Somalia

Veröffentlicht März 3rd, 2020 - von: Simone Schlindwein

Aktualisierung Dezember 2022

Im September 2022 hat der European External Action Service das Dokument EAAS(2022)1641 herausgegeben, in dem die Operationen ATLANTA, EUCAP Somalia und EUTM Somalia als Teil eines "Integrierten Ansatzes in Somalia und dem Horn von Afrika" dargestellt werden. Es wird empfohlen, die Operationen bins Ende 2024 zu verlängern.

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Heimkehr, freiwillig und erzwungen

Fast ein Drittel der somalischen Bevölkerung ist in 25 Jahren Bürgerkrieg geflohen – mehr als vier Millionen Menschen. Jetzt bemüht sich die Übergangsregierung um ihre Heimkehr. Die EU hilft mit.

In großen Teilen Somalias herrscht seit 25 Jahren ein brutaler Bürgerkrieg. Seit dem Sturz des autoritären Herrschers Siad Barre 1991 gibt es quasi keine Zentralregierung mehr, die das ganze Land kontrolliert. Die islamistische Miliz Al-Shabaab hatte zwischenzeitlich Teile des Landes besetzt. Piraten machten die strategisch wichtigen Küsten am Golf von Aden, durch welche internationale Containerschiffe passieren, unsicher. Seit 2007 unterhält die Afrikanische Union (AU) eine Friedensmission in Somalia, um die Al-Shabaab zu bekämpfen und die junge Regierung zu schützen. Aktuell sind mehr als 22.000 Soldaten, Polizistinnen und zivile Angestellte aus Äthiopien, Burundi, Dschibuti, Ghana, Kenia, Nigeria, Sierra Leone und Uganda im Rahmen der African Union Mission to Somalia (AMISOM) im Land stationiert. Trotz anfänglicher Erfolge der Friedensmission gegen die Miliz reicht selbst heute die Kontrollgewalt der mittlerweile gewählten Regierung kaum über die Grenzen der Hauptstadt Mogadishu hinaus. Es kommt nach wie vor regelmäßig zu Terroranschlägen, vor allem gegen Regierungsgebäude inmitten des Stadtzentrums.

2017 fanden zum ersten Mal seit dem Sturz des früheren autoritären Herrschers Siad Barre 1991 wieder Wahlen statt. Laut Übergangsverfassung waren nur die rund 14.000 Clanchefs autorisiert, Vertreter zu wählen, da sich ohnehin die Hälfte der Bevölkerung im Exil befand. Im Juni 2019 trafen sich nun die wichtigsten Regierungsvertreter Somalias im befreundeten Uganda, um dort in sicheren Hotels über die 2020 angesetzten Wahlen zu diskutieren. Halima Ismail Ibrahim, Vorsitzender der unabhängigen Wahlkommission (National Independent Electoral Commission of Somalia NIEC), drängte das Parlament, das Wahlgesetz zu ändern und eine generelle Wahl für alle Bürger*innen zuzulassen. Es wäre das erste Mal seit 50 Jahren, dass alle Somalier*innen das Recht hätten, ihre Stimme individuell abzugeben. Ob die Wahlen jedoch tatsächlich stattfinden können, ist nach wie vor unklar. Die Sicherheitslage ist angespannt.

Migration: Ergebnis des Krieges und Teil der Kultur

Ein Drittel der somalischen Bevölkerung, so schätzt die Weltbank, habe in den vergangenen 25 Jahren des Bürgerkrieges ihre Heimat verlassen; konkret: über vier Millionen Menschen. Dies macht Somalia zu einem der zentralen Herkunftsländer von Flüchtlingen auf dem Kontinent.

Die meisten suchten in den Nachbarländern Schutz: Jenseits der Grenzen in der nordöstlichen Wüstenregion Kenias lebten zu Hochzeiten der Flucht und der Dürre in Somalia 2011 und 2012 fast eine halbe Million somalische Flüchtlinge, rund 730.000 sind es nach UNHCR-Angaben bis heute in Uganda, Äthiopien, Sudan, Eritrea, Dschibuti und Jemen. Über eine Million Vertriebene suchen Schutz innerhalb des Landes, meist in den sicheren Regionen Puntland und Somaliland – beides quasi eigene Staaten, die sich während des Bürgerkrieges von Somalia losgesagt haben, aber international nicht anerkannt sind.

Doch unter den Somalier*innen im Ausland sind nicht nur Kriegsflüchtlinge, sondern auch junge Männer und Frauen aus den relativ friedlichen Gebieten Somaliland und Puntland. Eine Studie des Rift-Valley-Instituts besagt, dass die Zahl der jungen Menschen, die sich nach dem Schulabschluss auf die Reise machen, in diesen Gebieten fast genauso hoch ist wie in den umkämpften Zonen. Die meisten suchen nach Arbeit, die ihrem Bildungsniveau entspricht, da es in ihrer Heimat keine Jobs gibt, so die Studie. „Migration ist in der somalischen Kultur ein Weg zum Erfolg“, erklärt Bram Frouws, Migrationsspezialist des Think-Tanks RMMS, der Migrationsbewegungen am Horn von Afrika untersucht. Viele Somalier*innen, die heute in der Regierung und Wirtschaft im Land eine wichtige Rolle spielen, kamen aus dem Exil in Europa oder den USA zurück.

In der somalischen Sprache gibt es mittlerweile ein Wort für die gefährliche Reise nach Europa: „wuu tahribay“ sagt man in einer Familie, wenn man berichtet, dass der Sohn sich aufgemacht habe, sein Glück in Europa zu suchen. Im Arabischen wird der Begriff in Zusammenhang mit Schmugglern und Schleppern gebraucht, in der somalischen Sprache, vor allem in Puntland und Somaliland, meint man damit die Migration nach Europa. Ein beliebtes Zielland ist Schweden.

Die Routen sind vielfältig: Die östliche geht über den Golf von Aden, die arabische Halbinsel, den Irak und Syrien in die Türkei und weiter auf den Balkan. Die Seeroute führt durch das Rote Meer, über den Sinai und weiter durchs Mittelmeer in die Ägäis, die westliche Route via Äthiopien durch den Sudan und Libyen.

Somalier*innen zählen innerhalb der EU zu den zehn größten Gruppen von Asylbewerber*innen. Sie machen europaweit drei Prozent der Asylbewerber*innen aus, so die Angaben von 2018. Die Anerkennungsquote liegt im Durchschnitt bei 53%. 2018 stellten rund 10.000 Geflüchtete aus Somalia einen Asylantrag in der EU, davon wurden 5.500 Anträge positiv entschieden, über 3.000 abgelehnt. In Deutschland sind sie laut Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach Nigerianer*innen und Eritreer*innen als die drittstärkste Gruppe der Asylbewerber*innen aus Afrika. Im Jahr 2019 waren es rund 5.000. Seit August 2016 steht im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Somalia auf der Liste der Herkunftsländer mit guter Bleibeperspektive. Zuvor umfasste die Liste nur die Länder Eritrea, Irak, Iran und Syrien. Über 38.000 Somalier*innen leben laut Angaben aus dem Jahr 2016 in der Bundesrepublik.

Maßnahmen zur Stabilisierung Somalias

Die Internationale Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten teure Anstrengungen unternommen, das Bürgerkriegsland zu stabilisieren. Die EU unterstützt Somalia im Rahmen des 2013 gemeinsam beschlossenen Somali Compact mit 3,5 Milliarden Euro für den Zeitraum 2015 bis 2020. Darin inbegriffen sind nicht nur Entwicklungshilfegelder und Summen für die Wirtschaftsförderung, sondern auch der Aufbau von Sicherheitsstrukturen wie der nationalen Armee.

Zusätzlich hat die EU für den Zeitraum 2014 bis 2020 weitere 200 Millionen Euro bereitgestellt, unter anderem für friedensbildende Maßnahmen sowie Wirtschaftsförderung wie die Unterstützung von Kleingewerbe, vor allem von Frauen und Berufsbildung. Im Jahr 2017 gab die EU in Anbetracht einer akuten Dürreperiode weitere 119 Millionen Euro zur Nahrungsmittelsicherung. Derzeit macht der EU-Beitrag rund 60% aller humanitären Nothilfe für Somalia aus.

Im Rahmen des Nationalen Indicative Programmes (NIP) profitiert Somalia von 286 Millionen Euro aus dem EU-Entwicklungs-Treuhandfond (EUTF). Weitere Gelder gehen anteilig an Somalia im Rahmen des regionalen Khartum-Prozesses sowie im Rahmen der Unterstützung der Regionalorganisation IGAD (Intergovernmental Authority on Development) und der Afrikanischen Union.

Seit 2007 unterhält die Afrikanische Union die Stabilisierungsmission AMISOM, die von der EU maßgeblich finanziert wird: Mehr als 1,7 Milliarden Euro hat die EU seit 2007 für den Sold der ugandische, kenianischen und burundischen AU-Soldat*innen und Polizist*innen ausgegeben. Doch im Zuge des Aufbaus weiterer EU-Militärmissionen in Mali, Niger und der Zentralafrikanischen Republik reduzierte die EU zu Beginn des Jahres 2016 ihren Anteil um 20%. Kenia und Uganda klagten über ausstehende Zahlungen an ihre Soldat*innen in Somalia. Beide Länder drohten 2016, aus der Mission auszusteigen. Letztlich sagte die EU dann weitere 178 Millionen Dollar zu.

Bereits 2010 etablierte die EU eine Trainingsmission (EUTM) für die quasi nicht existente Armee. Über 5.700 somalische Soldat*innen und Offizier*innen wurden von europäischen Militärs ausgebildet, jedoch nicht in Somalia selbst. Aufgrund der Sicherheitslage wurden sie nach Uganda geflogen und dort von den Europäer*innen monatelang gedrillt. Erst nach Verbesserung der Sicherheitslage 2015 wurde die EUTM-Mission nach Mogadishu verlegt.

In der zivilen EU-Mission EUCAP Nestor (Regional Maritime Capacity Building Mission in the Horn of Africa and the Western Indian Ocean) trainieren europäische Ausbilder*innen seit 2012 die somalische Küstenwache in ihrem Kampf gegen Piraterie.

In der maritimen Operation ATALANTA schützen europäische Kriegsschiffe Boote des Welternährungsprograms (WFP), von AMISOM und anderen Akteuren gegen den Überfall von somalischen Piraten. Die Fälle von Kidnapping durch Piraten vor der somalischen Küste haben seit 2011 dadurch stetig abgenommen. Die Mission wurde 2018 vom EU-Rat bis 2020 verlängert.

Operation Heimkehr

Eine wichtige Rolle spielen bei der Vorbereitung der Wahlen die Flüchtlinge. Ihre Rückkehr würde zur Demokratisierung und Legitimierung der Regierung und damit zur Stabilisierung des Landes beitragen. Bereits im Vorfeld der vergangenen Wahlen Anfang 2017 spielten die Rückkehrer*innen eine entscheidende Rolle: „Behaltet im Kopf, dass eure Rückkehr ein Zeichen für die Wiederbelebung des Friedens in Somalia ist und dass ihr einen Unterschied für euer Land bewirken könnt, wenn ihr heimkehrt“, wandte sich der damalige Regierungssprecher bei einer Reise an die über 270.000 verbliebende somalischen Flüchtlinge in Kenias Lager Dadaab. Die Flüchtlingslager im Nachbarland waren damals für den Wahlkampf entscheidendes Terrain.

Bereits 2013 haben sich Kenias und Somalias Regierungen in einem trilateralen Abkommen mit dem UNHCR auf die Schließung der Lager in Kenia verständigt. Darin war die Frist einer freiwilligen Rückkehr auf Ende November 2016 angesetzt. Somalia und Kenia wollten an diesem Datum festhalten und erhöhten dementsprechend den Druck auf die Flüchtlinge. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hingegen beharrt auf dem internationalen Prinzip der Freiwilligkeit der Rückkehr und erwartet einen Abschluss der Rückführung erst für das Jahr 2032.

Hassan Sheikh Mohammud besuchte im Juni 2016 als erster somalischer Präsident das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia. Er versprach seinen Landsleuten: „Wir wollen nicht, dass ihr gezwungenermaßen zurückkehrt, ohne dass euch Unterkünfte, Bildung und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen“. Wer dafür bezahlen soll, darüber schwieg er sich aus. Das UNHCR hat im Jahr 2016 für die somalische Flüchtlingshilfe nicht einmal ein Drittel der für die Versorgung veranschlagten 150 Millionen Dollar erhalten. Die Aufnahme so vieler Heimkehrer*innen in kurzer Zeit sei eine Herkulesaufgabe für ein Land, das nach über 20 Jahren Krieg fast vollkommen zerstört ist, erklärte Somalias Regierungssprecher Daud Awais.

Abschiebungen nach Somalia sind für die Bundesregierung und die Bundesländer trotzdem kein Tabu mehr. Im Juni 2019 wurden nach Angaben des Regierungspräsidiums Kassel 200 abgelehnte somalische Asylbewerber*innen aus mindestens fünf verschiedenen Bundesländern in der Kasseler Ausländerbehörde somalischen Diplomat*innen vorgeführt. Das Ziel: die Feststellung ihrer Identität und die Ausstellung von Reisedokumenten.

Dem hessischen Flüchtlingsrat zufolge ist das mindestens die zweite sogenannte Botschaftsvorführung für Somalier*innen. Ende 2018 soll es eine weitere im brandenburgischen Eisenhüttenstadt gegeben haben. Nach Angaben einer Sprecherin von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gab es 2018 insgesamt sieben Abschiebungen in das Land, 2019 bisher vier. „Für Somalia gibt es keinen Abschiebestopp“, fasst Seehofers Sprecherin Lisa Häger zusammen.

Viele Asylanträge von Somalier*innen werden darum trotz Verfolgung abgelehnt und die Menschen zur freiwilligen Ausreise aufgefordert. Mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz, in Kraft seit Sommer 2019, können abgelehnte somalische Asylsuchende mit Sozialhilfestreichungen zur „freiwilligen“ Ausreise genötigt werden. Absurd ist jedoch, dass deutsche Behörden somalische Dokumente normalerweise nicht anerkennen.

Rückkehrer*innen: angewiesen auf EU-Hilfsgelder

Die EU gilt als größte Geldgeberin für die Stabilisierung Somalias. Fluchtursachenbekämpfung war lange Zeit das Stichwort der EU-Strategie, mittlerweile liegt der Fokus vor allem auf der Unterstützung der Heimkehrer*innen aus Kenia. In Somalia wurden vom UNHCR vier „sichere Zonen“ für die Rückkehr definiert, darunter die Hauptstadt Mogadischu und die Küstenstadt Kismayo. 150 Dollar und Lebensmittel für sechs Monate bekommen Rückkehrwillige pro Person vom UNHCR. Vor dem Hintergrund der geplanten Schließung des Lagers sowie der Auszahlung von Geldern an quasi mittellose Flüchtlinge entspräche dieses Verfahren nicht der Definition der „Freiwilligkeit“ und verletzte damit Internationales Recht, sagt Victor Nyamori von Amnesty International in Kenia. Es gebe mehr „Push-Faktoren“, vor allem die Angst vor gewaltsamer Abschiebung, als „Pull-Faktoren“ wie ein besseres Leben in der Heimat.

Aus dem EU-Nothilfe-Treuhandfond für Afrika wurden Somalia ebenfalls Gelder zugesagt: 50 Millionen Euro überweist die EU an UNHCR und IOM, um die Aufnahme und Reintegration der rückkehrenden Flüchtlinge zu gewährleisten. Die meisten Heimkehrer*innen finden ihre Häuser zerstört oder besetzt, sie kommen in Vertriebenenlagern, die jetzt von internationalen NGOs aufgebaut werden. Weitere 10 Millionen investiert die EU in das von Dürre betroffene Nord-Somalia, um Fluchtursachen zu bekämpfen.

Die Heimkehr der somalischen Flüchtlinge ist auch für Europa relevant. Denn kehren massenweise Flüchtlinge aus Kenia zurück ins Land, werden auch europäische Behörden Somalia bald als sicher einstufen.

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