Die Erfahrungen sudanesischer Migrant*innen in Libyen

March 7th, 2023 - written by: Maimoon Sheikh

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Artikeln über Migrationsbewegungen in den, im und aus dem Sudan. Diese Zusammenstellung ist dem 4. Jahrestag der sudanesischen Revolution gewidmet und ist ein Gemeinschaftswerk von Sudan Uprising Germany und dem Migration-Control.Info-Projekt.

Wr wollen einen Beitrag zum Wissen über die Situation der prekären Bevölkerungsgruppen im Sudan leisten – Flüchtlinge, Vertriebene und verarmte Menschen in den großen Städten und in der Peripherie. Wir begleiten Menschen auf der Flucht und beleuchten das Unglück dieser Menschen, die durch die EU-Migrationspolitik so stark belastet werden. Die Mördermilizen der Janjaweed wären niemals so stark geworden, wie sie es heute sind, ohne europäische Duldung und Unterstützung, parallel zur Unterstützung der libyschen Milizen, die vorgeben, eine Küstenwache zu sein.

Wir werden die Artikel in 3 Sprachen gleichzeitig veröffentlichen: AR, EN und DE. Die nächsten Artikel, die wöchentlich erscheinen werden, befassen sich mit

  • Situation weiblicher Flüchtlinge im Sudan,
  • Äthiopische Flüchtlinge in Khartum,
  • einen Überblick über Migrationsbewegungen, staatliche Politik und Vertreibung,
  • die europäische Unterstützung für die Janjaweed,
  • zwei Artikel über Flüchtlingslager,
  • Flüchtlingswiderstand in Nordafrika,
  • die Situation der sudanesischen Flüchtlinge in Europa.

Die Erfahrungen Sudanesischer Migrant*innen in Libyen

von Maimoon Sheikh

Maimoon forscht im Süden Libyens bei der Belaady Foundation und schreibt im Twala Magazin.

Wir danken dem Autor für die Fotos.

Einleitung

In den letzten zehn Jahren erlebte der Sudan zwei wichtige Ereignisse in seiner neueren Geschichte, die wesentlichen Einfluss auf die politischen, sozialen und geografischen Gegebenheiten des Landes hatten. Nach 30 Jahren diktatorischer Herrschaft von Omar al-Bashir begann die "Revolution"; die Menschen jubelten und Gruppen von Mädchen tauschten Zeichen der Freiheit aus und ermutigten sich gegenseitig. Stimmen riefen gemeinsam die Worte: Freiheit! Frieden! Und Gerechtigkeit! Die Forderungen der pro-demokratischen Demonstrant*innen sind inzwischen weithin bekannt. Die Begeisterung weitete sich aus. Die Proteste führten Ende 2018 zu einem Putsch mit dem Sturz von Al-Bashir am 11. April 2019. Vor diesem historischen Moment hatte es einen weiteren wichtigen Einschnitt gegeben, nämlich die Abspaltung des Südsudan vom Norden am 9. Juli 2011. Diese Trennung führte zu zahlreichen Problemen und Herausforderungen in der sudanesischen Gesellschaft. Eines der Probleme war der Anstieg sudanesischer Migrant*innen und Asylbewerber*innen, die den Sudan verliessen, auf der Suche nach Sicherheit und Würde und einem sicheren Zufluchtsort für sich und ihre Familien. Das erste Ziel für sudanesische Migrant*innen war Libyen, das eine Landesgrenze mit dem Sudan teilt. Im Jahr 2021 stufte die Internationale Organisation für Migration in ihrem Bericht über Einwander*innen in Libyen sudanesische Migrant*innen unter den fünf am stärksten vertretenen Nationalitäten in Libyen ein, während Niger an erster Stelle, Ägypten an zweiter, Sudan an dritter und Tschad an vierter Stelle standen, und Migrant*innen aus Nigeria zahlenmässig an fünfter Stelle rangierten.

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Die vielen sudanesischen Migrant*innen haben in Libyen unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen sind zumeist bestimmt von der ständigen Suche nach Sicherheit und einem menschenwürdigen Leben abseits der Konflikte und Kriege in Libyen und der instabilen Bedingungen in ihrem Herkunftsland. Die Suche nach Hoffnung beginnt für sudanesische Migrant*innen in dem Moment, in dem sie libysches Land betreten, und sie führt zumeist als erstes in die libysche Stadt Kufra, die auf ihrem Weg liegt. Die Migrant*innen sind zum Teil mehr aus wirtschaftlichen Gründen, zum Teil als Geflüchtete und Asylsuchende nach Libyen gereist.

"Wirtschaftsmigrant*innen"

Alls "Wirtschaftsmigrant*innen" werden diejenigen bezeichnet, die aufgrund von schlechten Lebensbedingungen aus ihrem Land aufgebrochen sind. Sie haben in der Regel keinen Anspruch auf Asyl, es sei denn diese wirtschaftlichen Bedingungen verursachen öffentliche Gewalt oder stören die öffentliche Ordnung in erheblichem Maße. In Libyen gibt es viele "Wirtschaftsmigrant*innen", die stark in den libyschen Arbeitsmarkt eingebunden sind und in verschiedenen libyschen Städten arbeiten. Dabei ist anzumerken, dass sudanesische Einwander*innen von der libyschen Bevölkerung mehr als jede andere Nationalität akzeptiert werden. Sie werden auf dem libyschen Arbeitsmarkt als Lehrer*innen, Buchhalter*innen, Ingenieur*innen, Köch*innen und in anderen Berufen gesucht.

Einer der sudanesischen Einwanderer in der Stadt Sebha erzählte uns von seinen Erfahrungen. Er wanderte aus dem Sudan nach Libyen aus, um einen Job zu finden, mit dem er seine Familie im Sudan unterstützen kann. Muhammad wurde zweimal von der Agentur für illegale Einwanderung festgenommen, bevor er Sebha erreichte. Er hatte Glück, dass die libyschen Behörden ihn nicht abschoben, denn viele Migrant*innen werden willkürlich in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Im Jahr 2015, zwei Jahre nach seiner Ankunft in der Stadt Sebha, bekam Muhammad eine Stelle als Mathematiklehrer an einer Privatschule, zusätzlich zu seiner Arbeit als Buchhalter in einem Geschäft in der Stadt. Eigentlich kriminalisiert das libysche Recht die Einwanderung und Artikel 3 des Gesetzes Nr. 19 von 2010 stellt die sogenannte illegale Migration unter Strafe. Demnach wird jede(r) libyschen Staatsbürger*in, die irregulären Migrant*innen auf libyschem Hoheitsgebiet einen Arbeitsplatz verschafft, eine Geldstrafe von bis zu 3.000 Dinar (knapp 600 Euro) auferlegt. In der Praxis wird dieses Gesetz jedoch nicht angewandt, da der libysche Staat selbst in vielen seiner Einrichtungen auf Migrant*innen angewiesen ist. So sind beispielsweise die meisten Mitarbeiter*innen der General Company for Cleaning Services irreguläre Einwander*innen. Daher werden die meisten Artikel des Gesetzes Nr. 19 von 2010 in der Praxis nicht angewendet, und die meisten Migrant*innen, darunter auch sudanesische Einwander*innen, sind Teil des Arbeitsmarkt ohne Angst vor rechtlichen Risiken.

Sudanesische Geflüchtete und Asylsuchende

Geflüchtete und Asylsuchende gelten als die am stärksten gefährdete Gruppe unter den sudanesischen Migrant*innen in Libyen. Die schwierigen, teils lebensbedrohlichen Bedingungen im Sudan veranlassten sie zur Auswanderung und zum Versuch einen Asylantrag in den Büros des UNHCR in Tripolis zu stellen. Für Migrant*innen, die außerhalb der Stadt Tripolis leben, ist es oft sehr schwierig, den UNHCR zu erreichen. Auf dem Weg dorthin werden die meisten Asylsuchenden an einer der zahlreichen Straßensperren entlang der Einfahrtsstraßen in die Stadt festgenommen.

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Kamal ist ein sudanesischer Einwanderer, der über die Landstraße nach Libyen eingereist ist. Die erste Station, die er erreichte, war die Stadt Kufra, die der sudanesisch-libyschen Grenze am nächsten liegt und das erste Ziel nicht nur für sudanesische Migrant*innen, sondern auch für Migrant*innen aus Herkunftsländern wie Eritrea und Äthiopien ist. Kamal war wegen der Kriege und Konflikte in seinem Land aus dem Südsudan und nach Libyen geflohen. Sein Ziel war die Stadt Tripolis, wo er einen Asylantrag beim UNHCR stellen wollte. Dies erwies sich als unmöglich, denn Tripolis liegt mehr als 1.700 Kilometer von Kufra entfernt. Das ist eine große Herausforderung für alle Migrant*innen, die keine Einreisedokumente haben. Das libysche Gesetz kriminalisiert die Einwanderung und betrachtet sie als illegalen Akt. Die Agentur für illegale Einwanderung hat die Befugnis, Migrant*innen zu verhaften und in Haftanstalten zu überführen, wo sie Schlägen, Unterernährung, erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind, bevor sie zur Rückkehr in die Länder, aus denen sie aus Angst vor Verfolgung flohen, gezwungen werden.

Kamal wurde von einem Schleuser zum nächsten weitergereicht, bis er die Stadt Tripolis erreichte. Dort wurde er jedoch nach seiner Ankunft von der Einwanderungsbehörde verhaftet und in ein der Agentur für illegale Einwanderung angeschlossenes Zentrum in Tajoura gebracht. Nach mehr als sechsmonatiger Haft konnte er aus dem Haftzentrum fliehen und erhielt Hilfe von sudanesischen Migrant*innen, die sich in Tripolis aufhielten. Nun stellte er einen Asylantrag beim UNHCR, aber er hat nach wie vor Angst erneut verhaftet und wieder in das Haftzentrum zurückgebracht zu werden. Weder das Innenministerium noch die mit der libyschen Armee verbundenen Kräfte erkennen die vom UNHCR ausgestellten Dokumente für Geflüchtete und Asylsuchende in Libyen an. Entsprechend werden Menschen, selbst wenn sie Dokumente bei sich haben, die sie als Geflüchtete oder Asylsuchende ausweisen, immer wieder willkürlich von Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen festgenommen.

Die verschiedenen Gruppen an Migrant*innen in Libyen versuchen in Gruppen zusammenzuleben und sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Unter den am besten organisierten Gruppen sind die sudanesischen Migrant*innen. Die sudanesische Gemeinschaft in Libyen bietet verschiedenen sudanesischen und anderen Migrant*innen Hilfe an; zum Beispiel wenn Personen eine Unterkunft oder medizinische Behandlung benötigen, aber auch finanzielle Hilfe sowie Unterstützung beim Stellen eines Asylantrages. Sudanesische Migrant*innen haben mehrmals Mahnwachen vor dem UNHCR-Hauptsitz abgehalten, um ihre Rechte und ihre Ausreise aus Libyen zu fordern. Migrant*innen aus dem Sudan und anderen Herkunftsländern führten 2019 eine Protestaktion durch, bei der sie die Vereinten Nationen aufforderten, eine Untersuchung der Bombardierung des Auffanglagers für Migrant*innen in Tajoura einzuleiten. In diesem befanden sich etwa 600 irreguläre Einwander*innen verschiedener Nationalitäten, von denen die meisten auf ihrem Weg nach Europa von der libyschen Küstenwache aufgegriffen worden waren. Viele Migrant*innen versuchen, auf dem Seeweg nach Europa auszuwandern, um der Hölle der Haft in Libyen zu entkommen. Oft können sie Europa nicht erreichen, weil sie von der libyschen Küstenwache zurückgehalten werden oder das Boot sinkt.

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Misshandlung der Geflüchteten

Im Juni 2022 veröffentlichte eine sudanesische Website die Nachricht vom Untergang eines Bootes mit 70 irregulären Migrant*innen, darunter 60 Sudanes*innen. Nach Angaben des Leiters des Programms zur Reduzierung der irregulären Migration und der freiwilligen Rückkehr sudanesischer Gemeinschaften in Libyen befanden sie sich vor der libyschen Küste auf dem Weg nach Europa. Bewaffnete Gruppen beschossen das Boot, um den Motor zu kapern; er bezeichnete sie als Piraten. Das Boot versank. Seit Anfang 2022 wurden laut eines Berichts der Internationalen Organisation für Migration 14.157 Migrant*innen aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Die Organisation gab an, dass mindestens 216 Menschen bei dem Versuch das Meer zu überqueren, ums Leben gekommen sind, zusätzlich werden 724 Menschen noch immer vermisst und sind wahrscheinlich gestorben.

Eine der häufigsten Praktiken denen Migrant*innen ausgesetzt sind, besteht darin, dass sie von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgeschickt werden. Dies wurde von vielen libyschen Organisationen kritisiert, denn die Aufgegriffenen sind verschiedenen Rechtsverletzungen ausgesetzt. Diese Verstöße beginnen an den Ausschiffungspunkten der libyschen Küstenwache, wo in vielen Fällen Minderjährige von ihren Familien getrennt werden. Die Migrant*innen werden in Haftzentren gebracht, in denen nicht einmal das Nötigste zum Leben vorhanden ist. Sie sind weiteren Verstößen ausgesetzt, wenn sie durch die Agentur für illegale Einwanderung entweder über die Landesgrenzen nach dem Sudan und Niger oder über den Flughafen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.

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Die Belaady-Stiftung für Menschenrechte in Libyen hat eine Reihe von willkürlichen Abschiebungen sudanesischer Migrant*innen und Personen aus bspw. Eritrea und Äthiopien durch die Wüste zwischen der libysch-sudanesischen Grenze aufhalten können. Die Agentur für illegale Einwanderung, Zweigstelle Kufra, gab am 11. November 2022 auf ihrer offiziellen Facebook-Seite die Abschiebung von 43 sudanesischen Migrant*innen auf dem Landweg durch die Wüste ohne vorherige Abstimmung zwischen ihr und der sudanesischen Armee bekannt. Diese Praxis gefährdet das Leben der Migrant*innen.

Alle vom libyschen Einwanderungsapparat durchgeführten Abschiebungen sind illegal und erfolgen unter dem Vorwand, dass die Migrant*innen mit bestimmten Krankheiten wie AIDS und Hepatitis infiziert wären, oder mit anderen Begründungen. Dies ist jedoch nicht als überzeugender Grund für eine Abschiebung anzusehen. Generalmajor Tariq bin Ziyad kündigte bei mehreren Gelegenheiten die Abschiebung von Migrant*innen verschiedener Nationalitäten über die libysch-nigrische Grenze an, wo Geflüchtete und Migrant*innen in offiziellen Auffanglagern in einem Kreislauf von Missbrauch und Erpressung gefangen sind. Sie werden unter unmenschlichen und manchmal tödlichen Bedingungen festgehalten. Sie können von ihren Familien getrennt werden. Die Opfer berichteten, dass sie Folter und anderen Misshandlungen wie sexueller Gewalt und Arbeitsausbeutung ausgesetzt waren. Einige Migrant*innen und Geflüchtete werden auch in Haftanstalten festgehalten, die von bewaffneten Gruppen und Menschenhändlern betrieben werden. Diejenigen, die nicht inhaftiert werden, müssen versteckt leben, was sie verletzlich macht. Sie sind zahlreichen Misshandlungen ausgesetzt, darunter körperliche Übergriffe, Entführung, Diebstahl, sexualisierte Gewalt, Menschenhandel, Zwangsarbeit und Zwangsabschiebung.

Das UN-Gremium betrachtet die gewaltsame Abschiebung sudanesischer Migrant*innen durch die libyschen Behörden als Verletzung der internationalen Flüchtlingsrechte. Das Büro des UNHCR verurteilte die Art und Weise, wie die libyschen Behörden mit den Registrierungsakten umgingen, und sah darin einen Verstoß gegen die internationalen Übereinkommen, denen Libyen beigetreten ist. Libyen ist zwar nicht Vertragspartei der Internationalen Flüchtlingskonvention von 1951, aber es ist Vertragspartei anderer Abkommen, die auf denselben Grundsätzen beruhen und den Schutz von Migrant*innen und Asylsuchenden vorsehen, wie z.B. das Übereinkommen der Flüchtlingskonvention der AU. Damit hat sich Libyen eigentlich verpflichtet, Migrant*innen und Geflüchtete zu schützen und ihnen in Libyen ein sicheres Umfeld zu bieten.

Ein Interview mit einem Sprecher von Belaady hier. Aktuelle Zahlen zu den Geflüchteten in Libyen findet sich im Actual UNHCR Factsheet 2022.