Türkei

Veröffentlicht Dezember 22nd, 2020

Stand: Oktober 2020

Basisdaten und kurze Charakterisierung

Die Türkei ist ein Land diverser Auswanderungs-, Transit- und Einwanderungsbewegungen. Die Türkei wurde zu einem wichtigen Erstaufnahme- und Transitland vor allem für Menschen, die Schutz vor Krieg und Gewalt in Nachbarländern wie Syrien, Iran und Irak suchen. Die Externalisierungsinteressen der EU und das Interesse der Türkei, die eigene Verhandlungsposition gegenüber der EU zu verbessern, haben die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei grundlegend geprägt. Gleichzeitig fliehen immer mehr türkische Bürger*innen aus der „neuen Türkei“. Das Migrationsregime in der Türkei ist im letzten Jahrzehnt weiter institutionalisiert, rechtlich ausgebaut und vollständig verstaatlicht worden. Diese strukturellen Veränderungen bedeuten jedoch nicht, dass sich das Leben und die Lebensgrundlagen der Migrant*innen verbessert hätten. Das junge, mangelhafte Schutzsystem genügt internationalen Schutzstandards nicht und ist in vielen Fällen intransparent. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge gibt es in der Türkei rund 6 Millionen Migrant*innen und Geflüchtete. Die Türkei ist Mitglied der NATO, des Europarates und seit 2005 Beitrittskandidatin der Europäischen Union.

Ökonomie und Regierung

Die Türkei ist ein hochgradig zentralisierter Einheitsstaat, der 2018 von einem parlamentarischen System in ein Präsidialregime übergegangen ist. Befürworter*innen des türkischen Präsidialsystems sehen es als solide Konstruktion für eine reibungslose Regierungsarbeit. Indes wird das System dafür kritisiert, dass es die Gewaltenteilung praktisch aufgelöst hat und dem Präsidenten enorme Kompetenzen zukommen, etwa die Ernennung von Minister*innen, Gouverneur*innen und hochrangigen Verwaltungsangestellten sowie Einflussmöglichkeiten auf das Justizsystem. Die Einführung des Präsidialregime schloss sich an den zweijährigen Ausnahmezustand vom 20.07.2016 bis zum 19.07.2018 an. Dieser wurde nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verhängt, bei dem etwa 250 Menschen getötet wurden. Auf den Putschversuch folgte, was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als „Säuberung des Systems“ ankündigte: Mehr als 500.000 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, fast 20.000 Menschen wurden verurteilt und rund 150.000 Beamt*innen, Lehrer*innen und Militärangehörige verloren ihre Arbeit, angeblich wegen Verbindungen zu den Putschist*innen.[1] Darüber hinaus wurden mehr als 170 Medienhäuser geschlossen, 150 Journalist*innen und Angestellte in Medienhäusern wurden inhaftiert und über 1.500 Verbände und Organisationen unterschiedlicher Art geschlossen. Eine Anti-Terrorismus-Gesetzgebung und die beschriebene Einführung des Präsidialsystems lösten den Ausnahmezustand ab, ohne die außerordentliche Macht zu beenden, von der die Behörden im Rahmen der Notstandsgesetzgebung Gebrauch gemacht hatten.[2] Amnesty International hat kritisiert, dass „der Ausnahmezustand dazu benutzt wurde, die drakonische Regierungsgewalt zu festigen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die Grundrechte zu beschneiden“. Immer noch werden Reformen verabschiedet, die den Einflussbereich von Präsident Erdoğan erweitern, wie etwa die im Juni 2020 beschlossene Stärkung der sogenannten Behelfspolizei.[3]

Historisch gesehen wurde die Türkische Republik seit ihrer Gründung 1923 bis ins Jahr 1950, vier Jahre nach den ersten Mehrparteienwahlen, von einer einzigen Partei regiert (Republikanische Volkspartei, tr. Cumhuriyet Halk Partisi, CHP). Seither sind die türkischen Regierungen überwiegend rechtsgerichtet.[4] In der modernen und nationalistischen Türkischen Republik kam dem Militär die Rolle des „Hüters der Verfassung“ zu. Es versuchte häufig, die Oberhand über die zivilen Regierungen auszuspielen. In den Jahren 1960, 1971, 1980, 1997 und zuletzt 2016 kam es zu Putsch(versuch)en.

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (tr. Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), die 2001 gegründet wurde, ist seit 2002 an der Macht. Vor allem zwischen 2007 und 2011 konnte sich die AKP als demokratische Kraft mit Reformagenden profilieren. Dieses Image etablierte sie zumindest kurzeitig durch die Thematisierung dreier Felder: der militärisch-zivilen Beziehungen, der sogenannten „Kurdenfrage“ und des Beitritts zur EU. Spätestens seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 hat der demokratische Auftritt der Regierung jedoch nachgelassen und ist nach dem Putschversuch von 2016 und seit dem Übergang zum Präsidialregime kaum mehr erkennbar.

Seit die AKP an die Macht gekommen ist, gehört die Wiederannäherung an die Länder des „Nahen Ostens“ zu den obersten außenpolitischen Prioritäten. Diese Priorität festigte sich, nachdem die kurzlebigen Gespräche über einen EU-Beitritt ins Stocken geraten waren.[5] Auch wenn diese Entwicklung bis zu einem gewissen Grad aus kultureller und ideologischer Perspektive begründet werden können, ist die politische Ökonomie dieser Annäherung von großer Bedeutung. Als Befürworterin der neoliberalen Marktwirtschaft war die AKP immer daran interessiert, neue Auslandsmärkte für türkische Exporteure zu erschließen, insbesondere für die konservative bürgerliche Klasse in Anatolien, die eine der wichtigen Säulen der Partei ist.

Als die Proteste des sogenannten arabischen Frühlings 2011 begannen, war die AKP nicht nur an guten Beziehungen, einschließlich Freihandels- und Freizügigkeitsvereinbarungen, mit möglichst vielen Ländern im „Nahen Osten“ interessiert, sondern letztlich auch daran, dass ideologisch ähnlich strukturierte Regierungen an die Macht kommen, die dann zu idealen Partnerinnen werden sollten. Zugrunde lag die Annahme der türkischen Regierung, dass jeder Machtwechsel in der Region zwangsläufig die Muslimbruderschaft an die Macht bringen würde. In diesem Zusammenhang und zugleich im Streben nach Anerkennung als Regionalmacht wurde die anfängliche türkische Politik der „offenen Tür“ gegenüber Flüchtenden aus Syrien und anderen Ländern geprägt.

Diese Haltung hat sich grundlegend geändert: Die Grenzen wurden hochgezogen und von der Armee abgeriegelt und eine 800 km lange Betonmauer entlang der Grenze zu Syrien errichtet.

Die Dynamik, die zu diesem Wandel geführt hat, lässt sich mit einer Kombination von Faktoren erklären: So hatte die türkische Regierung zunächst fälschlicherweise angenommen, dass der sogenannte arabische Frühling rasch zu einem Machtwechsel führen würde und dass die meisten Flüchtlinge freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten. Darüber hinaus verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation, die von steigender Inflation und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Hinzu kamen die turbulente politische Atmosphäre, die durch das harte Durchgreifen gegen die Opposition und den gescheiterten Putschversuch gekennzeichnet ist und nicht zuletzt die Verschlechterung der weltweiten Stimmung gegenüber Geflüchteten und die Externalisierungs- und Auslagerungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten, wie sie auch im EU-Türkei-Deal deutlich wurde.

In jüngster Zeit erlebt die türkische Wirtschaft starke Turbulenzen. Im August 2020 fiel die Türkische Lira gegenüber dem Euro auf ein Rekordtief. Im April 2020 erreichte die Arbeitslosenquote mit 17,2% einen historischen Höchststand. Die Rezension hat die migrationsfeindlichen Stimmungen weiter angeheizt. Zeitgleich warb die türkische Regierung öffentlich für die Rückkehr von bis zu 2 Millionen Geflüchteten in die von ihr vorgeschlagene „sichere Zone“ in Syrien (siehe 4.2 Sichere Zone).

Migrantische Arbeit in der Türkei

Große Teile der türkischen Wirtschaft, 33% nach Schätzungen von 2019[6], basieren auf informeller und flexibler Arbeit. Diese wird vom Staat toleriert, was daran deutlich wird, dass es keine wirksamen Maßnahmen zur Bekämpfung der informellen Arbeit gibt.[7] Sektoren wie das Baugewerbe, die Landwirtschaft und Textilindustrie sowie der Tourismussektor sind stark von informeller Arbeit abhängig. Da es fast unmöglich ist, formelle Arbeitsgenehmigungen zu erhalten, befinden sich die meisten berufstätigen Migrant*innen in informellen Arbeitsverhältnissen. Die Arbeitssuche ist für viele Geflüchtete der Hauptgrund, die Residenzpflicht zu verletzen und die ihnen zugewiesenen Städte zu verlassen (siehe 3.1 Das türkische Schutzsystem). Neben Sprachbarrieren, mangelndem Wissen über bürokratische Strukturen, fehlenden/unpassenden Qualifikationen und fehlenden Arbeitsgenehmigungen führt auch der Zwang, Geld für den Lebensunterhalt für sich und die Familien zu verdienen, zur besonderen Vulnerabilität von Migrant*innen auf dem (informellen) Arbeitsmarkt.[8] Die Arbeitsmigration, besonders aus Syrien, hat ein Pool an billigen Arbeitskräften geschaffen.[9] Das drückt die Löhne vieler Migrant*innen auch im Vergleich zu denen ihrer türkischen Kolleg*innen und unterstützt das Vorurteil vieler Türk*innen, dass billigere Arbeitskräfte ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.

Studien zufolge kommen Geflüchtete aus Syrien auf drei Wegen auf den türkischen Arbeitsmarkt: a) durch Gründung eigener Unternehmen, oft in Zusammenarbeit mit einheimischen Partner*innen, b) als unabhängige Händler*innen oder Handwerker*innen und c) als Lohnarbeiter*innen. Informelle Wege, auch in Verwandtschaftsnetzen und über Vermittler*innen, sind wichtig, um einen Arbeitsplatz zu finden. Studien zufolge sind Geflüchtete aus Syrien häufig mit Niedriglöhnen, lange Arbeitszeiten, dem Ausbleiben von Lohnzahlungen und Diskriminierung konfrontiert. Zu den üblichen Branchen, in denen Geflüchtete Beschäftigung finden, gehört die Bauindustrie, die Landwirtschaft und die Fabrikproduktion, insbesondere im Textilsektor. Studien aus dem Jahr 2017 zeigen ein erhebliches Lohndefizit.[10] Weiterhin bleibt die Arbeitslosigkeit ein großes Problem.

Kinderarbeit ist in der türkischen Wirtschaft weit verbreitet, um das Überleben der Familie zu sichern, insbesondere bei Familien von Geflüchteten. Im Jahr 2014 gingen Schätzungen davon aus, dass rund eine Million Kinder erwerbstätig waren, etwa die Hälfte von ihnen arbeitete in der Landwirtschaft. Auch Saisonarbeit ist weit verbreitet. Die Ausbeutung von Kindern bei der Ernte von Haselnüssen gilt als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit.

Die dramatischsten Konsequenzen schlechter Arbeitsbedingungen, mangelnder staatlicher Kontrolle und fehlender unternehmerischer Verantwortung sind die tödlichen Arbeitsunfälle, die von den Gewerkschaften in der Türkei auch als arbeitsbedingte Morde bezeichnet werden, um die Verantwortung der Arbeitgeber*innen hervorzuheben. Nach Angaben von Health and Safety Labor Watch-Turkey verloren im Jahr 2018 mindestens 108 Geflüchtete und Migrant*innen ihr Leben bei der Arbeit. Da die Berichterstattung nach wie vor vom Zufall abhängt und die Medien kaum berichten sowie keiner der Todessfälle vor Gericht gebracht wurde, ist zu vermuten, dass die tatsächlichen Zahlen viel höher liegen. Zu den Gründen für diese Situation gehören auch die mangelnde Organisation der Migrant*innen und der fehlende Kontakt zwischen Gewerkschaften und diesem Teil der Arbeiter*innenschaft. Einige Beispiele: Im Juni 2019 starben fünf Menschen nach einem Brand in der Textilfabrik Akpınar in Çayırova im Bezirk Kocaeli. Drei der Opfer waren Syrer, einer war Afghane. Im Januar 2019 starben fünf syrische Arbeiter bei einem Brand in einer Möbelwerkstatt in Ankara.

Migrationsbewegungen

Die Türkei ist ein Land diverser Auswanderungs-, Transit- und Einwanderungsbewegungen. Auch wenn jedes dieser Phänomene in bestimmten historischen Epochen dominierte, war jede Dynamik von Migration in der komplexen Szenerie der Mobilität in der Türkei zu jedem Zeitpunkt vorhanden.

Arbeiter*innen aus der Türkei, die in den 1960er, 1970er Jahren und bis heute in westeuropäische Länder, insbesondere nach (West-)Deutschland, eingewandert sind, stellen die größte und bekannteste Gruppe von Migrant*innen aus der Türkei dar. Diese Gruppe wird traditionell als die Kerngruppe angesehen, um die herum sehr viel komplexere Communities und Netzwerke entstanden sind. Asylsuchende aus der Türkei stellen vermutlich die zweitgrößte Gruppe der türkischen Migrant*innen dar. Während die Menschen in dieser Gruppe traditionell einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehören beziehungsweise diese Identifikation Ausgangspunkt der Flucht war (wie Kurd*innen und Alevit*innen),[11] sind in den jüngsten Bewegungen auch Angehörige der Mittelschicht und Intellektuelle vertreten.

Die Zahl der Asylanträge türkischer Staatsangehöriger spiegelt in hohem Maße die politischen Verhältnisse in der Türkei wider. Diese Zahlen sind vor allem während und nach politischen Unruhen wie Militärputschen und Razzien gegen Oppositionelle und Minderheiten höher. Seit den Rekordzahlen nach dem Militärputsch von 1980 haben die Zahlen der türkischen Asylanträge nach dem Militärputschversuch im Jahr 2016 einen neuen Höhepunkt erreicht.

Das Flüchtlingsschutzregime in der Türkei

Aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer relativen Stabilität ist die Türkei ein Ziel für Schutzsuchende aus den Nachbarländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und Iran. Die Türkei hat die Genfer Konvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 unterzeichnet, wendet die Regelungen aber mit einer geografischen Beschränkung an. Flüchtlinge, die nicht aus europäischen Ländern kommen, können in der Türkei keinen Flüchtlingsstatus und die damit verbundenen Rechte erhalten. Diese Beschränkung wird im Gesetz Nr. 6458 über Ausländer und internationalen Schutz (LFIP) aufrechterhalten, das seit 2013 die Migration im Land regelt. Das LFIP, das als von der EU inspiriert gilt, wurde im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei lange diskutiert und 2013 vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl von Geflüchteten, insbesondere aus Syrien, in Kraft gesetzt.[12] Diese Situation hat zu einer selektiven, improvisierten und nach Herkunftsländern unterschiedlichen Behandlung von Geflüchteten durch die türkischen Behörden geführt. Geflüchtete aus Syrien werden in der Türkei offiziell unter „temporären Schutz“ gemäß LFIP gestellt, ein gruppenbasierter Status, der durch Beschluss des Präsidialamtes beendet oder eingeschränkt werden kann. Menschen, die nicht aus Syrien und nicht aus europäischen Ländern kommen, zum Beispiel aus dem Irak oder Afghanistan, können internationalen Schutz beantragen und einen „bedingten Flüchtlingsstatus“ erhalten. Sowohl der „temporäre“ als auch der „bedingte“ Schutzstatus sind als Übergangslösung konzipiert und eröffnen den Geflüchteten in der Türkei keine langfristigen Perspektiven.[13] Aufgrund von Schwierigkeiten, zum Beispiel beim Zugang zur Registrierung, bleiben viele Geflüchtete ohne Papiere und damit von Inhaftierung und Abschiebung bedroht.[14]

Neben den Geflüchteten aus den Nachbarländern kommen viele Menschen, die sich in der Türkei im Transit befinden, aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Ihre Einreise wurde dadurch erleichtert, dass türkische Fluggesellschaften Direktflüge zwischen Istanbul und mehreren Städten des afrikanischen Kontinents im Angebot hatten. Die Mehrheit von ihnen lebt undokumentiert in der Türkei. Das Auslaufen des Visums oder die Schwierigkeit, Arbeitserlaubnisse zu erlangen, gehören zu den Hauptgründen für die fehlenden Papiere. Die meisten der Migrant*innen stammen aus Kamerun, Gambia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo, Senegal, Äthiopien, Nigeria und Somalia.[15] Nur für einen kleinen Teil war die Türkei Ziel; für die meisten sollte sie nur Transitland sein. Ihre Situation ist in der Regel besser, wenn sie arbeitstätig sind. Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen, doch schätzt man, dass sich allein in Istanbul zwischen 50.000 und 200.000 Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern aufhalten.[16] Die meisten von ihnen arbeiten in den informellen Sektoren wie der Textilindustrie oder als Straßenhändler*innen. In Stadtvierteln wie Kumkapi, Tarlabaşı und Dolapdere gibt es soziale Räume und Netzwerke afrikanischer Communities.[17] Rassismus und sexuelle Belästigung gegen Schwarze Menschen sind weit verbreitet.[18]

Wer internationalen Schutz beantragt, unterliegt dem so genannten „Satelliten-Stadt-Regime“ (“satellite city regime”) und muss sich bei der zuständigen Behörde (Provincial Directorate for Migration Management, PDMM) in der zugewiesenen Provinz registrieren lassen. Allerdings sind nicht alle Provinzen für eine Registrierung offen. Jedes PDMM entscheidet selbst und ohne öffentliche Ankündigung über seine „Öffnung“ oder „Schließung“ für Neuregistrierungen.[19] Es wird geschätzt, dass die meisten großen türkischen (Grenz-)Städte für Neuregistrierungen geschlossen sind. Im Falle einer Schließung sollen die Antragsteller innerhalb von 15 Tagen in eine andere ihnen zugewiesene Stadt reisen. Es wird berichtet, dass dafür keine entsprechenden Reisedokumente ausgehändigt werden, was das Risiko einer Inhaftierung und Abschiebung erhöht.[20] Außerdem wird berichtet, dass es Probleme bei der Beschaffung der für den Antrag erforderlichen Dokumente gibt. Auch Geflüchtete aus Syrien, die einen Antrag auf temporären Schutz stellen wollen, müssen sich beim PDMM registrieren lassen und sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert.[21]

Die Bewegungsfreiheit und die Wohnsitznahme von Schutzsuchenden und Schutzberechtigten in der Türkei sind durch das „Satteliten-Stadt-Regime“ eingeschränkt. Es wurden Meldeanweisungen und Reisebeschränkungen eingeführt.[22] Im August 2015 hat die Generaldirektion für Migrationsmanagement (DGMM) erstmals von der rechtlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, auch die Bewegungsfreiheit von Personen aus Syrien einzuschränken und zu kontrollieren. Im Jahr 2017 wurde eine Meldepflicht für Begünstigte eines Schutzstatus durch die DGMM eingeführt. Verstöße gegen diese Beschränkungen können zur Anwendung eines sogenannten Sicherheitscodes und zur Inhaftierung führen.[23] Während die Behörden in der Vergangenheit die Verpflichtung, in der zugewiesenen Provinz zu bleiben, nicht strikt durchgesetzt haben, kam es 2019 in Istanbul und anderen größeren Städten zu massiven Aufgriffen und Abschiebungen aufgrund fehlender Meldebescheinigungen.

Die Unterbringung stellt nach wie vor ein besonderes Problem für Schutzsuchende und Schutzberechtigte in der Türkei dar. Die Zahl der Erstaufnahmezentren für Personen, die einen temporären Schutz haben, wird stetig verringert. Gleichzeitig steigt die Kapazität in den Abschiebehaftanlagen, auch mit Unterstützung der EU (siehe 4.2.1 Unterstützung im Bereich der Grenzkontrolle und Rückkehr). Am 27. Februar 2020 waren nur 2% aller Personen, die unter temporären Schutz standen, in einem Lager untergebracht. Die überwiegende Mehrheit dieser Menschen ist hinsichtlich der Unterbringung auf sich gestellt. Mangelnde finanzielle Ressourcen, Sprachbarrieren und mangelnde Unterstützung gehören Berichten zufolge zu den Herausforderungen, mit denen Personen, die nicht oder nicht mehr in Lagern untergebracht sind, konfrontiert sind.[24] Dasselbe gilt für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, und für Personen mit einem bedingten Schutzstatus. Für diese Gruppe gibt es nur ein Aufnahme- und Unterbringungszentrum mit 100 Plätzen. In der Regel müssen sich Antragsstellende und Menschen mit Schutzstatus selbst eine Unterkunft suchen.[25] Studien zeigen, dass syrische Geflüchtete den Mietforderungen der Vermieter*innen auf dem Wohnungsmarkt ausgeliefert sind und oft weit mehr als die durchschnittliche Miete zahlen. „Viele Familien leben in bitterer Armut, oft in unhygienischen, ja sogar gefährlichen Wohnverhältnissen“.[26] Besonders alarmierend ist die Wohnsituation in Istanbul, wohin viele Menschen in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz, ziehen.

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist theoretisch für beide Gruppen möglich, obwohl er durch bestimmte zeitliche Begrenzungen und weitere Vorbedingungen eingeschränkt ist. Jedoch wird in der Praxis nur eine sehr kleine Zahl von Arbeitserlaubnissen erteilt. Nach den jüngsten verfügbaren Zahlen erhielten im Jahr 2018 nur 823 Personen aus Afghanistan eine Arbeitserlaubnis. Die absolute Zahl der Syrer*innen mit einer Arbeitserlaubnis ist zwar höher, jedoch ist es auch unter dieser Gruppe nur ein kleiner Prozentsatz, der eine Arbeitserlaubnis erhalten hat.[27] Die meisten Antragstellenden und Menschen mit Schutzstatus sind mit informeller Beschäftigung, Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert (siehe 2.1).[28]

Inhaftierung und Abschiebungen

Illegale Inhaftierungen und Abschiebungen aus der Türkei werden von Beobachter*innen wie Amnesty International, Human Rights Watch und anderen kontinuierlich dokumentiert.[29] Der Abbau der Demokratie in der Türkei wirkt sich auch auf das gesamte Schutzsystem aus und hat dessen Standards verschlechtert, insbesondere im Hinblick auf den Schutz vor Refoulement.

Im Oktober 2016 wurde mit dem Präsidialerlass 676 die Möglichkeit der Abschiebungen ausgeweitet. Seither kann ein Beschluss zur Abschiebung in jeder Phase des Antrags auf internationalen Schutz oder nach Gewährung des Schutzes erlassen werden, wenn „die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ vorliegt. Die aufschiebende Wirkung einer Berufung gegen die Ausweisung wurde in diesen Fällen aufgehoben.[30] Erst nach einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs im Jahr 2019 wurde diese Ausnahme rückgängig gemacht.[31] Der Erlass sieht kein formelles Verfahren zur Beurteilung der entsprechenden Vorwürfe vor. Laut dem Erlass ist keine gerichtliche Entscheidung notwendig, um die Abschiebeanordnung auszulösen.

Es wurde eine lange Liste an Sicherheitsvermerken, sogenannten „Codes“, eingeführt. Diese werden von der Generaldirektion für Migrationsmanagement (DGMM) ausgestellt. Weder diese Liste selbst noch ihre Anwendung werden transparent geregelt.[32] NGOs berichten, dass Menschen oft zufällig davon erfahren, dass ein Code dieser Liste auf sie angewandt wurde. Abschiebungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit [Code G82] und der öffentlichen Gesundheit [Code Ç116] wurden Berichten zufolge mit der Anwendung der Codes in Verbindung gebracht.[33] Weitere Beispiele für Restriktionscodes sind: Arbeitserlaubnis – andere Aktivität [Code N99], Rückkehr aus Griechenland [Restriktionscode V89] oder Krankheit [Restriktionscode G78].[34]

Im Sommer 2019 verstärkten die Behörden die ohnehin schon strengen Kontrollen und griffen vor allem Geflüchtete aus Syrien auf, die sich ohne Registrierung in der Stadt aufhielten oder bei informeller Arbeit angetroffen wurden. Die Operationen wurden vom Gouverneur von Istanbul, der vom Präsidenten ernannt wird, angekündigt. Der Gouverneur wies Menschen ohne Registrierung an, die Stadt bis August, später hieß es Oktober, 2019 zu verlassen. Bereits vor diesem Zeitpunkt wurde von zahlreichen Festnahmen und Abschiebungen berichtet. Nach Angaben des Gouverneurs wurden von Juli 2019 bis Ende des Jahres fast 120.000 Menschen wegen eines irregulären Aufenthalts in der Stadt aufgegriffen. Einige wurden in die Städte zurückgebracht, in denen sie registriert waren. Andere wurden inhaftiert und gezwungen, einer „freiwilligen“ Rückkehr nach Syrien zuzustimmen, und wieder andere wurden direkt abgeschoben, hauptsächlich in die Provinz Idlib in Syrien.[35] Dort fanden im Juni 2019 schwere Angriffe des Assad-Regimes statt – auch mit der Unterstützung Russlands. Amnesty International dokumentierte Luftangriffe gegen Krankenhäuser, Schulen und Wohnheime. Nicht nur in Istanbul, auch in anderen türkischen Städten gibt es weiterhin Razzien und Festnahmen ohne Anlass.[36] Die zahlreichen Abschiebungen folgten der Ankündigung von Präsident Erdoğan, Schutzsuchende aus Syrien zur Rückkehr „zu ermutigen“.[37] Er bettete diese Drohung als Reaktion auf die wachsende Xenophobie in der Öffentlichkeit (siehe 4.2 Sichere Zone).

Dem Beispiel der EU folgend verhandelt die Türkei verstärkt mit Drittstaaten, um Abschiebungen zu erleichtern. Mit Afghanistan hatten die Verhandlungen Erfolg. 2018 kamen afghanische Beamt*innen in die Türkei und stellten Reisedokumente aus, um die Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger zu erleichtern. Im April 2018 startete die erste Charter-Abschiebung nach Afghanistan. Nach Angaben der türkischen Zeitung Daily Sabah wurden zwischen Januar und Mai 2019 mehr als 20.000 Afghan*innen aus der Türkei abgeschoben.[38]

Mit dem Druck zur Rückkehr geht die zunehmende Kapazität der Haftanstalten einher. Die Türkei unterhält fast 30 offizielle Abschiebegefängnisse mit einer Kapazität von 20.000 Plätzen sowie weitere inoffizielle Einrichtungen, die zur Abschiebehaft genutzt werden.[39] In den vergangenen Jahren wurden diese Einrichtungen mit Unterstützung der EU finanziert (siehe 4.3.1 Unterstützung im Bereich Grenzkontrolle und Rückkehr).

Migrationsrouten und Gefahren auf dem Weg in die Türkei

Grenzmauern und neue restriktive Gesetze erschweren die Flucht in die Türkei. Obwohl die Grenzübergänge nie ganz geschlossen waren, haben die seit 2015 eingeführten Grenzsicherungsmaßnahmen die Flucht erschwert und Migrationswege gefährlicher gemacht. Im Jahr 2019 wurden vor allem Menschen aus Afghanistan bei dem Versuch, die Grenze irregulär zu überqueren, abgefangen.[40] Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International dokumentieren und verurteilen kontinuierlich illegale und gewalttätige Push-Backs von Geflüchteten nach Syrien und in den Irak.[41] Auch der Gebrauch von Schusswaffen wurde in diesem Zusammenhang dokumentiert.

764 km der rund 900 km langen Grenze zwischen der Türkei und Syrien sind mit einer Betonmauer abgeriegelt. Der Bau der Mauer begann 2015 und wurde im Juni 2018 abgeschlossen. Darüber hinaus gelten seit 2016 Visabestimmungen, welche die Einreise von Syrer*innen aus Drittstaaten beschränken.

Zudem hat die Türkei eine 144 km lange Mauer an der mehr als 500 km langen Grenze zum Iran errichtet.[42]

Im Jahr 2017 sprach Präsident Erdoğan über Pläne, auch an der Grenze zum Irak eine Mauer zu bauen. Bisher wurden von dort allerdings keine Bauarbeiten gemeldet.

Es wurde berichtet, dass das Innenministerium Busfahrer*innen im Osten der Türkei dazu angewiesen hat, den Transport von gültigen Dokumenten abhängig zu machen.[43] Seit Dezember 2019 steht die Unterbringung von Schutzsuchenden ohne Registrierung unter Strafe, unabhängig davon, ob dies wissentlich geschieht.[44] Zunehmende Kontrollen innerhalb des Landes erhöhen für die Schutzsuchenden und Menschen im Transit das Risiko, in der Türkei aufgegriffen und inhaftiert zu werden. Menschenrechtsorganisationen in der Türkei berichten, dass zur Vermeidung von Polizeikontrollen gefährlichere Routen zum Beispiel über den Van-See benutzt werden. Der letzte Schiffbruch auf diesem See wurde im Juli 2020 dokumentiert. Es wird befürchtet, dass es 60 Todesopfer gab.

Migrationsrouten und Gefahren auf dem Weg in die EU

Schutzsuchende, die versuchen, in die Europäische Union zu gelangen, nutzen hauptsächlich die internationalen Flughäfen, die östliche Mittelmeerroute nach Griechenland oder sie überqueren die Landgrenzen nach Griechenland oder Bulgarien. Ebenfalls frequentiert, wenn auch weniger häufig, sind die Routen nach Zypern, über das Schwarze Meer nach Rumänien oder über das Mittelmeer nach Italien. Um Überfahrten zu verhindern, wurden die Überwachungs- und Grenzschutzmaßnahmen auf nationaler Ebene und seitens der EU verstärkt.

Während des Sommers der Migration 2015 war die östliche Mittelmeerroute, von der türkischen Westküste zu den östlichen Ägäischen Inseln Griechenlands, die Hauptfluchtroute in die EU. Fast 900.000 Menschen erreichten die Ägäischen Inseln im Jahr 2015. Die Zahl verringerte sich auf weniger als 180.000 Menschen im Jahr 2016 und nur 42.000 im Jahr 2017.[45] Im Jahr 2019 erreichten fast 60.000 Menschen die Ägäischen Inseln.Die Zahl der Todesopfer sank von 803 im Jahr 2015 und 434 im Jahr 2016 auf 71 im Jahr 2019. Im Juli 2020 plante die griechische Regierung, eine schwimmende Barriere von 2,7 km Länge und 1,10 m Höhe in der Ägäis zu installieren, um den Weg zur Insel Lesbos zu versperren. Obwohl das Material bereits angekauft war, wurden die Pläne später fallen gelassen.

Nach Angaben des türkischen Außenministeriums wurden im Zeitraum zwischen November 2018 und November 2019 mehr als 58.000 Geflüchtete von den griechischen Behörden in die Türkei zurückgewiesen (Push Back), die meisten von ihnen kamen aus Pakistan, gefolgt von Menschen aus Afghanistan, Somalia und Bangladesch. Nach Angaben von türkischen Beamt*innen wurden die meisten von ihnen weiter in ihre Herkunftsländer abgeschoben, während Syrer*innen den Status des temporären Schutzes (wieder)erlangten (siehe 3.2 Inhaftierung und Abschiebung). Es ist nicht möglich, diese Angaben zu verifizieren.[46] Zunehmend wird allerdings von Push Backs an der Land- und der Seegrenze berichtet.

Menschen, die versuchen, die Ägäis zu überqueren, um Schutz in der EU zu suchen, werden oft an der Einreise gehindert und in türkische Hoheitsgewässer zurückgedrängt, damit die türkische Küstenwache die Menschen aufgreifen und zurückbringen kann. „Die [eingegangenen] Berichte beziehen sich unter anderem auf die folgenden Verhaltensweisen: Manöver mit hoher Geschwindigkeit von Schiffen der griechischen Küstenwache in der Nähe von Flüchtlingsbooten; Beschlagnahmung von Treibstoff und/oder Zerstörung von Motoren; Zielen mit Schusswaffen auf die Personen an Bord von Flüchtlingsbooten; Abschleppen der Boote in Richtung Türkei, wobei die Menschen auf oft nicht seetüchtigen und überfüllten Beibooten treiben und der Todesgefahr ausgesetzt werden. In Einzelfällen bezogen sich die Berichte auf die folgenden Verhaltensweisen: Rammen der Flüchtlingsboote; Abfeuern von Schüssen in der Nähe der Flüchtlingsboote oder in die Luft.“[47] Im Sommer 2020 wird zunehmend darüber berichtet, dass Menschen nach Erreichen einer griechischen Insel aufgegriffen und in die Türkei zurückgewiesen werden.[48] In mehreren Fällen griff die griechische Küstenwache Geflüchtete auf, setzte sie auf aufblasbare Rettungsinseln, schleppte sie in Richtung Türkei und überließ sie ihrem Schicksal. Die türkische Küstenwache dokumentiert die Rettungen/Aufgriffe ausführlich auf ihrer Website. Beobachter*innen kommentieren, dass die Türkei das tut, um die eigene Menschenrechtsbilanz zu stärken, indem sie zeigt, dass sie ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommt. Seit Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals kontrolliert die Türkei ihre Seegrenze massiv und verhindert so die Einreise in die EU.

Menschen, die über Land in die EU kommen, überqueren die Grenze am Fluss Meriç (TR)/Evros (GR)/Maritsa (BG) nach Griechenland oder Bulgarien. Nach Griechenland gibt es auch den Weg über das Thrakische Meer nach Alexandroupolis (GR). Seit Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals hat die Bedeutung der Landgrenzen zugenommen. Von 2016 bis 2017 haben sich die Passagen über Land nach Griechenland mit rund 6.500 Personen fast verdoppelt. Im Jahr 2019 gelangten fast 15.000 Menschen auf diesem Weg in die EU.[49] Allerdings wurde bereits 2011 mit dem Bau eines Grenzzauns entlang der 10 km langen Grenze zwischen Kastanies (GR) und Nea Vyssa (GR) nahe der türkischen Grenzstadt Edirne begonnen, da dort kein Fluss eine natürliche Barriere bildet und der Weg über die Grenze vorher vergleichsweise sicher war.

Als Reaktion auf die einseitige Unterbrechung der Grenzkontrollen und der Grenzöffnungen durch die Türkei im März 2020 kündigte Athen an, dass es den Grenzzaun weiter ausbauen und die Push-Backs intensivieren werde.[50]

Die Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien ist etwa 270 km lang. 210 km dieser Grenze sind durch einen Zaun gesichert, der Berichten zufolge leicht umgangen werden kann. Es ist schwierig, die Gesamtzahl der Grenzübertritte zu schätzen, da die meisten Menschen nicht in Bulgarien bleiben und jeglichen Kontakt mit den Behörden vermeiden. Nach Angaben der bulgarischen Behörden wurden 2018 mehr als 5.000 Personen am Grenzübertritt aus der Türkei gehindert. In den ersten zehn Monaten 2018 wurden mehr als 2.000 Personen beim Versuch, die Grenze zu überqueren, aufgegriffen.[51] Im Gegensatz zu dem stets angespannten Verhältnis zwischen der Türkei und Griechenland ist das Verhältnis zwischen der Türkei und Bulgarien Berichten zufolge freundschaftlich, was sich auch bei den Grenzkontrollen bemerkbar macht.

Maßnahmen der EU gegen die grenzüberschreitende Migration aus der Türkei

Verschiedene Stellen sind daran beteiligt, die grenzüberschreitenden Migrationen in die EU zu verhindern. Neben den türkischen Bemühungen um die Erhöhung der Kapazitäten zur Grenzüberwachung unterstützt die EU auch ihre Mitgliedstaaten, Grenzübertritte zu verhindern.[52]

Frontex, inzwischen zur Grenzschutzbehörde der EU avanciert, unterzeichnete bereits im Mai 2012 eine erste Absichtserklärung mit der Türkei. Im Februar 2014 folgte ein „Kooperationsplan“. Im Jahr 2016 wurden ein Verbindungsbeamter in die Türkei entsandt und es wurden finanzielle Unterstützungsmechanismen eingerichtet, um die Grenzkontrolle zu verstärken.[53]

Im Griechenland wurde 2011 der erste Frontex-Einsatz durchgeführt. Von Mai 2020 an ist Frontex an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei aktiv mit a) zwei Rappid Border Intervention Teams, Evros 2020 und Aegean 2020 (beide wurden nach der Eskalation an der Grenze im März 2020 eingesetzt), b) Flexible Operational Activity 2020 (Land), c) Joint Operation Poseidon 2020 (Meer). Mehr als 400 Grenzschutzbeamt*innen wurden für die gelisteten Operationen entsandt.[54] Es werden unter anderem Schiffe, Hubschrauber, Fahrzeuge, Drohnen, Überwachungsgeräte und Flugzeuge zur Luftüberwachung eingesetzt. Während zahlreiche Fälle gewaltsamen Vorgehens der griechischen Küstenwache und die Verweigerung von Rettungsmaßnahmen dokumentiert sind, verzeichnete Frontex nur einen einzigen Vorfall in der Ägäis, bei dem Menschenrechtsverpflichtungen möglicherweise missachtet wurden. Bei diesem Vorfall weigerte sich eine dänische Besatzung im Rahmen eines Frontex-Mandats, dem Befehl der griechischen Küstenwache zur Durchführung eines Push Back zu folgen. Laut Frontex war der Befehl das Ergebnis eines „Missverständnisses“.

Frontex unterstützt Abschiebungen im Rahmen des EU-Türkei-Deals (siehe 4.1 EU-Türkei-Deal).

Auch an der türkischen Grenze zu Bulgarien ist Frontex im Rahmen einer Joint Operation präsent. Neben den rund 50 Grenzschutzbeamt*innen aus anderen EU-Staaten, die an der Seite ihrer bulgarischen Kolleg*innen patrouillieren, ist die von Frontex zur Verfügung gestellte Ausrüstung für Bulgarien von besonderer Bedeutung.

Im Februar 2016 begann die NATO mit Operationen in der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland, „um die Routen des Menschenhandels und der illegalen Migration zu durchbrechen“. In Zusammenarbeit mit der Türkei, Griechenland und Frontex überwachen und beobachten NATO-Einheiten den Grenzraum. „Die NATO-Schiffe versorgen die Küstenwache und die zuständigen nationalen Behörden Griechenlands und der Türkei sowie Frontex mit Echtzeitinformationen“. Es gibt Beweise dafür, dass in unmittelbarer Nähe der Frontex/NATO-Operationen Push Backs stattfinden. Im Juni 2020 stellte die Besatzung der „Berlin“, die als Führungsschiff im Rahmen der Ständigen NATO-Mission eingesetzt wurde, fest, dass ein Beiboot mit Schutzsuchenden von der griechischen Küstenwache in türkische Hoheitsgewässer zurückgeschleppt wurde. Die „Berlin“ griff nicht ein.[55]

Diese Missionen liefern der zuständigen Küstenwache Informationen und erhöhen damit die Kapazität ihrer Einheiten, was zu einer Zunahme der Aufgriffe und möglicher Push und Pull Backs führt.

EU-Projekte

Der EU-Türkei-Deal

Der EU-Türkei-Deal bezieht sich auf die Presseerklärung, die der Europäische Rat am 18. März 2016 als „EU-Türkei-Erklärung“ veröffentlicht hat. Es handelt sich um eine Mitteilung über eine nicht bindende politische Vereinbarung, die nach dem Sommer der Migration 2015 eingeführt wurde und sich an verschiedene politische Instanzen richtete. Als solche war sie nie Teil eines Rechtsakts in einem der europäischen Parlamente. Die Vereinbarung zielt darauf ab, die Weiterflucht der hauptsächlich syrischen Geflüchteten auf der östlichen Mittelmeerroute in die EU durch verstärkte Grenzkontrollen, durch Festhalten auf den griechischen Inseln und durch Abschiebungen in die Türkei einzudämmen. In Verbindung mit der Einführung des „Hotspot-Ansatzes“ hatte der Deal erhebliche Auswirkungen auf das griechische Asylrecht und die Situation der Geflüchteten und der lokalen Bevölkerungen auf den östlichen Ägäischen Inseln (Chios, Lesbos, Samos, Kos und Leros). Der Deal prägte die politischen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU. Er wird als Blaupause für ähnliche Migrationsabkommen mit Transitländern bezeichnet. Die Grenzschließungen der Türkei zu den Nachbarländern und die Ausweitung des Baus fester Grenzanlagen werden als Dominoeffekt der europäischen Externalisierungspolitik bezeichnet.

Die Erklärung ist auch als „toxischer“ oder „schmutziger Deal“ bekannt. Die Bezeichnungen verweisen auf die weit verbreitete Kritik an mangelnder demokratischer Legitimität, der Herabstufung der Standards des internationalen Schutzes und der Auslagerung der Grenzkontrollen und Schutzverantwortung an ein Land, dem es an wesentlichen Menschenrechtsgarantien mangelt. Insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurde der EU vorgeworfen, aus Angst vor einer Aufkündigung des Deals durch die Türkei, nicht ausreichend gegen den autoritären Kurs in der Türkei vorzugehen. Des Weiteren wurde kritisiert, dass die deutlich verringerten Rechtsgarantien im türkischen Schutzregime vor und insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch bei der Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats bzw. ersten Asylstaats nicht berücksichtigt wurden. Während Menschenrechtsgruppen konsequent für ein Ende des EU-Türkei-Deals eintreten, wird dieser von der EU-Führung als Erfolgsgeschichte gewertet, da die Zahl der Ankünfte auf den Ägäis Inseln deutlich zurückging – von 856.723 Ankünften im Jahr 2015 auf 29.718 im Jahr 2016. Parallel stieg die Zahl der registrierten syrischen Geflüchteten in der Türkei von 2,5 Millionen 2015 auf fast 3 Millionen Ende 2016.[56]

Die Wirksamkeit des Abkommens wird in erster Linie auf die türkische Grenzarchitektur und die abschreckende Wirkung der Hotspots zurückgeführt. Die Abschiebungen, technisch gesehen ein zentraler Punkt des Abkommens, blieben auf einem konstant niedrigen Niveau und werden meist als sekundär betrachtet, was sich aber schnell ändern könnte.

Der Weg zum toxischen Deal

Der Deal ist der vorläufige Höhepunkt hochrangiger politischer Verhandlungen zwischen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mit der Türkei seit 2015. Aus Sicht der EU findet die Zusammenarbeit mit der Türkei im Rahmen der zunehmenden Kooperation mit Drittstaaten statt, die etwa in der „Europäischen Agenda zur Migration“ der EU-Kommission als „von entscheidender Bedeutung“ hervorgehoben wird. Diese wird als Teil der externen Dimension im EU-Ansatz zur „Steuerung der Migration“ gesehen.[57] Aufgrund ihrer geographischen Lage wird die Türkei als „zentrale Partnerin“ bewertet. Die Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Bereich Rückkehr und Rückübernahme gilt für die EU-Führung als Schlüssel dafür, „die Migration einzudämmen“ und es wird vorgeschlagen, sie in einem ausgewogenen Ansatz mit Druck und Anreizen durchzusetzen.

Gerald Knaus, der Gründungsvorsitzende des Think-Tanks European Stability Initiative (ESI) mit Büros in Berlin, Brüssel und Istanbul, gilt als Architekt des EU-Türkei-Deals. Ab Herbst 2015 veröffentlichte ESI eine Reihe von Papieren, in denen „ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei“ vorgeschlagen wurde, um „die Kontrolle über die EU-Außengrenze wiederherzustellen und gleichzeitig die große humanitäre Krise anzugehen“.

Im Oktober 2015 kündigte die EU-Kommission einen ersten „Gemeinsamen Aktionsplan“ mit der Türkei an, der am selben Tag vom EU-Rat als ein Schritt der Zusammenarbeit mit Drittstaaten begrüßt wurde. Der Plan nahm Elemente des späteren Deals vorweg. Er enthielt zum Beispiel bereits die Forderung nach der Umsetzung bestehender Rückübernahmeabkommen durch die Türkei, die Nutzung der Visaregelung zur Steuerung der Migration, die Forderung nach verstärkten Grenzkontrollen durch die Türkei sowie EU-Zahlungen zur Unterstützung der „Verwaltung“ von Flüchtlingen in der Türkei (3 Milliarden Euro). Der Plan wurde am 29. November 2015 während des EU-Türkei-Gipfels losgetreten, verbunden mit verschiedenen diplomatischen Zusicherungen rund um die „Wiederbelebung“ des Beitrittsprozesses der Türkei zur EU und die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Darüber hinaus empfahl die EU-Kommission ihren Mitgliedstaaten im Dezember 2015 die Einführung eines Programms zur freiwilligen humanitären Aufnahme von Geflüchteten aus der Türkei; auch dieses Element wurde in den späteren Deal aufgenommen.

Im Januar 2016 führte die Türkei im Rahmen des Gemeinsamen Aktionsplans eine Visumpflicht für Personen aus Syrien, die auf dem Luft- und Seeweg einreisten, ein und erleichterte den Zugang zum Arbeitsmarkt für registrierte Geflüchtete aus Syrien. Die Kommission ebnete ihrerseits den Weg für das versprochene 3-Milliarden-Euro-Projekt „Einrichtungen für Flüchtlinge in der Türkei“ mit 2 Milliarden Euro aus den Mitgliedsstaaten und eine Milliarde Euro aus EU-Mitteln. Im Hinblick auf den Beitrittsprozess der Türkei wurde die Eröffnung von zwei weiteren Kapiteln beschlossen.

Da die Ankünfte in Griechenland in den ersten Monaten nach dem Inkrafttreten des Gemeinsamen Aktionsplans im Februar 2016 weiterhin auf hohem Niveau blieben, drängte die Kommission die Türkei zur vollständigen und wirksamen Umsetzung des Aktionsplans. Insbesondere forderte die EU die Umsetzung des bilateralen Rückübernahmeabkommens der Türkei mit Griechenland sowie eines zweiten Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei.

„Die Tage der illegalen Migration nach Europa sind vorbei“, verkündete Donald Tusk, der damalige Präsident des Europäischen Rates, nach einem Treffen mit dem damaligen türkischen Premierminister am 7. März 2016. Er kündigte an, dass die Türkei nun eine zunehmende Zahl von Rückführungen aus Griechenland akzeptieren würde, was im Zusammenhang mit der Förderung des so genannten 1:1-Mechanismus stünde: für jeden von der Türkei rückübernommenen Geflüchteten aus Syrien sollte ein anderer in die EU umgesiedelt werden. „Mit diesem bahnbrechenden neuen Vorgehen verfolgen wir das Ziel, die illegale Migration und den Menschenschmuggel zu unterbinden und den Menschen, die nach Europa kommen wollen, zu helfen, indem wir die legale Migration auf disziplinierte und reguläre Weise fördern“, erklärte der türkische Premier Davutoğlu. Einzelheiten zu dem Abkommen, einschließlich zusätzlicher Mittel für die Türkei, der Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen und der Befreiung türkischer Bürger*innen von der Visumspflicht, wurden angekündigt und sollten noch vor der Tagung des Europäischen Rates im März ausgearbeitet werden.[58]

Das Treffen Anfang März fand als internationaler Gipfel unter dem Vorsitz des damaligen EU-Ratspräsidenten und in Anwesenheit des damaligen EU-Kommissionspräsidenten sowie der EU-Staatschefs, die anschließend zu einem informellen Treffen zusammenkamen, statt.

Am 16. März 2016 dann veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung an das EU-Parlament, den Europäischen Rat und den Rat der EU über die „nächsten operativen Schritte für die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei im Bereich Migration“, in der die „sechs Grundsätze“ der künftigen Zusammenarbeit enthalten waren. Am nächsten Tag fand ein zweitägiger Europäischer Gipfel statt, bei dem die Staats- und Regierungschefs der EU mit ihren türkischen Amtskolleg*innen zusammentrafen und dem EU-Türkei-Deal zustimmten.

Im Vorfeld des Treffens wurden einige der vereinbarten Inhalte von Menschenrechtsorganisationen wie dem Europäischen Flüchtlingsrat ECRE als „unmoralisch“, „gefährlich“ und „illegal“ kritisiert.

Der Deal

Der Deal hat zum Ziel, „das Geschäftsmodell der Schleuser*innen zu durchbrechen und Migrant*innen eine Alternative zu bieten, die ihr Leben nicht aufs Spiel setzt“. Er spiegelt die wesentlichen Bestandteile des Gemeinsamen Aktionsplans wider. Die EU bietet an, die politischen und wirtschaftlichen Bindungen zu stärken und finanzielle Kompensationen im Austausch gegen Maßnahmen zu gewähren, um die Migrationsbewegung nach Europa zu stoppen und Geflüchtete von Griechenland in die Türkei zurückzuführen. Der Deal umfasst die folgenden neun Punkte:

Abschiebungen von den griechischen Inseln: Als „vorübergehende und außerordentliche Maßnahme“ werden alle Menschen, die nach dem 20. März 2016 die griechischen Ägäis-Inseln in der Hoffnung, Schutz in Europa zu finden, erreichen, „in voller Übereinstimmung mit dem EU- und Völkerrecht“ in die Türkei abgeschoben. Der Verweis auf die Registrierung sowie ein Zulässigkeits- und Qualifikationsverfahren ebnet den Weg für das später etablierte beschleunigte Grenzverfahren in den EU-Hotspots auf den Ägäischen Inseln. Die EU, die Türkei und Griechenland verpflichten sich zur Schließung „aller notwendigen bilateralen Abkommen“, um die Abschiebungen nach der Prüfung zu erleichtern. Die Abschiebekosten werden von der EU übernommen.

1:1-Mechanismus zur Umsiedlung: „Für jede*n Syrer*in, der*die von griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschoben wird, wird ein*e andere*r Syrer*in unter Berücksichtigung der UN-Verwundbarkeitskriterien aus der Türkei in die EU umgesiedelt“. Schutzsuchende, die nicht versucht haben, Europa klandestin zu erreichen, werden bevorzugt behandelt. Für die EU-Mitgliedsstaaten ergeben sich keine zusätzlichen Zusagen auf Resettlement, da Schutzsuchende, die in die EU umgesiedelt werden, auf das Resettlement-Programm 2015 angerechnet werden. Im Falle eines höheren Bedarfs soll die Aufnahme auf freiwilliger Basis fortgesetzt werden. Ein Maximum von 72.000 Plätzen wird festgelegt.

Freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen: Wenn die Ankünfte in der EU deutlich zurückgegangen sind, soll die Aufnahme aus der Türkei in die EU-Mitgliedsstaaten weiterhin auf freiwilliger Basis erfolgen.

Grenzkontrollen der Türkei zu Land und zu Wasser: Es wird eine weiter Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Nachbarländern bei der Grenzkontrolle vereinbart, um neue Migrationsrouten zu verhindern.

Einrichtungen für Geflüchtete in der Türkei: Die EU wird die Auszahlung von 3 Milliarden Euro an die Türkei beschleunigen und sichert zusätzliche 3 Milliarden Euro zur Unterstützung von Geflüchteten aus Syrien in der Türkei bis Ende 2018 zu, sobald die erste Tranche aufgebraucht ist.

Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, werden die Visabestimmungen für türkische Staatsbürger*innen bis spätestens Ende Juni 2016 aufgehoben.

Die Zollunion zwischen der Türkei und der EU wird aufgewertet.

Zur Wiederbelebung des Beitrittsprozesses der Türkei ist die Eröffnung von Kapitel 33 innerhalb der ersten sechs Monate des Jahres 2016 auf der Grundlage eines Vorschlags der Kommission vom April 2016 geplant.

Sichere Zonen in Syrien: Um die humanitären Bedingungen in Syrien zu verbessern, werden die EU und die Türkei zusammenarbeiten, „insbesondere in bestimmten Gebieten nahe der türkischen Grenze, was es der lokalen Bevölkerung und Geflüchteten ermöglichen würde, in sichereren Gebieten zu leben“.

Beide Parteien verpflichten sich, die Umsetzung der Vereinbarung auf monatlicher Basis gemeinsam zu kontrollieren.

Die Türkei – ein sicheres Land für Geflüchtete?

Der EU-Türkei-Deal brachte Änderungen des europäischen Asylsystems im Allgemeinen und des griechischen Asylsystems im Besonderen mit sich. Seit der Unterzeichnung des Deals ging es der EU und Griechenland stets um die Steigerung der Zahl der Abschiebungen in die Türkei. Die „vollständige Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung“ wurde zu einem dauerhaften politischen Mantra.[59]

Die Mehrzahl der Schutzsuchenden, die seit Inkrafttreten des Abkommens auf den griechischen Inseln ankommen, soll nach der Prüfung ihres Antrags auf Zulässigkeit im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Konzepte „sicherer Drittstaat“ und „erster Asylstaat“ in die Türkei zurückgeschoben werden. Trotz zahlreicher Reformen des griechischen Asylrechts wurde der EU-Türkei-Deal als solcher aber bis heute nicht in griechisches Recht überführt.Weder wurde die Türkei als sicherer Drittstaat ausgewiesen, noch wurde eine Methodik eingeführt, um zu beurteilen, ob die Türkei im jeweiligen Fall als sicher eingestuft werden kann.

Die Rückführungen werden stattdessen durch „nicht veröffentlichte interne Grundsatzschreiben ermöglicht, die alle beteiligten Akteure - EASO, der griechische Asyldienst und die Berufungskommissionen - als Grundlage zur Legitimierung ihrer Entscheidung nutzen, die Türkei für alle Syrer, die nach dem 20. März 2016 in Griechenland ankommen, für sicher zu erklären“. Obwohl diese Schriftstücke in den Akten der Asylsuchenden erwähnt wurden, waren sie bis Oktober 2016 nicht öffentlich zugänglich.

Neben Zusicherungen der Kommission gab es zwei Briefe von türkischer Seite an die europäischen Amtskolleg*innen. Diese Briefe sind sehr kurz und enthalten die Zusicherung, dass syrische und nichtsyrische Schutzsuchende, die einen Schutzstatus in der Türkei hatten oder die von der Türkei aus die Ägäis überquert haben, von der Türkei zurückgenommen werden und sie dort Zugang zu einem Schutzstatus gemäß den nationalen Regelungen erhalten würden.

Den Regierungsdokumenten lag eine Korrespondenz des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) vom Mai und Juni 2016 bei, die ebenfalls als Eckpfeiler für die Beurteilung der Türkei als „sicherer Drittstaat“ dient, insbesondere für syrische Schutzsuchende. Refugee Support Aegean/PRO ASYL betonen, dass der Brief des UNHCR offenbar eine Interpretation zulässt, dass die Türkei ein „sicheres Drittland“ sei, obwohl dazu nicht klar Stellung bezogen wird. Die Organisationen heben hervor, dass eine kritische Bewertung der erheblichen Mängel des türkischen Schutzsystems fehlt und dass diplomatische Zusicherungen zitiert werden ohne dass ihre Glaubwürdigkeit bewertet werde.

Hinsichtlich der Fähigkeit des UNHCR, Schutzsuchende zu begleiten, die im Rahmen des Deals abgeschoben worden sind, räumte UNHCR in dem Schreiben vom 09. Juni 2016 ein, dass es ihnen nicht möglich war, die erste Gruppe syrischer Abgeschobener zu begleiten und dass sie daher nicht bestätigen könnten, ob diese Zugang zu temporärem Schutz in der Türkei hätten. Dies war jedoch kein Grund für UNHCR, zusätzliche Informationen über die Situation der Schutzbedürftigen in der Türkei zu beschaffen und das Monitoring zu verbessern.

Erst im Dezember 2016 wandte sich UNHCR mit einem dritten Schreiben noch einmal an den griechischen Asyldienst, widerrief die aus den früheren Schreiben gezogene Schlussfolgerung und erklärte, dass kein Zugang zu Schutzsuchenden bestehe, die im Rahmen des Abkommens in die Türkei zurückgebracht wurden, und dass UNHCR ihren Zustand und Status nicht überprüfen könne. Dieser wichtige Umschwung kam jedoch zu spät, um die regierende Meinung zu ändern. „In Anbetracht der Tatsache, dass die in den ersten Briefen des UNHCR vorgelegten Aussagen verwendet wurden, um den Weg für die gewaltsame Rückschiebung von Asylsuchenden in die Türkei im Rahmen des Abkommens zu ebnen, erwies sich die Verzögerung bei der Bereitstellung aktualisierter Informationen als ausschlaggebend“.

Im September 2017 urteilte das höchste griechische Gericht, der Council of States, zur Frage, ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ für Schutzsuchende aus Syrien angesehen werden kann, gegen die Berufungen syrischer Schutzsuchender und für den EU-Türkei-Deal. Obwohl das ohnehin ineffiziente türkische Schutzregime zum Zeitpunkt des Urteils bereits weiter geschwächt war, fand eine erneute Überprüfung nicht statt. Eine Berufung gegen das Urteil ist beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.

Zahlen und Stand der Dinge 2020

Im fünften Jahr seines Bestehens ist das Abkommen, das als vorübergehende Maßnahme eingeführt wurde, immer noch in Kraft. Seit der politischen Krise zwischen Griechenland und der Türkei im März 2020, gefolgt von den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, wurde das prominenteste Instrument der Erklärungen, die Abschiebungen, nicht mehr durchgeführt.

Zwar verpflichteten sich die Türkei und die EU dazu, die Bestandteile des Abkommens monatlich zu überwachen, jedoch datiert der jüngste öffentlich zugängliche Bericht der Kommission über die Fortschritte bei der Umsetzung des Abkommens auf September 2017. Die deutsche Regierung bestätigte 2019, dass sie keine weitere Kenntnisse über die Lage der im Rahmen des Abkommens zurückgeschobenen Flüchtlinge habe und verwies auf den fünften Fortschrittsbericht der Kommission vom März 2017. Auch UNHCR räumte ein, dass es keinen sicheren Zugang zu den im Rahmen des Abkommens zurückgeschobenen Geflüchteten hat. Es gibt daher kaum Kenntnisse über die Situation der Menschen, die im Rahmen des Abkommens EU-Türkei abgeschoben wurden.

Zwischen April 2016 und März 2020 wurden im Rahmen des Abkommens 2.140 Schutzsuchende aus Griechenland in die Türkei abgeschoben, die meisten davon aus Pakistan, gefolgt von Syrien und Algerien. Während im ersten Jahr des Abkommens 801 Schutzsuchende abgeschoben wurden, sank die Zahl seitdem auf 195 Rückführungen im Jahr 2019. Betrachtet man die Rückführungen zwischen März 2019 und März 2020, so wurden 45% der Antragstellenden nach einer Entscheidung in zweiter oder erster Instanz zurückgeführt, während 44% der Abgeschobenen kein Interesse (mehr) hatten, Asyl zu beantragen oder ihren Asylantrag zurückgezogen hatten. Während die erste Gruppe in direktem Zusammenhang mit den Verfahrensänderungen nach der Einführung des Deals steht, lässt sich das Verhalten der zweiten Gruppe mit den oft als unmenschlich bezeichneten Lebensbedingungen und der fehlenden Perspektive der Geflüchteten in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln erklären. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Zahl der Menschen, die unterstützt durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) „freiwillig“ in ihr Herkunftsland zurückkehren, deutlich höher ist als die Zahl der Rückführungen im Rahmen des Deals.[60]

Die Abschiebungen werden per Fähre und Flugzeug durchgeführt. Es wurde berichtet, dass die meisten Syrer*innen mit dem Flugzeug nach Adana gebracht werden, während Menschen anderer Nationalitäten mit der Fähre nach Dikili deportiert werden. Frontex spielt eine zentrale Rolle bei der Durchführung der Abschiebungen. Forscher*innen haben beobachtet, dass private Fährgesellschaften von Frontex beauftragt werden, die „operativen Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen“: TurYol, Jalem Tur und Sunrise Lines.

Aufgrund der Corona-Pandemie wurden im Frühjahr 2020 alle Aufnahmen aus der Türkei ausgesetzt. Im Hinblick auf den 1:1-Mechanismus, der mit dem EU-Türkei-Deal eingeführt wurde, wurden bis März 2020 26.135 syrische Geflüchtete umgesiedelt, die Mehrheit (9.501) nach Deutschland. Der Zugang zu dem 1:1-Ansiedlungsprogramm hängt von der Region ab und ist nur auf Geflüchtete aus Syrien beschränkt.[61]

Die Anreize, die der Türkei 2016 versprochen wurden – Visumbefreiungen, die Aufwertung der Zollunion und die Wiederbelebung des Beitrittsverfahrens der Türkei zur EU- sind nie umgesetzt worden und ihre Realisierung scheint 2020 in weiter Ferne. Das Abkommen beinhaltet auch die Schaffung einer Sicherheitszone, die von Erdoğan, aber noch nicht von der EU, verfolgt wird.

Seit seiner Umsetzung nutzt die Türkei den EU-Türkei-Deal ständig als politisches Druckmittel und hält an ihrer Sichtweise fest, dass die EU ihre Versprechen nicht eingehalten habe. Die Unstimmigkeit eskalierte im März 2020, als die Türkei ankündigte, dass sie die Menschen nicht länger daran hindern werde, die Grenze nach Griechenland zu überqueren. Verschiedenen Berichten zufolge sind sogar Busse von der türkischen Regierung gemietet worden, um Menschen an die Grenze zu bringen. In der Folge wurde die Grenze durch Griechenland und der EU aus Angst vor steigenden Ankünften von Menschen weiter aufgerüstet. Die Entscheidung der Türkei zur Grenzöffnung erfolgte, nachdem 34 türkische Soldaten in Idlib, Syrien, getötet worden waren. Analyst*innen vermuten hinter dem politischen Manöver folgende Intentionen: Zum einen wurde die öffentliche Aufmerksamkeit von den militärischen Verlusten abgelenkt und die wachsende Ablehnung gegenüber Migrant*innen verstärkt. Darüber hinaus glauben viele, dass Erdoğan die Unterstützung der EU für die Sicherheitszone in Syrien gewinnen wollte.

Die sichere Zone

In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im September 2019 schlug Präsident Erdoğan die Schaffung einer Sicherheitszone innerhalb Syriens vor, um bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge dorthin „umzusiedeln“. Solche Zonen sind auch im EU-Türkei-Deal vorgesehen, als gemeinsame Anstrengung, um eine Rückkehr der Geflüchteten zu ermöglichen. Erdoğans Vorstoß kam inmitten der Vorbereitungen der Türkei für eine militärische Offensive innerhalb Syriens, die später als Operation „Friedensquelle“ bekannt wurde und in einer Zeit, in der vermehrt syrische Flüchtlinge aufgegriffen und abgeschoben wurden (siehe oben). Bis November 2019 hat die Türkei das Gebiet zwischen Tell Abiad und Ras al Ain/Sere Kaniye (120 km) auf einer Breite von etwa 30 km innerhalb der syrischen Gebiete eingenommen. Die Operation erfolgte, nachdem populistische Stimmungen gegen Geflüchtete aus Syrien in der Türkei aufgekommen waren und die regierende AKP bei den Kommunalwahlen im März 2019 eine Niederlage erlitten hatte. Die Offensive wurde kritisiert, da sie potentiell illegal ist, die Region weiter destabilisiert und zu einer Art „ethnischer Säuberung“ führen könnte.[62] Darüber hinaus zeigen frühere Erfahrungen mit Sicherheitszonen in anderen Teilen der Welt wie Bosnien, Irak und Ruanda, dass solche Sicherheitszonen die Zivilbevölkerung nicht schützen können, sondern möglicherweise sogar zu Tragödien führen.[63] Heute werden die Gebiete von syrischen Vertreter*innen der Türkei kontrolliert und haben sich als eins der am wenigsten sicheren Gebiete innerhalb Syriens erwiesen.[64] Bisher ist es nicht gelungen, auch nur eine kleine Zahl von Geflüchteten in diese Gebiete umzusiedeln.

EU-Gelder für Geflüchtete

Im Rahmen des EU-Türkei-Aktionsplans und des EU-Türkei-Deals verpflichtete sich die EU, die Türkei mit insgesamt 6 Milliarden Euro zu unterstützen, um den Bedürfnissen der Geflüchteten und der Aufnahmegemeinschaften insbesondere in den Bereichen humanitäre Hilfe, Bildung und Gesundheitsversorgung gerecht zu werden. Die Mittel werden durch einen Lenkungsausschuss verwaltet, der Leitlinien zu den Prioritäten, den entsprechenden Maßnahmen und den zugewiesenen Mitteln vorgibt. Der Gesamtbetrag wurde in zwei Tranchen aufgeteilt. Bis Juli 2020 wurden 4,7 Milliarden Euro vertraglich vereinbart und fast 3,7 Milliarden Euro ausgezahlt. Die Mittel wurden aus dem EU-Haushalt und aus Beiträgen der Mitgliedstaaten bereitgestellt.

Das Emergency Social Safety Net (ESSN) ist ein zentrales Sozialhilfeprogramm für Geflüchtete in der Türkei und wurde und wird im Rahmen des Programms finanziert. Es handelt sich um ein Geldkartensystem, das vulnerablen Personen, die außerhalb der Flüchtlingslager leben, Bargeld zur Verfügung stellt. Pro Familienmitglied werden 18 Euro als monatliche Zuwendung auf die Cash-Karte geladen. Das Programm adressiert Familien und vulnerable Schutzsuchende, die nicht formell beschäftigt sind. Es ist unter anderem zugänglich für alleinstehende Frauen, ältere Menschen über 60 ohne Erwachsene in der Familie und Familien mit drei oder mehr Kindern. Nach Angaben der EU-Kommission profitierten im Dezember 2019 1,7 Millionen Schutzsuchende von dem Programm.[65] Fast 90% der Begünstigten sind Syrer*innen.[66]

Weitere Programme sind: Conditional Cash Transfer for Education (CCTE); PIKTES „zur Verbesserung der Integration und des Zugangs zu qualitativ hochwertiger Bildung für syrische Kinder“; SIHHAT ein Projekt „zur Erleichterung spezialisierter Unterstützungsdienste wie psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung, Physiotherapie und Rehabilitation und die Integration von Schutzdiensten innerhalb der ‚Migranten-Gesundheitszentren‘“ und verschiedene Bauprojekte (unvollständige Aufzählung).[67]

EU-Hilfe bei Grenzkontrollen und Rückschiebungen

Im Rahmen des Programms wurden bis Ende 2019 auch Mittel für Grenzkontrollmaßnahmen bereitgestellt, insbesondere im Bereich der Grenzüberwachung, Rückführung und Inhaftierung.

Die türkische Küstenwache wurde durch Ausbildung und Ausrüstung (sechs Rettungsboote) unterstützt. Außerdem wurden Rückführungsmaßnahmen und Einsätze in Abschiebezentren finanziert. „Die EU hat die Kosten für die Verwaltung der Rückkehr (Transport, Unterbringung) von 369 Syrern und 1 605 Nicht-Syrern sowie für den Bau eines Rückführungszentrums für 750 Personen übernommen. (...) Das Projekt finanzierte auch die Gehälter von 186 Mitarbeitern, die in 21 Rückführungszentren Dienstleistungen für Migranten erbringen, darunter Psychologen (24), Sozialarbeiter (17), Dolmetscher (54), Lebensmittelingenieure (15), Techniker (43) und Fahrer (33)“.[68] Das geförderte Abschiebegefängnis befindet sich in der Provinz Çankırı. Im Mai 2019 wurden 2.500 Menschen in diesem Zentrum inhaftiert.[69] Laut EU-Kommission „ist die Finanzierung des Rückführungszentrums auch weiterhin ein kritischer Teil dieser Unterstützung, da in der Türkei nach wie vor eine hohe Zahl von Flüchtlingen aufgegriffen wird. Diese Zentren leisten humanitäre Hilfe und Unterstützung für irreguläre Migranten (...)“. Im Oktober 2019 fasst das Global detention project zusammen: „Zahlreiche Beobachter haben über die schrecklichen Bedingungen in allen türkischen Abschiebegefängnissen berichtet, zusätzlich zu der anhaltenden Überfüllung, dem Mangel an medizinischer Versorgung und dem Versäumnis, den Gefangenen Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren“. Aus dem Bericht geht ferner hervor, dass sechs Einrichtungen, die von der EU zunächst als Aufnahmeeinrichtungen geplant und unterstützt wurden, später als Abschiebe- und Haftlager genutzt wurden. Bereits 2015 berichtete Amnesty international über die unrechtmäßige und umfangreiche Praxis der Inhaftierung und Abschiebung in der Türkei. Darüber hinaus veröffentlichte Amnesty international Belege dafür, dass die Haftanstalten von der EU finanziert wurden.[70]

NGOs und andere Akteure

Die Rolle der Nichtregierungsorganisationen ist seit 2011 besonders sichtbar. Die zweideutige und schwankende Haltung der türkischen Regierung gegenüber Geflüchteten,[71] zumindest zwischen 2011 und 2015, hat viele Bereiche hervorgebracht, in denen NGOs die Rolle der Koordination, der humanitären Hilfe und insbesondere der Bildung übernommen haben.[72] Nicht alle NGOs genießen jedoch gleiche Ausgangsbedingungen. Persönliche Beziehungen und Netzwerke zur Regierung sind in gewisser Weise bestimmend für die Zusammensetzung der NGOs, die im Bereich Migration tätig sind.[73] Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Zugang zu internationalen Fonds, welche die Arbeit der NGOs in der Türkei grundlegend prägen und gestalten.

Es ist zwar schwer zu sagen, welche Wirtschaftssektoren oder Akteure von der gegenwärtigen (Zwangs-)Migrationsszene in der Türkei profitieren, nicht zuletzt aufgrund des Mangels an zugänglichen und relevanten Daten. Spezifische migrationsbezogene Politiken deuten jedoch darauf hin, dass sie durch wirtschaftliche Interessen einiger Sektoren geprägt worden sein könnten. Die „sichere Zone“ zum Beispiel, in dem die türkische Regierung bis zu einer Million Menschen zurück nach Syrien umsiedeln wollte, hätte dem Bausektor zugutekommen können, „der von den Kumpanen der regierenden [AKP-]Partei dominiert wird“. Andere Sektoren wie der akademische Bereich und die NGOs haben sich übermäßig stark vergrößert und profitieren von dem gewachsenen Migrationsprofil der Türkei. Die Fülle kurzfristiger und fragmentierter finanzieller Ressourcen internationaler und europäischer Gremien hat nicht unbedingt das Leben der Migrant*innen verbessert, sondern eher die Karrieren der im akademischen und NGO-Sektor Tätigen.

Seit der Umsetzung des EU-Türkei-Deals und nach dem Putschversuch 2016 sind auch NGOs, Solidaritätsnetzwerke sowie Menschenrechtsanwält*innen vom autoritären Kurs des jetzigen Präsidenten getroffen. „Der Raum für die Zivilgesellschaft ist dramatisch geschrumpft und die Repression gegen Menschenrechtsverteidiger (Human Rights Defender HRD) hat deutlich zugenommen (…). Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Kulturschaffende, Akademiker*innen und alle, die sich für die Rechte von Frauen und LGBTI+, der kurdischen Gemeinschaft, religiöser und kultureller Minderheiten und Arbeitnehmenden einsetzen und diese verteidigen, sind unterschiedlichen Formen von Repressalien, Diskriminierung und Angriffen ausgesetzt, darunter Drohungen, Einschüchterung, Stigmatisierung, gerichtliche Schikanen, längere willkürliche Verhaftungen und Reiseverbote“. Selbstzensur und die Einschränkung von Aktivitäten sind die Folgen dieses Klimas der Angst. Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen, sind sehr vorsichtig, enthalten sich oft kritischer Kommentare oder Berichte und zögern, in bestimmte Gebiete zu reisen. Dies hat negative Folgen für die Menschen, die Unterstützung benötigen, sowie für die Qualität und Vielfalt der Monitoring-Berichte aus der Türkei. Das Repertoire an aktuellen Informationen und kritischen Berichte über die Situation der Geflüchteten ist sehr begrenzt. Insbesondere Studien, die in den Jahren 2014-2016 durchgeführt wurden, konzentrieren sich auf die Situation der geflüchteten Syrer*innen, was die Informationsbasis über die Situation anderer Gruppen verschlechtert. Dieser Bias spiegelt sich auch in diesem Bericht.

Migrationsstatistik

Label Details Geflüchtete aus Syrien unter temporären Schutz 3.579.318 Geflüchtete im Mai 2020 Geflüchtete aus Syrien in Lagern 63.241 Geflüchtete im Mai 2020 Geflüchtete aus Syrien, umgesiedelt in andere Länder 16.285 Geflüchtete zwischen 2014 und 2019 Anträge auf internationalen Schutzstatus/ bedingten Schutzstatus durch Personen aus Afghanistan 35.042 Anträge bis 2020 Anträge auf internationalen Schutzstatus/ bedingten Schutzstatus durch Personen aus dem Irak 15.532 Anträge bis 2020 Anträge auf internationalen Schutzstatus/ bedingten Schutzstatus durch Personen aus dem Iran 3.558 Anträge bis 2020 Anträge auf internationalen Schutzstatus/ bedingten Schutzstatus durch Personen aus anderen Ländern 2.285 Anträge bis 2020

Footnotes

  1. As of March 2019, Turkish Ministry of Justice and Home Affairs quoted by German Federal Foreign Office, 14.06 2019.

  2. Human Rights Watch, Turkey: Normalizing the State of Emergency, 20.07.2018, online available: https://bit.ly/2MEs2Qi.

  3. Bianet, Parliament Authorizes Neighborhood Guards to Detain Suspects, Carry Firearms, 10.06.2020, online available: https://bit.ly/3fqdWyf.

  4. Halil Karaveli, 2018. Why Turkey is Authoritarian: Right-Wing Rule from Atatürk to Erdogan, Pluto Press.

  5. Castle, Stephen. 2006. EU freezes talks on Turkey membership.
    https://www.independent.co.uk/news/world/europe/eu-freezes-talks-on-turkey-membership-428085.html
    Turkey sees bleak future for EU accession talks in 2012. Today’s Zaman
    https://web.archive.org/web/20150715025052/http://www.todayszaman.com/news-267358-turkey-sees-bleak-future-for-eu-accession-talks-in-2012.html

    The ins and outs. 2007. The Economist, Special report.
    https://www.economist.com/special-report/2007/03/17/the-ins-and-outs.

  6. M. Murat Erdoğan, Syrische Flüchtlinge in der Türkei, September 2019, p. 17.

  7. Williams, Colin C.; Barić, Marijana; Renooy, Piet. Tackling undeclared work in Turkey. Eurofound. https://www.eurofound.europa.eu/de/publications/report/2013/labour-market/tackling-undeclared-work-in-turkey.

  8. Tolga Tören, Syrian Refugees in the Turkish Labour Market, July 2018, p. 27.

  9. Tolga Tören, Syrian Refugees in the Turkish Labour Market, July 2018, p. 51.

  10. Tolga Tören, Syrian Refugees in the Turkish Labour Market, July 2018, p. 27ff.

  11. There are groups who are Kurds and Alevis at the same time. Vgl. “Kurdish Alevis and the Case of Dersim” 2019. Lexington Books https://rowman.com/ISBN/9781498575485/Kurdish-Alevis-and-the-Case-of-Dersim-Historical-and-Contemporary-Insights.

  12. Am 29.05.2020 befanden sich 3,580 Millionen syrische Flüchtlinge unter temporärem Schutz. Vgl. Republic of Turkey Ministry of the Interior Directorate General of Migration Management, Temporary Protection by the date of 29.05.2020, online available: https://bit.ly/2XFLKS8.

  13. NOAS, Seeking Asylum in Turkey, p. 10ff., December 2018.

  14. Im Jahr 2020 wurden rund 35000 Anträge auf „internationalen Schutz/bedingten Flüchtlingsstatus“ gestellt. Zusätzlich werden 200.000 Afghan*innen als „irreguläre Migrant*innen“ betrachtet. Vgl. Irregular Migrants, Directorate General of Migration Management, 2019, online available: https://en.goc.gov.tr/irregular-migration.

  15. Erdem Şahin, Aksaray’ın Adı Da Dili de Rengi de Değişti, Haber Turk (blog), 2015; Doğuş Şimşek and Yusuf Sayman, Doğuş Şimşek and Yusuf Sayman on African migrants in Istanbul, Turkey Book Talk, 2019.

  16. Mahir Şaul, A Different ‘Kargo’: Sub-Saharan Migrants In Istanbul And African Commerce, Urban Anthropology and Studies of Cultural Systems and World Economic Development 43, no. 1/2/3 (2014): 143–203; Şimşek and Sayman, Doğuş Şimşek and Yusuf Sayman on African migrants in Istanbul.

  17. Şimşek and Sayman, Doğuş Şimşek and Yusuf Sayman on African migrants in Istanbul.

  18. Ahmet Külsoy, Stuck in Istanbul, African Migrants Suffer Mistreatment, Ahval (blog), 2019.

  19. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 69.

  20. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 15, 33.

  21. AIDA, Country Report Turkey. 2019 Update, April 2020, p. 128.

  22. Article 82 LFIP; AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 70; 116.

  23. Article 33 TPR; AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 139.

  24. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 18.

  25. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 71.

  26. Ayhan Kaya, Respond Turkey in ACCORD, Turkey. COI Compilation, August 2020, p 266f.

  27. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 147f.

  28. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 75.

  29. Amnesty International, Turkey: Halt Illegal Deportation of People To Syria And Ensure Their Safety, 29.04.2020.

  30. NOAS, Seeking Asylum in Turkey, 2018, p. 24.

  31. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 16.

  32. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 8.

  33. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 26f.

  34. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 8.

  35. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 14., p. 140.

  36. Amnesty International, Turkey: Halt Illegal Deportation of People To Syria And Ensure Their Safety, 29.04.2020.

  37. Amnesty International. Sent to a War Zone, October 2019, p. 9.

  38. Daily Sabah, Influx and deportation of illegal Afghan migrants on the rise, 27.05.2019.

  39. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 95.

  40. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 127.

  41. Amnesty International (AI), Europe’s Gatekepper: Unlawful Detention and Deportation of Refugees from Turkey, 16.12.2015, online available: https://bit.ly/2UEMmWn; AI, Turkey: Illegal mass returns of Syrian refugees exposes fatal flaws in EU-Turkey Deal, 01.04.2016, online available: https://bit.ly/3hlVcSF; AI, Refugees at heightened risk of refoulement under Turkey’s State of Emergency, 22.09.2017, online available: https://bit.ly/37yqNMf; AI, Turkey: Sent to a War Zone, 25.10.2019, https://bit.ly/3dUVdux.

  42. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 25.

  43. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 25.

  44. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 70.

  45. Frontex, Migratory Routes: Eastern Mediterranean Route, online available: https://bit.ly/3hCEAW2.

  46. DW, Greece illegally deported 60,000 migrants to Turkey:report, 14.11.2019, online available, https://bit.ly/2QA0Sw1.

  47. Refugee Support Aegean, Alarm over increase of reported push-backs at sea and risks for the lives of those seeking protection, 20.05.2020, online available: https://bit.ly/2Q1Ni48.

  48. E.g. Mare Liberum,, The deadly border in the Aegean Sea, 9 July 2020, https://bit.ly/3kRlP3q.

  49. UNCHR, Mediterranean Situation Update: Greece, online available: https://bit.ly/3055qQN.

  50. Deutsche Welle, Greece, Turkey in border dispute after alleged island occupation, 15.05.2020, online available: https://bit.ly/3hE5Jb6.
                  Greek villagers enlisted to catch migrants at Turkey border. https://abcnews.go.com/International/wireStory/greek-villagers-enlisted-catch-migrants-turkey-border-69452257.

  51. Bordermonitoring.eu, Get Out! Situation von Geflüchteten in Bulgarien, p.9f., online available: https://bit.ly/3g1riBZ.

  52. Antwort der Bundesregierung, Einsatz der NATO gegen profitorientierte Fluchthelfer in der Ägäis und Verbringung aller aufgegriffenen Geflüchteten in die Türkei, 27.04.2016, online available: https://bit.ly/39sEld2.

  53. Global detention project, Country Profil: Turkey, October 2019, online available: https://bit.ly/3jmNub1.

  54. Written Answer by Fabrice Leggeri, subject: Question for written answer E-001650/2020: Frontex operations in Greece, 04.05.2020, online available: https://bit.ly/3f22rfV. Zu den 400 zählen 71 Frontex-Teammitglieder, die im Rahmen des Joint Flexible Operational an der griechisch-türkischen, der griechisch-nordmazedonischen und der griechisch-albanischen Grenze eingesetzt sind.

  55. Andrej Hunko, Pushbacks in der Ägäis: Deutsche Marine drückt Auge zu, 11.08.2020, online available: https://bit.ly/315dYHu.

  56. UNHCR, Mediterranean Situation: Aegan, 2020, online available: https://bit.ly/2MYJrTS; UNHCR, Syria Regional Refugee Response, 2020, online available: https://bit.ly/3hk6jvj.

  57. European Commission, A European Agenda on Migration, 2015, online available: https://bit.ly/2DbWdwH.

  58. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 16.

  59. Amnesty International. Sent to a War Zone, October 2019, p. 9.

  60. Deportation Monitoring Aegean, Voluntary Return, online available: https://bit.ly/3hyV7KS.

  61. AIDA Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 141.

  62. Vgl. Ní Ghráinne, B. 2020. SAFE ZONES AND THE INTERNAL PROTECTION ALTERNATIVE. International and Comparative Law Quarterly, 69(2), 335-364. doi:10.1017/S0020589320000019.

  63. Lauren Wolfe, 2017. The safe zones fallacy. https://www.independent.co.uk/news/world/politics/safe-zones-rwanda-syria-bosnia-a7666021.html.     Alan Crosby. 2017, The 'Very Bad History' Of Safe Zones. https://www.rferl.org/a/syria-safe-zone-explainer-srebrenica/28468420.html.

  64. Syrian Observatory for Human Rights (SOHR), Second blast in a few days. https://www.syriahr.com/en/180405/ ; Security chaos in “Peace Spring” areas https://www.syriahr.com/en/177110/ ; Explosion in Syrian town on Turkish border kills 13 https://www.euronews.com/2019/11/02/explosion-in-syrian-town-on-turkish-border-kills-13.

  65. EU Commission, Fourth Annual Report on the Facility for Refugees in Turkey, online available: https://bit.ly/3b5GlZw, p12.

  66. AIDA, Country Report Turkey: 2019 Update, April 2020, p. 155f.

  67. EU Commission, Fourth Annual Report on the Facility for Refugees in Turkey, online available: https://bit.ly/3b5GlZw.

  68. [130]                 EU Commission, Fourth Annual Report on the Facility for Refugees in Turkey, online available: https://bit.ly/3b5GlZw, p.13.

  69. [131]                 EU Commission, The Facility for Refugees in Turkey, May 2020, online available: https://bit.ly/3ju5Bfj, p.35.

  70. [133]                 Amnesty International, Europe’s Gatekeeper, December 2015, p. 8f.

  71. [134]                 Fulya Memisoglu and Asli Ilgit, Syrian Refugees in Turkey: Multifaceted Challenges, Diverse Players and Ambiguous Policies, Mediterranean Politics 22, no. 3 (July 3, 2017): 317–38, https://doi.org/10.1080/13629395.2016.1189479.

  72. [135]                 Aslıhan Tezel Mccarthy, Non-State Actors and Education as a Humanitarian Response: Role of Faith-Based Organizations in Education for Syrian Refugees in Turkey, Journal of International Humanitarian Action 2, no. 1 (December 2017): 13, https://doi.org/10.1186/s41018-017-0028-x.

  73. [136]                 Didem Danış and Dilara Nazlı, “A Faithful Alliance Between the Civil Society and the State: Actors and Mechanisms of Accommodating Syrian Refugees in Istanbul,” International Migration 57, no. 2 (April 2019): 143–57, https://doi.org/10.1111/imig.12495.

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