Netzwerke der Zugehörigkeit knüpfen
January 26th, 2025 - written by: Marwan Osman und Eberhard Jungfer
Buchbesprechung: Margret Otto (2024): Netzwerke der Zugehörigkeit knüpfen (Lit-Verlag)
Das Buch von Margret Otto befasst sich mit den Nachbarschaftsbeziehungen in ausgewählten Bezirken von Khartum und Omdurman. Dies ist für uns sehr interessant, weil es eine Art Substrat beschreibt, das zur Vorgeschichte der Widerstandskomitees (Resistande Committees, RCs) gehört und ohne das die Tiefe der Revolution im Sudan vielleicht nicht zu verstehen wäre. Margret Otto beschreibt diese Vorgeschichte der RCs aus einer ganz anderen Perspektive als zum Beispiel Osman Abdallah, den wir über die Entstehung der Revolutionscharta im August 2024 ausführlich interviewt haben.
Wir denken nach wie vor, dass die Erfahrungen der RCs und auch die Frage ihrer Entstehung von großer Bedeutung sind für eine Diskussion über die Möglichkeitsbedingungen einer revolutionäre Transformation. Ein Vergleich der Revolution in Tunis oder der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo im Jahr 2011 mit dem Sit-in in Khartum im Jahr 2019 könnte Bände sprechen! Ein Zitat aus dem Buch von Margret Otto unterstreicht die Bedeutung von Nachbarschaften:
Familiäre Netzwerke werden in Kairo von den Befragten als relevanter eingeschätzt als nachbarschaftliche, die eher als von außen kommend angesehen werden und denen gegenüber vor allem Frauen sich eher verschließen. Das steht im Gegensatz zur sudanesischen Situation, in der sich zeigt, dass Frauen über die eigene Familie hinaus aktiv Netzwerke zwischen den Haushalten in ihrer jeweiligen Umgebung knüpfen, um diese wiederum als Ressource zu nutzen. (S. 51)
Der Fokus auf Frauen zieht sich durch das Buch. Das hat mit den Zugängen zu tun, die Margret Otto zu den Nachbarschaften gefunden hat. Gerade diese Zugänge erweisen sich als überaus inspirierend. Das Buch beruht auf Forschungen, die in de Jahren 2014 – 16 durchgeführt wurden: nach der Segregation des Süd Sudans 2011, die eine schwere ökonomische Krise zur Folge hatte, und nach den Aufständen von 2013, über die in den von Margret Otto durchgeführten Interviews offenbar nicht viel gesprochen wurde. Margret Otto kommt aus der Friedensforschung und nicht aus der Revolutionsforschung. Auf die Revolution und auf den Krieg im Sudan geht Margret Otto im Epilog ihres schönen Buchs ein.
1. Nachbarschaft als Prozess
Die sudanesische Nachbarschaft wird in meiner Untersuchung als ein aktiver Vorgang verstanden, als die Tätigkeit des Herstellens von Nachbarschaft, die mit einem Knüpfen von Netzwerken der Zugehörigkeit verbunden ist. (S. 259)
In Anlehnung an "Locality Production" (Appadurai; vor allem aber an Lefebvres "Soziale Produktion des Raums") beschreibt Margret Otto Nachbarschaft als "prozesshafte Konstruktion einer Verbindung zwischen Ort und Zugehörigkeit". Es geht darum, „What ordinary people think and how they act“, um Nachbarschaft als praktisches Wissen, als aktiven Prozess und als Produktion von Zugehörigkeit zu verstehen.
Es gibt (neben der Methodik der Grounded Theory, die in Kapitel 3 beschrieben wird und auf die wir hier nicht eingehen) zwei Ansatzpunkte, die das Buch darüber hinaus so lebhaft mit aktuellen Diskussionen verknüpfen:
- zum einen der Bezug zur Stadtentwicklung, veranschaulicht durch die Entwicklung der Dreiecksstadt seit Ende des 19. Jahrhunderts, und
- zweitens die Bezugnahme auf das Thema Migration und die Rekonstruktion des sozialen Zusammenhalts - ein Thema, das derzeit in den Situationen der Vertreibung und der Flüchtlingslager noch mehr an Bedeutung gewinnt.
Ich konzentrierte mich auf alte Stadtviertel, die unter der Herrschaft des Mahdi und kurz danach unter der Herrschaft der britischen Kolonialverwaltung geplant und besiedelt worden waren. Die Befragten meiner Studie sind mehrheitlich aus einer Gruppe, deren Familien z. T. zu diesen historischen Zeitpunkten nach Khartum und Omdurman gekommen waren und die vor diesem Hintergrund eine eigene Art von Zugehörigkeit und „ownership“ in den Nachbarschaften für sich reklamierten.[...] Bestehende Orte werden durch Migration zu Ankunftsorten und damit auch für diejenigen, die bisher dort lebten, zu veränderten Orten, was Prozesse der Ausgrenzung und der Vereinnahmung hervorrufen kann. Khartum und Omdurman, die Orte meiner Forschung, sind durch Migrationen entstanden und werden weiterhin dadurch geprägt. (S. 10/11)
Mit der Verknüpfung von Nachbarschaftsforschung, Stadtsoziologie und Migrationsforschung betritt Margret Otto ein Neuland, das sich für viele weitere Diskussionen als fruchtbar erweisen könnte. (In diesem Zusammenhang lohnt sich, u.a. die Bücher von Herbert G. Gutman, Work, Culture & Society (1975) oder Carol B. Stack, All Our Kin (1970) noch einmal aufzuschlagen: das sind Autor:innen, die in den 1970er Jahren für ähnlich gelagerte Diskussionen wichtig waren).
2. Khartoum und Omdurman
Omdurman, die größte Stadt des Sudan und Teil des Großraums Khartoum, ist reich an Geschichte und kultureller Bedeutung. Sie ist bekannt für ihre lebendige Gemeinschaft und ihr starkes soziales Gefüge, das von ihrem einzigartigen historischen, ethnischen und religiösen Erbe geprägt ist. Das Buch von Margret Otto bietet eine einzigartige Perspektive, indem es die historische Entwicklung beschreibt.
Omdurman erlangte im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung, als es die Hauptstadt des Staats unter Muhammad Ahmad al-Mahdi wurde. In dieser Zeit war sie das politische und kulturelle Zentrum. Ihre historische Bedeutung spiegelt sich in Wahrzeichen wie dem Grabmal des Mahdi und dem Haus des Khalifa wider, die eng mit der nationalen Identität des Sudan verbunden sind.
Die Bevölkerung von Omdurman ist ein Mikrokosmos der ethnischen Vielfalt des Sudan mit Gruppen wie den Nubiern, den Fur, den Beja und den arabischen Stämmen. Diese Vielfalt trägt zu einem reichen Geflecht von Traditionen, Sprachen und Praktiken bei und macht Omdurman zu einem Zentrum des sudanesischen Kulturlebens. Die Familien spielen eine zentrale Rolle in der Sozialstruktur. Großfamilien leben oft zusammen oder unterhalten enge Beziehungen, was die kollektive Verantwortung und gegenseitige Unterstützung stärkt. Omdurman zeichnet sich durch enge Nachbarschaften aus, in denen gemeinschaftliche Beziehungen einen hohen Stellenwert haben. Die Menschen treffen sich häufig zu gemeinsamen Veranstaltungen, Hochzeiten und religiösen Zeremonien.
Die Religion ist ein Eckpfeiler des sozialen Lebens. Omdurman ist mehrheitlich muslimisch, und islamische Praktiken beeinflussen das tägliche Leben und die sozialen Interaktionen stark. Die Sufi-Traditionen sind besonders stark ausgeprägt, wobei Veranstaltungen wie Dhikr (Gedenken an Gott) und die jährliche Mawlid-Feier (Geburtstag des Propheten Mohammed) eine wichtige Rolle für den sozialen Zusammenhalt spielen. Die Stadt beherbergt mehrere bedeutende Moscheen und religiöse Zentren, wie die Hamed al-Nil-Moschee, ein Ort für Sufi-Rituale.
Wie weite Teile des Sudan hat auch Omdurman mit Herausforderungen wie politischer Instabilität, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einer raschen Urbanisierung zu kämpfen. Trotz dieser Herausforderungen zeigen sich die Menschen in Omdurman widerstandsfähig und bewahren ihre kulturellen Praktiken und soziale Bande. Das soziale Gefüge von Omdurman ist eine Mischung aus historischer Tiefe, kulturellem Reichtum und gemeinschaftlicher Solidarität. Die Fähigkeit der Einwohner, Traditionen zu bewahren und sich gleichzeitig an moderne Herausforderungen anzupassen, zeugt von der Stärke und Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft.
Margret Ortto schreibt,
Im Gefolge des Mahdi waren es in Omdurman Menschen aus unterschiedlichen Regionen des Sudans mit unterschiedlichem sozialen Status, die sich dort niederließen bzw. dort angesiedelt wurden. Khartum war schon unter osmanischer Herrschaft ein Handelsplatz, an dem Menschen aus den umliegenden Regionen, aber auch Händler aus Ländern des östlichen Mittelmeers wohnten. Die Verschiedenheit der Menschen, die nachbarschaftlich miteinander lebten und eine Gemeinschaft mit großer Diversität bildeten, ist auch heute aus Sicht vieler Sudanes:innen ein grundlegendes Kennzeichen sudanesischer Kultur. Unterschiedliche Lebensweisen und Religionen bestanden und bestehen nebeneinander. [...]
Ich beschreibe zuerst in einer chronologischen Abfolge die Entwicklung von Khartum und Omdurman unter kolonialer Herrschaft von ca. 1750 bis 1956 und resümiere die Ergebnisse. In dem weiteren Zeitabschnitt von 1956 bis 2011 behandle ich die Migration mehrerer Millionen Menschen in die Hauptstadt und die Entstehung einer Megacity. Abschließend diskutiere ich Ort und Zugehörigkeit als analytische Kategorien im Rahmen von urbanen Kontexten. (S. 79)
Im zweiten Kapitel des Buches geht es nicht nur um die Entwicklung der Dreiecksstadt, die facettenreich beschrieben und mit Karten ilolustriert wird, sondern auch um die Architektur der Häuser und Höfe. Das "Fenster in der Wand", das zu den Haushalten der Nachbarn hin offen ist, ist für die Pflege der Nachbarschaften von großer Bedeutung. In gewisser Weise ging es um die Verlagerung der dörflichen Lebensweise in die Stadt. Eine Skizze aus dem Buch veranschaulicht das:
3. Sandug und Judiya
Die Sandug ist eine im Sudan weit verbreitete Form der Sparvereinigung, die in vielen Regionen des Südens üblich ist. Sie sind eine Gelegenheit für die Frauen in der Nachbarschaft, sich zu treffen und auszutauschen. Gegenseitige Hilfe und Fürsorge sind ebenfalls ein ständiges Thema. Die Sandugs sind zugleich ein Instrument für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen von den Männern.
Alle sandugs, die ich in Khartum und anderen sudanesischen Städten [...] kennengelernt habe, haben eine ausschließlich weibliche Mitgliedschaft. Oft sind Frauen Mitglied in mehreren sandugs, weil diese sich auf unterschiedliche Sparziele konzentrieren. Die Vorsitzende, die die Kasse verwaltet, d. h. die Einnahmen und Ausgaben tätigt, wird aus der Mitte der Mitglieder bestimmt. Oft rotiert diese Position. Die Höhe der entweder wöchentlichen, 14- tägigen oder monatlichen Einzahlungen wird von den Mitgliedern festgelegt, die auch gemeinsam entscheiden, welches Mitglied welche angesparte Summe ausgezahlt bekommt. (S. 154)
Während sich die Frauen in den Häusern treffen, pflegen die Männer ihre Kontakte außerhalb des Hauses. Wir werden später darauf zurückkommen. Viele gehen mehrmals am Tag zum Gebet und besprechen dort die Dinge, die ihnen wichtig sind. Viele Reparaturarbeiten oder Hilfeleistungen werden von Nachbarn organisiert. Margret Otto vergisst nicht zu erwähnen, dass Moscheebesuch und Nachbarschaftshilfe mit "einer spürbaren und erheblichen sozialen Kontrolle" verbunden sind:
Wenn jede Abwesenheit anderer registriert wird und der Anspruch und das Selbstverständnis bestehen, dem nachgehen zu können, gibt es im Rahmen nachbarschaftlichen Handelns für die Einzelnen keinen Raum, in dem sie unkontrolliert agieren können. (S. 184).
Konflikte in der Nachbarschaft werden in der Regel nicht an eine offizielle Stelle verwiesen, sondern das Judiya-Vermittlungssystem ist ein verbreitetes Mittel zur Konfliktlösung. Dies wird in Kapitel 4.4 des Buches beschrieben. Wenn beide Seiten einverstanden sind, wird eine Lösung ausgehandelt, bei der es nicht um Bestrafung, sondern um den Ausgleich des erlittenen Schadens geht, wobei beide Seiten ihr Gesicht wahren.
Aus der Sicht der von Margret Otto befragten Personen gab es "im Sudan kein vertrauenswürdiges staatliches Rechtssystem, dem sie einen verlässlichen Umgang mit Konflikten zutrauen". (S. 172)
Dieses Misstrauen betrifft nicht nur die Gerichte und Polizeistationen, sondern auch die „Popular Committees“ bei denen es sich um die unterste Verwaltungsebene des Staats handelte, die schon während der britischen Kolonialverwaltung eingerichtet wurde und die vor allem ein Instrument der Bespitzelung und der politischen Kontrolle auf unterster Ebene waren. Diese Komitees sind nicht zu verwechseln mit den Nachbarschaftskomitees / Resistance Committees, die sich seit 2013, aber vor allem während des Sit-Ins 2019 in den Nachbarschaften entwickelt haben.
4. Nachbarschaftskomitees, Genossenschaften und Vereine
Im folgenden Kapitel möchten wir einige Informationen über soziale Strukturen in den Quartieren hinzufügen, die über die von Margret Otto so schön beschriebenen Strukturen und Prozesse der gegenseitigen Solidarität hinausgehen.
4.1 Nachbarschaftskomitees
Die sudanesischen Nachbarschaftskomitees (Lijan Al-Muqawama) stellen eine moderne Entwicklung des Aktivismus an der Basis dar, die sich auf historische Traditionen der Gemeinschaftssolidarität stützt. Ihre dezentrale Struktur und ihre Widerstandsfähigkeit haben das politische Engagement im Sudan neu definiert und die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, die Zukunft ihres Landes aktiv mitzugestalten.
Die Geschichte dieser Komitees ist tief verwurzelt in der Geschichte der politischen Basisorganisation und des Widerstands von unten. Die Komitees spielten eine Schlüsselrolle bei der Mobilisierung der Nachbarschaften und der Unterstützung von zivilem Ungehorsam in entscheidenden Momenten, insbesondere während der Revolution im Dezember 2018, die im April 2019 zum Sturz von Präsident Omar al-Bashir führte.
Historisch gesehen sind sudanesische Nachbarschaften auf der Grundlage starker sozialer Bindungen organisiert, die häufig durch religiöse Einrichtungen wie Moscheen und örtliche Versammlungen gefördert werden. Das Konzept der kollektiven Verantwortung und gegenseitigen Hilfe ist seit langem Teil der sudanesischen Kultur und bildet die Grundlage für organisierte Nachbarschaftsaktionen. Seit der Unabhängigkeit des Sudan spielten Basisbewegungen eine wichtige Rolle bei Arbeiterstreiks, Studentenprotesten und politischer Mobilisierung. Die Oktoberrevolution von 1964 und der Aprilaufstand von 1985 wurden zum Teil von lokalen Komitees und Gewerkschaften vorangetrieben, die eine Blaupause für den modernen Widerstand lieferten.
Die heutige Form der Nachbarschaftskomitees entstand als lokale Einheiten des Widerstands gegen die Unterdrückung durch die Regierung und die wirtschaftliche Not während der lang anhaltenden politischen Krisen im Sudan unter dem Regime von Omar al-Bashir (1989-2019). Während der Revolution im Dezember 2018 waren sie stärker organisiert und wurden allgemein bekannt. Im Gegensatz zu älteren Formen der politischen Organisation, die von Eliten oder bestimmten ethnischen Gruppen dominiert wurden, waren die Nachbarschaftskomitees inklusiver und zogen Mitglieder aus verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Bereichen an. Sie organisierten Proteste, verbreiteten Informationen und koordinierten Aktionen des zivilen Ungehorsams. Diese Komitees spielten eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt gegen das harte Durchgreifen der Sicherheitskräfte und sorgten für eine dezentrale Führung, um die Dynamik aufrechtzuerhalten. Sie arbeiteten auf der Ebene der Stadtteile, was sie für die Bürger zugänglich machte und eine effiziente Mobilisierung und Kommunikation ermöglichte. Sie nutzten moderne Instrumente wie soziale Medien neben traditionellen Methoden wie der Mund-zu-Mund-Propaganda, um Proteste und Sitzstreiks zu organisieren.
Nach der Revolution entwickelten sich diese Ausschüsse weiter und spielten eine größere Rolle: Sie wurden zu Wächtern über die Politik der Übergangsregierung und sorgten für Rechenschaftspflicht und Transparenz. Sie drängten auf die Umsetzung revolutionärer Forderungen wie Gerechtigkeit für Märtyrer, Wirtschaftsreformen und zivile Regierungsführung. In einigen Fällen übernahmen sie Aufgaben bei der Befriedigung lokaler Bedürfnisse, etwa bei der Wasserversorgung, der Müllabfuhr und anderen vom Staat vernachlässigten kommunalen Dienstleistungen.
Das sudanesische Militär und die paramilitärischen Kräfte haben diese Ausschüsse insbesondere während der Konflikte nach der Revolution ins Visier genommen und versucht, ihren Einfluss zu untergraben. Der Übergang von einer revolutionären Kraft zu einer stabilen Basisorganisation war mit Herausforderungen verbunden, insbesondere angesichts der anhaltenden politischen Instabilität im Sudan. Die Komitees kollidierten gelegentlich mit traditionellen Systemen der Governance wie Stammesführern oder offiziellen lokalen Räten, was ein Spannungsverhältnis zwischen revolutionären Idealen und eingefahrenen Machtstrukturen widerspiegelt. Unterschiede in der Ideologie und den Zielen der Komitees haben manchmal zu Spaltungen geführt.
4.2 Nachbarschaftsgenossenschaften
Diese Genossenschaften, die oft als "Sanduq" bezeichnet werden, sind gemeinschaftsbasierte Organisationen, die gegenseitige Hilfe und soziale Unterstützung bei verschiedenen Anlässen wie Hochzeiten, Beerdigungen und anderen gemeinschaftlichen Anlässen bieten. Sie überschneiden sich mit den Sanduqs, die Margret Otto in ihrem Buch beschrieben hat.
Die Genossenschaften besitzen gemeinsam wichtige Gegenstände wie Zelte, Stühle, Tische und manchmal sogar Tonanlagen. Diese werden an Gemeindemitglieder für Veranstaltungen zu geringen oder gar keinen Kosten ausgeliehen. Die Mitglieder zahlen regelmäßig einen kleinen Geldbetrag in den Genossenschaftsfonds ein (Sanduq bedeutet Kasten). Dieser Fonds wird für den Kauf und die Instandhaltung von Ressourcen oder zur finanziellen Unterstützung von Familien bei wichtigen Lebensereignissen wie Hochzeiten und Beerdigungen verwendet. In der Regel wird die Genossenschaft von einem kleinen Ausschuss vertrauenswürdiger Mitglieder aus der Nachbarschaft geleitet, die sich um Finanzen, Wartung und Logistik kümmern.
Eine andere Art von kollektiver Nachbarschaftsarbeit ist das Sammeln von Schafsfellen während des Zuckerfestes (Eid al-Adha). Im Sudan ist dies eine seit langem bestehende Praxis, die mit kommunalerZusammenarbeit und Nachhaltigkeit verbunden ist. Sie spiegelt den für die sudanesische Kultur charakteristischen starken Gemeinschaftsgeist und Einfallsreichtum wider.
Während des Eid al-Adha schlachten die Familien traditionell Schafe als Teil des religiösen Rituals. Dabei fällt eine große Anzahl von Schafsfellen an, die sonst im Abfall landen würden. Nachbarschaftskomitees oder Genossenschaftsgruppen organisieren das Einsammeln dieser Felle in den Haushalten. Freiwillige oder angeheuerte Mitarbeiter gehen von Tür zu Tür, um die Felle einzusammeln, oder es werden Sammelstellen eingerichtet, bei denen die Einwohner sie abgeben können. Der Hauptzweck dieser Praxis besteht darin, Geld zu sammeln. Die Felle werden an örtliche Gerbereien oder Händler verkauft, die sie zu Leder verarbeiten. Der Erlös wird dann dem Nachbarschaftsfonds zugeführt.
Die Mittel werden für die Instandhaltung von Gemeinschaftsressourcen wie Zelten, Stühlen oder anderen gemeinsam genutzten Gegenständen verwendet. Sie können auch zugewiesen werden, um bedürftigen Familien zu helfen, kommunale Veranstaltungen zu unterstützen oder zu Reparaturen und Entwicklungen in der Nachbarschaft beizutragen. Es gibt ökologische und wirtschaftliche Vorteile wie die Verringerung des Abfalls durch die Wiederverwendung eines Nebenprodukts der Eid-Feierlichkeiten. Außerdem bietet diese Praxis eine zusätzliche Einkommensquelle für die Gemeinschaft und unterstützt gleichzeitig die lokale Industrie, z. B. die Lederverarbeitung.
4.3 Nachbarschaftsclubs
Eine weitere wichtige Gemeinschaftsstruktur sind die Nachbarschaftsclubs (gemeinhin als "Nawadi Al- Ahyya" bezeichnet). Diese dienen als wichtige soziale, kulturelle und sportliche Zentren in den Stadtvierteln. Diese Clubs sind ein Eckpfeiler des sudanesischen Gemeinschaftslebens, sie fördern den sozialen Zusammenhalt und bieten Raum für verschiedene Aktivitäten.
Einige ihrer wichtigsten Merkmale sind:
Sport:
Viele Nachbarschaftsvereine konzentrieren sich auf die Förderung des Sports, insbesondere des Fußballs, der im Sudan sehr beliebt ist. Diese Vereine haben oft lokale Mannschaften, die an Freundschaftsspielen oder Turnieren teilnehmen.
Versammlungen:
Die Clubs bieten einen Raum für Personen aus der Nachbarschaft, um sich zu treffen, Kontakte zu knüpfen und lokale Themen zu diskutieren. Sie dienen zudem als Plattformen für die kollektive Entscheidungsfindung, insbesondere bei Projekten zur Entwicklung der Nachbarschaft.
Kulturelle Veranstaltungen:
Einige Clubs organisieren kulturelle Veranstaltungen, Dichterlesungen, Musikaufführungen oder Workshops, die das reiche kulturelle Erbe des Sudan widerspiegeln.
Bildungsprogramme:
Manche Clubs organisieren Nachhilfestunden, Alphabetisierungs-programme oder Berufsausbildungen, insbesondere für Jugendliche in der Nachbarschaft.
Engagement der Jugend:
Die Clubs spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, junge Menschen anzusprechen, sie aktiv zu halten und in konstruktive Aktivitäten einzubinden und ihnen beim Aufbau ihrer Fähigkeiten zu helfen. Sie dienen oft als Raum für Mentoring und die Entwicklung eines Sinns für Kooperation.
Auch diese Clubs werden meistens von einem Ausschuss aus Mitgliedern der Nachbarschaft geleitet und leben von den Beiträgen der Mitglieder und von Spenden. Fundraising-Aktivitäten wie Turniere oder Wohltätigkeitsveranstaltungen sind gängige Mittel, um die Clubs zu unterstützen. Dennoch stehen diese Strukturen vor vielen Herausforderungen, die sich in knappen Ressourcen niederschlagen: Viele Clubs haben Probleme mit der Finanzierung, fehlenden Räumlichkeiten oder der Ausrüstung. Auch die Instandhaltung kann ohne kontinuierliche Unterstützung eine Herausforderung darstellen. Hinzu kommen die Auswirkungen der Urbanisierung. Die rasche Stadtentwicklung und die Veränderungen in den Gemeindestrukturen können sich auf die Funktionsweise der Clubs auswirken.
Die kulturelle Bedeutung der Nachbarschaftsclubs liegt darin, dass sie viel mehr sind als nur Freizeiträume. Sie sind Symbole des sudanesischen Gemeinschaftsgeistes, die Einigkeit, Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung betonen.
5 Beziehungen, Revolution
Natürlich kann diese kurze Rezension nur ein erster Blick in das Buch sein (Kapitel 2 und 4 von 7 Kapiteln, einschließlich des Epilogs). Die "prozesshafte Konstruktion eines Zusammenhangs von Ort und Zugehörigkeit", wie es in Kapitel 6 heißt, wird in diesem Buch sehr schön und facettenreich beschrieben.
Wir sind uns indes nicht sicher, ob wir Margret Ottos Interpretation von Nachbarschaftsbeziehungen als "Sudaneseness" folgen wollen. Natürlich gibt es eine große Zahl von sudanesischen Freunden, die ihre Revolution in einem nationalen Rahmen verstehen, und sie brauchen dies als Medium des Zusammenhalts. Uns geht es aber auch darum, über soziale Beziehungen noch einmal grundsätzlich nachzudenken. Die Marxisten unter uns sind mit dem historischen Materialismus der "Produktionsweisen" vertraut. Im Übergang zur Immaterialität des Informationskapitalismus - also in unserem Zeitalter - halten wir die Zeit für gekommen, in einer Analogie auch von "Beziehungsweisen" zu sprechen. Das Buch von Bini Adamczak (2017) über die Russische(n) Revolution(en) enthält einige wertvolle Hinweise zu diesem Thema, aber auch Autor:innenen wie Abdul Maliq Simone, der Infrastrukturen eher als soziale Beziehungen denn als materielle Transmissionen denkt, könnten dafür wichtig sein. In diesem Zusammenhang ist es sicherlich nicht mehr sinnvoll, von einer nationalen oder postkolonialen "Arbeiterklasse" oder einer wie auch immer gearteten nationalen Rahmung zu sprechen. Die jüngste Transformation des Kapitalismus hat mehr informelle und deklassierte Arbeit hervorgebracht als je zuvor, aber dies kann nicht mehr als eine nationale Angelegenheit verhandelt werden.
Ein zweiter Punkt: Niemand kann von Sanduqs allein leben. Margret Otto hat überzeugend dargelegt, dass sie es für unhöflich hielt, Menschen nach einer Sklavengeschichte ihrer Familie zu fragen. Ja, dem stimmen wir zu, aber sie hat es auch vermieden, nach Religion und nach dem Geld zu fragen. Wie haben die Familien und Nachbarschaften seit 2011 auf die Krise reagiert? Es gab einen Übergang zu einer informellen Wirtschaft auf breiter Basis - aber wie sah das konkret aus? Wir denken, dass wir nicht nur über "Beziehungsweisen" diskutieren müssen (und das Buch, das wir hier besprechen, leistet einen wichtigen Beitrag dazu), sondern auch über Reproduktive Ökonomien. Das sind Ökonomien, die ganz andere Wege gehen als die "Politische Ökonomie" der Nationen. Letzteres Konzept stammt aus dem 18. Jahrhundert und ist nicht unsere Sache. Wir sollten über die Ökonomien von Familien und Gemeinschaften sprechen. Ganz offensichtlich sind diese Ökonomien nur sichtbar, wenn sie theoretisiert werden, wie es Chayanov zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Bezug auf die russischen Bauern getan hat. Diese Reproduktiven Ökonomien werden, so ist unsere These, ganz ähnlich aus den Dörfern in die Städte (und in die Diaspora, und in die Flüchtlingslager) transportiert wie die Nachbarschaften. Die Menschen produzieren gleichzeitig ihre Beziehungen und ihre Ökonomie, die in bestimmten Situationen zu einer Ökonomie des Widerstands wird.
Sicherlich hat das Fehlen dieses Aspekts auch mit den Stadtvierteln zu tun, zu denen Margret Otto Zugang hatte. Natürlich sehen die Nachbarschaften und die Ökonomien des Überlebens in den riesigen Shanty-Towns, aus denen auch die Aufstände von 2013 hervorgegangen sind, anders aus als in den Quartieren der Menschen, die sich selbst als „Mittelschicht“ begreifen. Vielleicht werden einige Forscher:innen im Sudan nach dem Krieg in die Fußstapfen von Margret Otto treten und ihre Forschungen in den dortigen Armutsvierteln weiterführen.
Schließlich fragen wir uns, ob das, was Margret Otto beschreibt, angesichts der ungeheuerlichen Zerstörungen, die derzeit im Sudan und insbesondere in der Dreiecksstadt, wo Margret Otto ihre Forschungen durchgeführt hat, stattfinden, eine "Vergangenheit" ist. Auch dann wären ihre Forschungen von großem Wert, denn sie beschreibt in ihrem Buch die Voraussetzungen einer „Revolution aus den Nachbarschaften“. Im großen Umfang haben sich die RCs in Khartum und Omdurman erst im Verlauf des Sit-Ins konstituiert. Aber diese Konstitution wäre nicht möglich gewesen ohne die vorbestehende soziale Kohäsion in den Nachbarschaftsstrukturen, und ohne die Kontakte der Frauen untereinander, sei es in Form der Sparvereine oder der kleinen Solidaritätsgruppen, die sich seit 2013 gebildet hatten.
Wir sind der Meinung, dass Margret Ottos nicht nur eine Vergangenheit beschreibt, die vorbei ist, sondern die Möglichleitsbedingungen für sozialen Widerstand. Der große Schritt von der Familie zur Nachbarschaft scheint wesentlich zu sein. Und zahlreiche RCs setzen ihre Arbeit in den Emergency Rooms unter Kriegsbedingungen fort. Einige sind auch mit den Fluchtbewegungen mitgewandert und halten ihre Arbeit in den Flüchtlingslagern aufrecht.