Ruanda
Veröffentlicht Januar 15th, 2024 - von: *** und migration-control.info
Titelfoto: https://togetherwithrefugees.org.uk/stop-the-rwanda-flights/
Stand: 14.01.2024
Basisdaten und kurze Charakterisierung
Das kleine hügelige Land im Zentrum Afrikas mit seinen rund 13 Millionen Einwohner*innen hat einen der grausamsten Völkermorde der jüngeren Geschichte erlebt: 1994 wurden in nur hundert Tagen über eine Million Menschen ermordet, die meisten von ihnen waren von der ethnischen Minderheit der Tutsi sowie moderate Hutu. Der Genozid löste in der Region der Großen Seen Massenfluchtbewegungen aus, die in Afrika bis heute unvergleichbar sind. Dies hatte unter anderem zahlreiche Konflikte und Kriege im Nachbarland Kongo zur Folge. Bis heute ist nicht nur Ruanda, sondern die ganze erweiterte Region von diesem Ereignis geprägt.
Die Einteilung der Bevölkerung in Ruanda ist bis heute stark von der kolonialen Vergangenheit bestimmt. In den 1890ern trafen deutsche Kolonialisten im heutigen Ruanda und Burundi “auf Monarchien mit komplexen sozialen Gefügen."[1] Die Hutu, Tutsi und die kleine Minderheit der Twa differenzierten sich entlang der Verfügung über unterschiedliche Ressourcen (wie Herden, Land etc.) aus und hatten unterschiedliche Aufgaben. Die deutsche Kolonialmacht interpretierte die Unterschiede zwischen den Gruppen rassistisch und integrierte sie unterschiedlich in ihr Herrschaftssystem: die Tutsi galten als rassistisch überlegen, da sie den Niloten zugerechnet wurden und somit verwandt mit den “kaukasischen” und damit europäischen Völkern. Dies verhinderte eine Solidarisierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und beschränkte schlussendlich auch soziale Mobilität. Die Differenzierung anhand rassistischer Logiken wurde von der folgenden belgischen Kolonialmacht beibehalten und verstetigt. “Vor der Kolonialisierung konnte ein Hutu Tutsi und ein Tutsi Hutu werden. Das war danach nicht mehr möglich. Deutschland und Belgien hatten Hutu und Tutsi gegeneinander ausgespielt, schrieben sie ethnisch fest und bestimmten damit bis heute die Konflikte in Ruanda und Burundi."[2] Mit Blick auf die absehbare Dekolonisation wurde unter der belgischen Kolonialmacht die Hälfte aller Tutsi in der Verwaltung durch Hutu ersetzt. Das Machtgefälle änderte sich, auch als Hutu-Revolution bekannt, und die Hutu strebten nun eine Hutu-Mehrheit und die Abschaffung der Tutsi-Herrschaft an. Entsprechend bezog sich auch die antikoloniale Befreiungsideologie auf die “rassistischen Mythen der frühen Kolonialzeit"[3] und die Aufstände zwischen 1959 und 1961 richteten sich gegen die belgische Kolonialmacht sowie die Tutsi-Elite. “Die ‘soziale’ Revolution von 1959 vollzog sich somit im Medium von race. Zusammengenommen mit den Auseinandersetzungen bis 1963, bei denen exilierte Tutsi-Gruppen bewaffnet versuchten, den status quo ante wieder zu erringen, löste der Umbruch die vom Kolonialismus geschaffenen politischen Identitäten nicht nur nicht auf, sondern verstärkte sie vielmehr."[4]
Ökonomie und Regierung
Der Genozid 1994 an über einer Million Menschen war die langfristige Folge einer rassistisch geprägten Politik der damaligen Hutu-Regierung unter Präsident Yuvenal Habyarimana, der sich 1973 an die Macht geputscht hatte. Er bevorzugte die Hutu-Mehrheit gegenüber der Tutsi-Minderheit in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen. Das nannten sie „demokratisch“ im Sinne einer Herrschaft der Mehrheit der Bevölkerung über die Minderheit. Dabei war die Hutu-Diktatur weit entfernt von jeglichen demokratischen Grundsätzen. Deswegen muss der Begriff Demokratie im ruandischen Kontext stets hinterfragt werden.
Ruandas Regierungsführung ist heute immer noch weit davon entfernt, demokratisch zu sein. Präsident Kagame, der faktisch seit 1994 an der Macht ist, aber erst im Jahr 2000 nach der neuen Verfassung offiziell zum Präsidenten ernannt wurde, regiert das Land bis heute mit starker Hand. Die drei Wahlgänge in den Jahren 2003, 2010 und 2017 gewann er mit weit mehr als 90 Prozent der Stimmen. Seine allmächtige Partei, die RPF (Ruandische Patriotische Front), ist aus seiner ehemaligen Guerillabewegung hervorgegangen. Bis heute haben darin vor allem Militärs das Sagen. Oppositionsparteien sind zwar zugelassen, sie schaffen es aber meist nicht einmal ins Parlament. Sie sollen den Schein wahren, dass die Regierungsform keine Ein-Parteien-Herrschaft darstellt.
Die Wirtschaft ist bis heute fast gänzlich dominiert von einigen wenigen Akteur*innen, die einen Großteil des Marktes und Handels unter sich aufteilen, darunter beispielsweise das Großunternehmen Crystal Ventures, das als langer Arm der RPF-Partei gilt und quasi alle Staatsaufträge vom Straßenbau bis hin zum Coffeeshop umsetzt. Die meisten der weit verzweigten Tochtergesellschaften gehören Angehörigen der Militärs von Kagames ehemaliger Guerillabewegung.
Ruanda ist bis heute ein vornehmlich landwirtschaftlich geprägtes Land, wobei die Bäuer*innen – die meisten davon Hutu – gewissen Verordnungen folgen müssen, die angeben, was sie anbauen sollen. Es erinnert an staatlich verordnete Planwirtschaft. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Wirtschaftswachstum enorm an Fahrt aufgenommen. Das kleine Land, das nach dem Völkermord in Schutt und Asche lag, glänzt heute als das „Singapur Afrikas“, wie es gern bezeichnet wird. Kagame setzt in seiner staatlich angeleiteten Wirtschaftspolitik jüngst vor allem auf den Dienstleistungssektor. Ruanda soll ein Magnet für Tourist*innen auf dem Kontinent werden sowie ein Hub für internationale Gipfel und Kongress und Austragungsort für Sportveranstaltungen. Dafür wurde in den Hotelsektor und die Infrastruktur investiert, Stadien und Kongresszentren gebaut, eine eigene Fluggesellschaft gegründet und staatlich subventioniert. Für diesen jungen und extrem subventionierten Sektor war die Corona-Pandemie mit ihren monatelangen Lockdowns und Reisebeschränkungen ein finanzielles Desaster, das den ruandischen Staatshaushalt und die Wirtschaft ins Wanken bringen ließ.
Migrationsbewegungen
Eine Migrationsgeschichte zu haben ist heute Teil der ruandischen Identität. Denn die meisten Ruander*innen sind in Flüchtlingslagern in der Region oder im Exil in Europa oder Nordamerika aufgewachsen, wie auch Präsident Paul Kagame selbst, der in den Flüchtlingslagern im benachbarten Uganda groß geworden ist. Bereits Ende der 1950er und in den 1970er Jahren hatte es in dem kleinen Land Pogrome gegen die Tutsi-Minderheit gegeben, der auch Kagame angehört. So kam es, dass ein Großteil der Tutsi außerhalb des eigenen Landes aufwuchs.
In den 1980er Jahren formierte sich in den Flüchtlingslagern in Uganda eine ruandische Guerilla-Armee, die zunächst auf Seiten der ugandischen Rebellen gegen die dortige diktatorische Regierung kämpfte. Anfang der 1990er Jahre machte diese sich von Uganda unabhängig und marschierte unter der Führung des heutigen Präsidenten Kagame in ihr Heimatland ein, um die dortige Hutu-Regierung zu stürzen. Es kam zum Bürgerkrieg, der im April 1994 in einem grausamen Völkermord gipfelte.
Jahrzehntelang hatten unter der Regierung von Hutu-Präsident Habyarimana die Hassreden und Anti-Tutsi-Propaganda in den Medien die Hutu-Bevölkerung so radikalisiert, dass selbst Menschen, die zuvor noch nie einen kriminellen Akt begangen hatten, bereit waren, ihre Nachbar*innen und Kolleg*innen zu töten. In den Jahren vor dem Genozid, wurde die ruandische Regierung von französischen Offiziellen ausgerüstet, bewaffnet, trainiert und geschützt. Die französische Regierung wusste über die eskalierende Rhetorik sowie die Vorbereitung von Massakern Bescheid, verfolgte jedoch ihre eigenen geo-politischen Interessen. Als das Morden begann, tat Frankreich zunächst nichts, um es zu stoppen.[5] Ausgelöst wurde der Völkermord durch einen Flugzeugabsturz Anfang April 1994, in welchem der Hutu-Präsident Habyarimana ums Leben kam. Dessen Generäle beschuldigten die Tutsi-Rebellen von Kagame, die Maschine abgeschossen zu haben. Das diente als Vorwand, nun alle Tutsi zu töten. Die Hutu-Armee zog los und formierte Milizen, die in nur drei Monaten über eine Million Menschen mit Macheten brutal ermordeten. Als es Kagames Guerilla-Truppen im Juli 1994 gelang, die Hauptstadt Kigali einzunehmen, hörte das Massenmorden schlagartig auf. Die Hutu-Regierung und deren Armee flohen in Richtung Kongo. Die Täter des Völkermordes formierten später im kongolesischen Dschungel die Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), eine der brutalsten Rebellengruppen, die im Kongo bis heute ihr Unwesen treibt. Sie verfolgen nach wie vor das Ziel, Ruanda zurückzuerobern und die Tutsi-Regierung zu stürzen. Dieses Bedrohungsszenario gilt bis heute für Ruandas Regierung als Vorwand, sich im Ostkongo auch militärisch zu engagieren und kongolesische Tutsi-Milizen wie die kongolesische M23 (Bewegung des 23. März) zu unterstützen.
Die Flucht der Hutu-Regierung und Armee 1994 in den Kongo löste eine Massenbewegung in der Bevölkerung aus. Über vier Millionen Hutu flohen zu Fuß gen Westen in den Kongo – aus Angst vor der Rache der Tutsi. Umgekehrt flohen die kongolesischen Tutsi von ihren Farmen in den Bergen des Ostkongo, weil sie fürchteten, dass auch sie den Hutu-Tätern zum Opfer fallen würden. Sie suchten nun Schutz in Ruanda, was von der Tutsi-Guerilla unter Kagame, wie sie es nennen, „befreit“ worden war. In den darauffolgenden Jahren kehrte von überall her die Tutsi-Diaspora nach Ruanda zurück, während sich die Hutu-Bevölkerung im Ostkongo niederließ. Die neu formierte FDLR, die aus der alten Hutu-Armee hervorging, eroberte große Gebiete und die Farmen der Tutsi, wo sie sich nun einrichteten. Ziel der M23-Rebellengruppe, die sich fast ausschließlich aus kongolesischen Tutsi zusammensetzt, die in Ruandas Flüchtlingslagern groß geworden sind, ist es bis heute, ihre Farmen in den Bergen des Ostkongos von der FDLR zu befreien und nach Hause zurückzukehren.
Im vergangenen Jahrzehnt der Kagame-Herrschaft flohen zunehmend Tutsi aus dem Land, denn jegliche Opposition sowie die Meinungs- oder Medienfreiheit werden von allen Seiten unterdrückt. Selbst ehemalige verbündete Militärs aus Kagames engstem Machtzirkel brachen mit ihm und formierten 2010 im Exil in den USA und Südafrika den RNC (Ruandischen Nationalen Kongress). Das RNC-Gründungsmitglied und ehemaliger Geheimdienstchef Ruandas, Patrick Karegeya, wurde 2013 in Südafrika von Auftragskillern ermordet. Hutu- und Tutsi-Exilgruppen bemühten sich in den vergangenen Jahren immer wieder um Allianzen. Sie versuchten 2019 eine bewaffnete Koalition im Kongo zu bilden, um Ruanda von dort aus anzugreifen, dazu verbündeten sie sich sogar mit der FDLR. Seitdem besteht in Kigali die Tendenz, sämtliche Mitglieder der Diaspora als Terrorist*innen zu bezeichnen. Migrationsbewegungen zu überwachen gehört damit zum höchsten Ziel von Ruandas gut ausgestatteten und von israelischen Agent*innen trainierten Geheimdienst, dem die Immigrationsbehörde vollständig untersteht – die beiden Gebäude befinden sich in Kigali direkt gegenüber und liegen nur einen Steinwurf vom Präsidentenbüro entfernt.
Zugleich präsentierte sich Ruanda in den vergangenen Jahren mehrfach als Aufnahmeland für Geflüchtete und Migrant*innen. In Ruanda leben derzeit etwa 120.000 Geflüchtete, vor allem aus den Nachbarländern Burundi und Kongo. Dazu kommen einige wenige hundert Menschen aus Eritrea und Somalia, die in den vergangenen Jahren vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR aus Libyen nach Ruanda ausgeflogen worden sind. Die Bedingungen der Geflüchteten sollen hier deutlich besser als in den Folterlagern Libyens sein, jedoch befinden sich die Menschen in einem anhaltenden Zustand der Unsicherheit und des Wartens. “So finanziert Europa zwar bereitwillig die Unterbringung der Geflüchteten in Afrika, der Wille zur Aufnahme scheint aber bislang weniger ausgeprägt."[6] Zudem ist davon auszugehen, dass europäische Staaten und die EU hier versuchen, ein Vorzeigeprojekt zu etablieren, um weitere Abschiebeabkommen vorläufig akzeptabel zu machen.
Projekte der EU
Europäische Interessen
Verschiedene europäische Akteur*innen, besonders Frankreich, haben große Eigeninteressen in Ruanda. 2021 wurden ruandische Militärs in Mozambique eingesetzt, offiziell um den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen. De facto wurden hier euro-amerikanische Wirtschaftsinteressen in der Region vertreten. "Rwandan troops captured the port city of Mocímboa da Praia, where just off the coast sits a massive natural gas concession held by the French energy company TotalEnergies SE and the United States energy company ExxonMobil."[7] Einige Monate zuvor hatte Frankreich seine Rolle beim Genozid in Ruanda eingestanden, wohl um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu verbessern. 2022 beschloss die EU weitere Finanzhilfen für das ruandische Militär.
Ruanda ist Teil einer europäischen Wachstums- und Investitionsagenda. Französische Unternehmen sind in verschiedenen Sektoren wie Energie, Finanzen, Agrikultur sowie im Bau involviert. Auch Belgien, die Niederlande, Deutschland und Großbritannien gehören zu den aktiven europäischen Ländern im Handel und mit Investitionen in Ruanda. Einige der wirtschaftlichen Beziehungen werden durch Economic Partnership Agreements (EPA) strukturiert. Ruanda hat zusammen mit anderen ostafrikanischen Ländern ein EPA mit der EU unterzeichnet. Die EPAs werden von vielen Seiten stark kritisiert, da sie die wirtschaftliche Abhängigkeit von Europa reproduzieren. “Viele der afrikanischen Länder sehen die EPAs als Ausdruck der Vorherrschaft europäischer Wirtschaftsinteressen und Einschränkung ihres politischen Handlungsspielraums. Durch die Öffnung für europäische Importe wird der Druck auf die Landwirtschaft und die wenig entwickelte verarbeitende Industrie in Afrika deutlich steigen."[8]Zudem werden die EPAs unter ungleichen Machtverhältnissen ausgehandelt und “die erpresserische Verhandlungsführung der EU kritisiert und deren wahre Ziele infrage gestellt."[9]
Außerdem wird Ruanda als ein weiterer Akteur in der europäischen Migrationskontrolle gehandelt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung betont beispielsweise, dass “die Eindämmung der Migrantenströme aus Afrika … neue Initiativen zur wirtschaftlichen Entwicklung Subsahara-Afrikas” erfordert und bezeichnet Ruanda als “vorbildliche Entwicklungsdiktatur”.[10] Demnach sind die politischen Beziehungen zwischen der EU und Ruanda Teil einer umfassenderen EU-Afrika-Partnerschaft, die von den Staats- und Regierungschefs auf dem zweiten EU-Afrika-Gipfel 2007 angenommen wurde. 2017 haben Staats- und Regierungschefs der EU und Afrikas in Abidjan eine gemeinsame Erklärung zu „Investitionen in die Jugend für beschleunigtes integratives Wachstum und nachhaltige Entwicklung“ angenommen. Darauf aufbauend kündigte der ehemalige Präsident der EU-Kommission in seiner Rede 2018 eine neue Afrika-Europa-Allianz für nachhaltige Investitionen und Arbeitsplätze an.[11] Die grausame Vergangenheit Ruandas ziehen die EU und europäische Staaten als Begründung für ihre Entwicklungspolitik im Land heran. Die Bildung der Jugend, die Verringerung der Arbeitslosigkeit und stabiles Wachstum sind EU-Ziele, die einen erneuten Völkermord – ausgeführt durch arbeitslose ungebildete Jugendliche, so das EU-Narrativ – verhindern sollen. Schlüssiger scheint es allerdings das europäische Engagement im Lichte eigener, übergeordneter Wirtschaftsinteressen sowie dem Ziel zu betrachten, Migrationsbewegungen einzudämmen und Abschiebungen zu erleichtern.
Ruanda als “Vorbild” europäischer Externalisierungspolitik
Ruanda hat 2015 mit dem eng befreundeten Partnerland Israel einen Deal abgeschlossen, der in vielerlei Hinsicht als Vorbild für die späteren Abkommen der EU mit afrikanischen Ländern herangezogen werden kann. Es handelt sich um einen Deal, Migrant*innen aufzunehmen, um dafür Ausbildungshilfe für die Sicherheitskräfte und den Geheimdienst zu erhalten. Ruanda nahm nach Israel gekommene Geflüchtete aus Afrika auf und dafür wurden ruandische Geheimdienstagent*innen in Israel ausgebildet. Die meisten Aufgenommenen waren Eritreer*innen, die dann aber nach ihrer meist unfreiwilligen Abschiebung nach Ruanda weiter nach Uganda reisten, wo sie Familien haben.[12]
Kontrolle durch Biometrisierung
Die Abschiebungen aus Israel wurden 2018 nach heftiger Kritik eingestellt. Doch seitdem verfügt Ruanda über israelische Überwachungstechnik, mit der sie fast jede*n Bürger*in im In- und Ausland überwachen lässt.
Ruanda hat in den vergangenen Jahren enorm in die Sicherheit der Grenzen und in die Migrationskontrolle investiert, meist finanziert aus dem geheimen Budget für den Geheimdienst und weitere Sicherheitsdienste. Es war eines der ersten Länder in der Region der Großen Seen, das biometrische Drehkreuze an den Grenzen errichtete und seine rund 13 Millionen Bürger*innen biometrisch erfasste.
Das hat enorme Folgen, denn seit den Wahlen 2017 machen in Ruanda die Wähler*innen kein Kreuz mehr auf dem Stimmzettel, sondern hinterlassen ihren Fingerabdruck neben dem Foto ihres*r Kandidat*in. Die Zivilgesellschaft kritisiert, dass die Abstimmung dadurch nicht mehr anonym sei, da der Geheimdienst einen Massenabgleich der Fingerabdrücke durchführen könne. Ein Beispiel: Ruandas Präsident Kagame erhielt beim Referendum 2015, zur Abstimmung über eine in der Verfassung nicht vorgesehene dritte Amtszeit, 98 Prozent der Stimmen. Nur rund 100.000 Menschen stimmten dagegen – mit ihrem Fingerabdruck wohlgemerkt. Kagames Kritiker*innen letztlich ausfindig zu machen, ist in dem kleinen Land nicht unrealistisch. Deswegen fürchten die meisten Ruander*innen, dass ihnen die Freiheit zu wählen längst genommen wurde. Menschenrechtsorganisationen bezeichnen Ruanda als Überwachungsstaat. Doch erst die Biometrisierung macht allumfassende Kontrolle möglich.
UNCHR-Flüge nach Ruanda
Seit 2019 landen in Kigali alle paar Monate UNHCR-Charterflüge aus Libyen. An Bord: Migrant*innen, meist aus West- und Ostafrika, die vom UNHCR aus libyschen Lagern evakuiert wurden. In diesen Lagern herrschen brutale Bedingungen: Folter und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Die Berichte über Menschenrechtsverletzungen setzten die EU international unter Druck. Aber anstatt die Geflüchteten nach Europa zu evakuieren, finanzierte die EU den sogenannten „Notfalltransitmechanismus“ (ETM mit 12,5 Millionen Euro aus dem EU-Trust Fonds für Afrika).
Dieser Notfalltransitmechanismus wurde durch eine Absichtserklärung zwischen UNHCR, der Regierung Ruandas und der Afrikanischen Union (AU) eingerichtet. Dabei identifiziert UNHCR in Libyen gestrandete Migrant*innen und bietet ihnen an, dass sie freiwillig nach Ruanda fliegen können, um dort ein Asylverfahren zu durchlaufen. Jedoch sind wenige Länder aufnahmebereit und so befinden sich die Geflüchteten auch hier in einem Schwebe- und Wartezustand.[13]
Laut Angaben des UNHCR lebten im Juni 2022 rund 370 Migrant*innen im UNHCR-Auffanglager in Gashora, rund 60 Kilometer außerhalb der ruandischen Hauptstadt Kigali. Die meisten warten auf die Zusage von Drittländern, dorthin umgesiedelt zu werden. Wer keine Zusage erhält und nicht in das Heimatland zurückkehren möchte, hat das Recht, in Ruanda zu bleiben und zu studieren oder eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Es handle sich dabei, so das UNHCR, um eine Maßnahme der „humanitären Nothilfe für die schlimmen und lebensbedrohlichen Bedingungen”.
Zwischen September 2019 und Dezember 2023 wurden auf diese Weise über 2,000 Menschen nach Ruanda ausgeflogen.[14] Laut UNHCR haben sich keine Personen für Ruanda oder eine Rückkehr in ihr Heimatland entschieden. Bis Dezember 2023 wurden 1,200 Menschen in verschiedene Länder in Europa, den USA und nach Kanada umgesiedelt. Die verbleibenden Personen „durchlaufen verschiedene Fallbearbeitungen“, so der UNHCR-Sprecher.
Der EU-Ruanda-Deal
Der Flüchtlingsdeal zwischen Israel und Ruanda sowie dem UNHCR und Ruanda lieferte Großbritannien jüngst ein Vorbild. 2021 waren rund 28.300 Menschen in kleinen Booten über den Ärmelkanal gekommen, dreimal mehr als im Jahr zuvor.[15] Von der Küstenwache an Land gebracht, warten sie nun in Großbritannien auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Zurückschicken in die EU kann London sie seit dem Brexit nicht mehr. Etwa zwei Drittel aller Menschen, die den Ärmelkanal überqueren, wird am Ende Asyl gewährt.
Die Maßnahmen sollen der Abschreckung dienen, um, so die ehemalige britische Innenministerin Priti Patel, den Schleusergangs das Handwerk zu legen, die hinter vielen Überfahrten in Schlauchbooten aus Frankreich über den Ärmelkanal stecken. Zudem sollen die hohen Kosten der Unterbringung von Asylsuchenden – derzeit umgerechnet 5,6 Millionen Euro pro Tag – durch die Schnellüberstellung nach Ruanda gesenkt werden.
Ein entsprechendes Abkommen gaben der damalige britische Premierminister Boris Johnson und die Regierung in Kigali im April 2022 bekannt. Dies würde Menschenleben retten und Flüchtende in ein sicheres Land bringen, so die britische Regierung. Ruandas Außenminister Vincent Biruta betonte bei der Unterzeichnung des Flüchtlingsdeals mit der damaligen britischen Innenminister in Patel in Kigali am 14. April, Ruanda „begrüße“ die Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich: „Hier geht es darum sicherzustellen, dass die Menschen geschützt, respektiert und befähigt werden, ihre eigenen Ambitionen voranzutreiben und sich dauerhaft in Ruanda niederzulassen, wenn sie dies wünschen“, betonte er. Zu betonen ist vielmehr, dass Menschen so das Recht auf einen Asylantrag in Großbritannien oder der EU verwehrt bleibt und dass die Unterbringung in Ruanda für viele Personen ein Dauerzustand der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit sein wird.
Als im April 2022 der Flüchtlingsdeal mit Großbritannien unterzeichnet wurde, waren in Ruanda die Vorbereitungen für das Commonwealth-Treffen (CHOGUM) im Juni 2022 in vollem Gange: neue Hotels, Straßen und Konferenzzentren waren gerade für das wichtigste internationale Gipfeltreffen fertiggestellt worden, ein Prestige-Event für Ruanda. Nach der Corona-Krise und den teuren Investitionen in die Infrastruktur hat das Land aber ein Defizit im Staatshaushalt. Mit dem Deal lässt sich dies abfedern: Ruandas Regierung erhält dafür aus London 144 Millionen Euro. Der sogenannte Ökonomische Transformations- und Integrationsfonds soll vor allem für Sekundärbildung, Universitäts- und Berufsausbildung sowie Sprachangebote eingesetzt werden, nicht nur für Migrant*innen, heißt es in dem Abkommen. Ruanda sichert wiederum zu, den Migrant*innen eine Arbeitserlaubnis und freien Zugang zur Gesundheitsversorgung geben zu wollen. Es sollen aus dem Fonds langfristig auch Start-ups junger Unternehmer*innen unterstützt werden, vor allem in Ruandas aufsteigender Tech-Szene.
Nach heftiger Kritik stoppte letztlich im Juni 2022 eine Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in letzter Minute den ersten geplanten Abschiebeflug aus Großbritannien nach Ruanda. Das Gericht in Straßburg sah „ein echtes Risiko irreversibler Schäden“ für die Betroffenen im Falle einer Umsetzung des Vorhabens, so die Begründung. Auch das UNHCR kritisierte das Vorhaben, da es der Flüchtlingskonvention widerspricht.
Die Regierung in London will den Plan dennoch weiterverfolgen. Sie sei zwar enttäuscht, werde sich aber „nicht davon abbringen lassen, das Richtige zu tun“, erklärte die damalige Innenministerin Patel. Anwält*innen prüften nun jede Entscheidung im Zusammenhang mit dem gescheiterten Abschiebeflug. Nachdem das oberste britische Gericht gegen die Abschiebung von Asylsuchenden nach Ruanda geurteilt hat ist der Plan immer noch nicht aufgegeben. Im Dezember 2023 unterzeichnete Innenminister James Cleverly in dem afrikanischen Land einen Vertrag, mit dem die konservative Regierung ein Urteil des obersten britischen Gerichts umgehen will.[16]
Der Abschiebedeal dient nun als Blaupause für andere Länder, die ähnlich vorgehen wollen. Auch das dänische Außenministerium kündigt im September 2022 an, ein Büro in Ruanda einzurichten und Diplomat*innen zu entsenden, um ein Aufnahmezentrum für Asylsuchende in Ruanda aufzubauen. Asylbewerber*innen sollen während der Bearbeitung ihrer Asylanträge nicht in Dänemark leben und sollen deswegen nach Ruanda ausgeflogen werden. Wenn sie dem nicht freiwillig zustimmen, soll laut einem Gesetzesentwurf „unmittelbarer Zwang“ erfolgen.[0fc5da]
Laut der EU-Kommission lässt sich diese Idee nicht innerhalb der geltenden Konventionen durchführen. Ab dem Augenblick, wo Dänemark die ersten Asylsuchenden nach Ruanda schickt, will die EU-Kommission daher juristisch untersuchen lassen, ob die dänische Regierung hierbei tatsächlich gegen Regeln verstößt. Dänemark hat innerhalb der EU jedoch einen Sonderstatus und hält sich das Recht vor, dass die EU nicht in allen Bereichen die Regeln bestimmen kann: In Sachen Grenzkontrolle, Ausländerpolitik sowie Zivil- und Strafrecht lässt sich Dänemark nicht von der EU reinreden. Laut der EU-Kommission müsse sich Dänemark aber an das Dublin-Abkommen halten, welches einem Asylzentrum in Ruanda im Wege stehen könnte.
Im Januar 2023 hat Dänemark die Pläne für ein Asylbewerberzentrum in Ruanda erstmal gestoppt. Trotzdem ist das “Ruanda-Modell” weiterhin in den Schlagzeilen. Österreich hat im Herbst 2023 als eines der ersten Länder in Europa mit Großbritannien ein Kooperationsabkommen unterzeichnet, womit die Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb Europas nach britischem Vorbild angestrebt wird. Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst spricht im November 2023 davon, auf Staaten in Nordafrika zuzugehen und Geflüchtete dorthin zu bringen, “damit dort Verfahren und Schutzgewährung nach rechtsstaatlichen Regeln stattfinden. [...] Das heißt, die, die keinen Schutzstatus erwarten können, kommen erst gar nicht in unser Land. Dabei müssen wir diese Partnerländer finanziell unterstützen".[17]Die Bundesregierung hat beschlossen zu prüfen, «ob Asylverfahren außerhalb Europas möglich sind. Geprüft werden soll, ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann".[18] Dabei steht vor allem erstmal die Frage nach einem Land, welches ein Asylverfahren-Zentrum zulässt, im Vordergrund. Marie Walter-Franke, Research Fellow im Migrationsprogramm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hat “bisher keinen seriösen Vorschlag gehört. Aber es wird sicherlich an die EU-Beitrittskandidaten im Westbalkan gedacht, später an die Ukraine, möglicherweise an Moldau und Georgien. Auch dafür werden diese Länder als so genannte „Sichere Drittstaaten“ eingestuft. Aber es wäre ein sehr weiter Weg, bis die sich bereit erklären würden, bei einem solchen Modell mitzumachen."[19]Grundlegend bleibt das Ruanda-Modell, vor allem in konservativen und rechtsradikalen Kreisen, beliebt und die postfaschistische italienische Regierungschefin Giorgia Meloni gab jüngst bekannt, dass die Asylverfahren auch nach Albanien ausgelagert werden könnten.[20]
Wer verliert und inwiefern?
Verlierer*innen sind bei all diesen Deals letztlich die Migrant*innen selbst, denen das Recht auf einen Asylantrag in Großbritannien oder der EU verwehrt bleibt. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass sich die Situation in den Lagern schnell verschlechtern wird und die Unterbringung für viele Personen ein Dauerzustand der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit wird. Schließlich kann sich die Situation auch negativ auf die ruandische Bevölkerung auswirken. Nicht nur wächst der Druck auf die Ressourcen; es ist auch davon auszugehen, dass sich die ruandische Regierung durch die angedachte Schlüsselposition in Migrationsfragen zukünftig internationaler Kritik entziehen kann.
Welchen Widerstand gibt es?
Der Abschiebe-Deal hat in der britischen Zivilgesellschaft enorme Kritik hervorgebracht. Rund 160 britische Hilfsorganisationen erklärten das Programm geschlossen für „schandhaft und grausam“, denn es hebelt das Grundrecht auf Asyl komplett aus. Und auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sprach von einem Verstoß gegen die UN-Flüchtlingskonvention.[21] Die Kritik des UNHCR am britisch-ruandischen Abkommen kontrastiert damit, dass das UNHCR selbst ähnlich verfährt. Oppositionspolitiker*innen in Ruanda kritisierten das Vorhaben und betonen, dass wohlhabende westliche Staaten ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen sollten. Sie führen weiter aus, dass sich der Druck auf die Verteilung von Ressourcen in Ruanda deutlich erhöhen wird.[22]
Migrationsstatistik (Tabelle)
Zahl internationaler Asylsuchender und Geflüchteter im Land (01/2022):
127.269 Geflüchtete, davon 60 Prozent aus Kongo und 40 Prozent aus Burundi.[23]
Zahl der Auswanderer*innen aus Ruanda:
Der Anteil der ruandischen Auswanderer*innen beträgt 4,7 % (588.544) der Gesamtbevölkerung. Die Top-5-Zielländer sind die Demokratische Republik Kongo (254.225), Burundi (71.294), Uganda (70.635), die Republik Kongo (25.891) und Belgien (14.930).
Zahl der Auswanderer*innen nach Europa:
34.359 in der EU
Quellen
Jakob/ Schlindwein: Diktatoren als Türsteher Europas - Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert, Berlin 2017.
Johnson / Schlindwein / Schmolze: Tatort Kongo – Prozess in Deutschland, Berlin 2016.
Schlindwein/ Knaul: Die Währung Mensch, in: tageszeitung, 25.1.2016; https://taz.de/Abschiebepraxis-in-Israel/!5269686/?goMobile2=1578787200052
Schlindwein/ Zylbersztajn-Lewandowski: „Schandhaft und grausam“, in: tageszeitung, 20.4.2022; https://taz.de/Asyldeal-von-Grossbritannien-und-Ruanda/!5846516/
Schlindwein, Simone: Ein Regime wähnt sich umzingelt, in: tageszeitung, 13.2.2014; https://taz.de/Terrorprozess-in-Ruanda/!5048684/
Footnotes
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Gabrielli: Koloniale Spaltung auf Dauer; https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/burundi-ruanda-unabhaengigkeit-deutscher-kolonialismus-hutu-tutsi.
↩ -
Gabrielli: Koloniale Spaltung auf Dauer; https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/burundi-ruanda-unabhaengigkeit-deutscher-kolonialismus-hutu-tutsi.
↩ -
Johnson, zitiert nach Lindner: Radikalisierte Identitäten. Der Genozid in Ruanda und seine (post-)koloniale Vorgeschichte. 2010, pp.34-37. https://shs.hal.science/halshs-00504105/document, S. 35.
↩ -
Lindner: Radikalisierte Identitäten. Der Genozid in Ruanda und seine (post-)koloniale Vorgeschichte. 2010, pp. 34-37. https://shs.hal.science/halshs-00504105/document, S. 35.
↩ -
https://www.aljazeera.com/news/2021/4/19/france-enabled-1994-rwanda-genocide-report-says
↩ - ↩
-
https://www.newframe.com/rwandas-military-is-frances-proxy-on-african-soil/
↩ - ↩
- ↩
-
https://www.kas.de/de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/modell-ruanda-
↩ -
https://www.eeas.europa.eu/rwanda/european-union-and-rwanda_en?s=115
↩ -
Knaul/Schlindwein: Die Ware Mensch, in: taz 25.1.2016
↩ - ↩
-
https://www.unhcr.org/rw/who-we-help/evacuees-from-libya-emergency-transit-mechanism-centre
↩ -
Channel migrants: Crossing numbers in 2021 triple 2020's figure, in: BBC, 4.1.2022
↩ - ↩
-
https://www1.wdr.de/nachrichten/wuest-bund-laender-ruanda-asyl-migration-fluechtlinge-100.html
↩ -
https://www.rosalux.de/news/id/51221/exportschlager-ruanda-modell
↩ -
https://taz.de/Forscherinnen-ueber-Asylantraege-in-Ruanda/!5973427/
↩ -
https://www.rosalux.de/news/id/51221/exportschlager-ruanda-modell
↩ -
UNHCR-Pressemitteilung: UN Refugee Agency opposes UK plan to export asylum, Genf, 14.4.2022
↩ - ↩
-
UNHCR-Länderstatistik: https://reliefweb.int/report/rwanda/unhcr-operational-update-rwanda-february-2022
↩