern und aus Marokko nach wie vor hoch, insbesondere auf der Route über die Kanarischen Inseln.

Im August 2019 gab der Directeur de la Migration et de la surveillance des frontières im Innenministerium, Khalid Zerouali, dem Diario ein Interview, als Ausdruck des Tauwetters in den diplomatischen Beziehungen zwischen Marokko und der EU im Sommer 2019. Er betonte, dass Marokko seit über 15 Jahren erfolgreich irreguläre Migration nach Spanien eindämmt habe. Zwischen 2014 und 2015 seien 93 % der Überfahrten verhindert worden. 2018 sei der Migrationsdruck jedoch deutlich gestiegen. Marokko habe zehntauasende Ausreisen verhindert und zahlreiche Schleusernetzwerke zerschlagen.

Der Dialog wurde mit umfangreichen Waffenlieferungen unterfüttert. In einem Bericht im Dezember 2019 hieß es:

Marokko wird in den letzten Monaten rasant von der EU für die Grenzüberwachung aufgerüstet. Über 1.300 Fahrzeuge, zumeist Geländewagen, Gefangenentransporter, Motorräder, Ambulanz- und Kühlwagen, 1.400 Computer und Tablets, umfangreiche Kommunikations-, Radar-, Überwachungs- und Scannergerätschaften sowie Drohnen erhält Marokko gerade von der EU. Kürzlich hat der EU-Rechnungshof moniert, dass Marokko beim Empfang von Geldern und Materialien ein Fass ohne Boden ist: Es gibt keine Rechenschaftspflicht und kein Monitoring über Ausgaben, Anschaffungen und Verwendungen.

Die Europäische Kommission gibt an, in den Jahren 2014 bis 2022 mehr als 2,1 Milliarden Euro an Marokko gezahlt zu haben: davon 1,5 Milliarden in Form bilateraler Verträge und unter dem EUTF. Weitere 631 Millionen kamen unter dem NDICI (Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit) hinzu, das den EUTF seit 2021 abgelöst hat. Die Vielschichtigkeit der europäischen Programme, die Verknüpfung von europäischen und bilateralen Programmen und die Implementierung aus Sonderfonds durch IROs und NROs erschwert es, eine genaue Übersicht zu erstellen. Die Liste im Annex 1 des Draft Action Plan Morocco vom 18.04.2022, die von Statewatch veröffentlicht wurde, gibt einige Hinweise.

Bis 2021 war der EUTF das wichtigste Instrument der EU zur „Unterstützung Marokko im Bereich der Migration“. Über regionale und bilaterale Verträge wurden für diesen Bereich 234 Millionen Euro bereitgestellt. 77 % dieser Gelder, nämlich 178 Millionen, flossen in den Bereich integrierte Grenzverwaltung, Grenzmanagement und die Bekämpfung von Schmuggel und Menschenhandel. Die Durchführung der EUTF-Projekte läuft bis Dezember 2025. Unter dem NDICI wurden 2022 weitere 150 Millionen Euro für 4 Jahre bereit gestellt mit dem Ziel, „die EU-Marokko Kooperation“ und den „Dialog über Migration“ zu stärken“. Zuletzt wurde im Juni 2023 ein „Southern Neighbourhood migration package“ im Wert von 279 Millionen Euro verabschiedet, das sich auf die Bekämpfung von Schleusern und Menschenhändlern, die Stärkung des Grenzmanagements und die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr bezog.

Sea Arrivals 2025 (25.05.25)

UNHCR Seae Arrivals 2025

Hinter den Floskeln der EU, die stets humanitäre Aspekte und den Kampf gegen Schleuser in den Vordergrund stellt, verbergen sich harte Tatsachen: die Aufrüstung der Grenzbehörden, die Jagd auf Boat-People und Razzien gegen Schwarze afrikanische Migrant:innen im Norden Marokkos.

Die Politik an den Grenzen der spanischen Exklaven hat sich, wie schon im Abschnitt 4.2.2 beschrieben, zum Sinnbild der europäisch Marokkopolitik entwickelt. Seit März 2020 hält Marokko den Zugang zur Landgrenze nach Ceuta und Melilla geschlossen. Ursprünglich als Maßnahme zur Eindämmung der Covid-Pandemie gerechtfertigt, verzögerten die marokkanischen Behörden die Öffnung, um in der Westsahara-Frage Druck auf Spanien auszuüben. Die Trennung zahlreicher Familien und die Unterbrechung des für beide Seiten lukrativen Kleinhandels wurden dabei in Kauf genommen.

Am 17. Mai 2021 lockerten die marokkanischen Sicherheitskräfte vorübergehend die Kontrollen vor Ceuta und ließen 6.000 Menschen passieren, die schwimmend und in Schlauchbooten die Enklave erreichten. Anfang März 2022 gelang es 850 Personen, den Zaun in Melilla zu überwinden. Die Sanchez-Regierung verstand die Botschaft und begann, ihre Position im Westsahara-Konflikt zu überdenken. Im Gegenzug akzeptierte Marokko Rückführungsflüge von Spanien. Im April 2022 besuchte Pedro Sánches Rabat und bestätigte die Änderung der spanischen Position.

Am 24. Juni bedankten sich die marokkanischen Sicherheitskräfte, indem sie das Massaker von Melilla inszenierten. Im Anschluss gab es diverse diplomatische Bemühungen, aus dem Geschehenen Nutzen zu ziehen. Während Pedro Sánchez von einem „Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens" sprach und versuchte, die NATO mit dem Problem Ceuta und Melilla zu befassen, beschuldigte die marokkanische Regierung Algerien: Die „Angreifer" seien über die algerische Grenze nach Marokko eingereist und hätten „die absichtliche Laxheit Algeriens bei der Kontrolle seiner Grenzen zu Marokko ausgenutzt", hieß es in einer Erklärung der marokkanischen Botschaft. Der Ansturm von bis zu 2000 Migranten auf die Grenze deute „auf einen hohen Organisationsgrad, ein geplantes Vorgehen und eine hierarchische Struktur von kampferprobten und ausgebildeten Anführern mit Erfahrung in Konfliktgebieten hin".Die Botschaft: Schwarze Migrant:innen greifen die NATO an und sind Feinde, die Marokko und die EU gemeinsam zu bekämpfen haben.

Aber auch nach dem Massaker sind die Routen aus Marokko noch nicht tot. By sea, by land: Desperate refugees still transit Morocco to get to Europe, schrieb AJE im Oktober 2023. Marokko behauptet, im Jahr 2024 mehr als 78.000 Migrant:innen auf ihrem Weg nach Europa gestoppt zu haben, davon 58% aus Westafrika und 12% aus Nordafrika.[21] Dies betrifft in erster Linie die Atlantikroute; hier beschrieb Pedro Sanchez die Kooperation mit Marokko als „exemplarisch gut“. Mehr als 18.000 Menschen seien von ihren Booten geholt bzw. aus Seenot gerettet worden.

Während es die Gruppen der Schwarzen Migranten aufgegeben haben, gegen die Zäune der Exklaven anzurennen, versuchen es marokkanische und algerische Jugendliche nach wie vor. In einer Zeitungsmeldung vom August 2024 hieß es:

Nach Angaben spanischer Behörden versuchen derzeit Tausende Menschen, illegal in die spanische Nordafrika-Exklave Ceuta zu gelangen und damit in die EU. Seit Donnerstag hätten täglich im Schnitt fast 700 Flüchtlinge probiert, schwimmend oder mit kleinen Booten in die Küstenstadt zu gelangen. Die hauptsächlich aus Marokko und Algerien stammenden Migranten hätten dabei auch den dichten Nebel über dem Meer ausgenutzt.

Footnotes

  1. Zu den kolonialen Hinterlassenschaften gehören regionale Disparitäten mit vernachlässigten peripheren Regionen (insbesondere Rif- und Atlasgebirge), ein abgehobener Verwaltungsapparat, der autoritäre Aufbau des Staats, die französischsprachigen Eliten sowie eine auf Extraktion ausgerichtete Wirtschaftsstruktur.

  2. Marokko kontrolliert 80% des Territoriums der Westsahara, einschließlich des gesamten Küstenverlaufs mit seinen reichen Fischgründen und einschließlich der wertvollen Phosphatvorkommen.

  3. Im Jahr 1991 einigten sich Marokko und die Polisario-Front (eine Befreiungsbewegung, die die Selbstbestimmung der Westsahara anstrebt) auf einen von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand, um ein Referendum über die Selbstbestimmung durchzuführen. Bis heute hat dieses Referendum nicht stattgefunden. Marokko lehnt grundsätzlich jede Abstimmung über die Selbstbestimmung ab, welche die Unabhängigkeit der Westsahara von Marokko als Option einschließen würde. Im Dezember 2020 lehnte der damalige US-Präsident Donald Trump den von den Vereinten Nationen geförderten Prozess zur Selbstbestimmung der Sahrauis ab, indem er die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkannte. Seitdem übt Marokko Druck auf die westlichen Verbündeten aus, darunter Spanien und Frankreich, das Gleiche zu tun und hat mit diesen Bemühungen zunehmend Erfolg.

  4. de Haas, Hein: Morocco: Setting the Stage for Becoming a Migration Transition Country?, Washington DC, Migration Policy Institute 2014; siehe auch die Artikelserie von Hein de Haas auf BpB (2009)

  5. https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf, S.35

  6. Fuchs, Eva (2014): Haraga und "Wirtschaftsmärtyrer" in der transnationalen marokkanischen Gesellschaft, Ethnoscripts 16 (2): S. 107; https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/61345/ssoar-ethnoscripts-2014-2-fuchs-Haraga_und_Wirtschaftsmartyrer_in_der.pdf;sequence=1

  7. Vgl. die Berichte von Marie Pascale Rouff in Archipel 328 (September 2023) und Archipel 339 (September 2024)

  8. UNHCR hat im April 2024 eine Broschüre Kartierung von Schutzdiensten, ein routenbasierter Ansatz veröffentlicht, mit regionalen Adressen, bei denen Migrant:innen Hilfe suchen können.

  9. Schwarze, Christoph (2022): Nicht nur koloniales Erbe. Rassismus gegen Schwarze in Marokko,in: IZ3W 388, S. 38

  10. Brouksy, Omar, Emigration in Marokko: Zwischen Sehnsucht und Resignation, in: Stauffer, Beat (2019): Maghreb, Migration und Mittelmeer, Zürich 2019, S. 103-5

  11. Fuchs, Eva (2014): Haraga und "Wirtschaftsmärtyrer" in der transnationalen marokkanischen Gesellschaft, Ethnoscripts 16 (2): S. 107;

  12. Zu dem Border Management Programme Maghreb schreibt ICMPD: In Morocco: actions undertaken within this component aim at strengthening capacities of main border agencies through the provision of technical equipment in the following domains: border surveillance, document checks, and security, transport, and mobility capacities.

  13. Hierzu und zum Folgenden Pittà, Salvatore und Anja Zickuhr, Marokko: Transit NON Stop, Berlin 2002, S. 39 ff (FFM Heft 9), https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/12/Marokko-Transit-NON-Stop.pdf

  14. Hierzu und zum Folgenden Dietrich, Helmut: Das Mittelmeer als Raum der Abschottung, Berlin 2005 (FFM Heft 10), https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf

  15. Solche Abkommen gibt es mit Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien

  16. Norman, Kelsey P. (2020): Migration Diplomacy and Policy Liberalization in Morocco and Turkey, International Migration Review 54, 1158 – 1183, S. 1164

  17. Ein ‚Meilenstein‘ der ‚neuen‘, externalisierten europäischen Migrationspolitik wurde nach den Ereignissen in Ceuta und Melilla 2005 gesetzt. Stephan Dünnwald (2015): Remote Control?. Europäisches Migrationsmanagement in Mauretanien und Mali. In: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1 (1)

  18. Bartels, Inken (2021): The International Organization for Migration in North Africa. Making International Migration Management, London and New York (Routledge), S.63. Vgl. auch https://migration-control.info/en/blog/die-iom-in-nordafrika/

  19. Norman (2020, siehe FN 17) S. 11667

  20. Tampere bezeichnet das EU-Gipfeltreffen von 1999 , bei dem die Staats- und Regierungschefs der EU erstmals Leitlinien für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik beschlossen.

  21. Die Zahlen für 2023 wurde mit 87.000 angegeben, für 2022 56.000. Siehe DTNext 20.01.24

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