RefugeesinLibya: Ein ungehörter Massenprotest

December 28th, 2021 - written by: Dorothée Krämer

Die Autorin forscht und schreibt zu Grenzgewalt und Gegen-Mobilisierung, unter anderem als Teil des unabhängigen Nachrichtenblogs Are you Syrious?

Die Bilder kommen, sofern nicht anders bezeichnet, von RefugeesinLibya bzw. dem Twitter-Account


Die Internationale Gemeinschaft ignoriert seit Jahren das Leid Flüchtender in Libyen. Der Handlungsspielraum des UNHCR ist klein, für die meisten Menschen kann er nichts tun. Tausende Flüchtende sind sich selbst überlassen, in einem ständigen Kreislauf aus Lagersystem, Flucht und erneuter Festnahme. Doch trotz der katastrophalen Situation gelingt es ihnen, sich zu organisieren und auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

"Jean Paul, sag der internationalen Gemeinschaft, dass du nicht in der Lage bist, die Menschen in Libyen unter dem Mandat des UNHCR zu schützen!"

Wenn sie schon ihrem Schicksal überlassen werden, dann soll die Welt diese Wahrheit wenigstens erfahren. Yambio David Oliver Yasona ist wütend und desillusioniert. Aber resignieren ist ein Privileg deren, die Alternativen haben. Und zu denen gehören er und die Menschen, die seit Wochen vor einem Gebäude des UNHCR in Tripoli gestrandet sind, nicht.

Zeitweise 3000 Menschen harren derweil vor einem Gebäude der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen aus, nach dem Anfang Oktober tausenden Menschen die Flucht aus einem der berüchtigten libyschen Lager gelang. In der Hoffnung auf minimale Unterstützung und Sicherheit vor erneuten willkürlichen Verhaftungen wendeten sie sich an den UNHCR.

Doch seit dem vergeht Woche um Woche, ohne, dass sich jemand ihrer annimmt. Die Lage vor Ort am UNHCR Community Day Center ist prekär: Die Menschen schlafen am Straßenrand, ohne Zelte, ohne Toiletten. Sie sind unterversorgt und in ständiger Angst vor Angriffen durch Milizen. Unter ihnen sind viele Kinder. Krankheiten kursieren. Drei Menschen haben bereits ihr Leben verloren, direkt vor dem Gebäude des UNHCR. Mindestens ein Kind wurde auf der Straße geboren. Hilfe bekamen die Flüchtenden bisher kaum, stattdessen suspendierte das UNHCR die Unterstützungsaktivitäten im Center. Der Leiter der UNHCR Mission in Libyen, Jean Paul Cavalieri, ruft immer wieder dazu auf, das Camp aufzulösen – ohne den Menschen vor Ort eine sichere Alternative bieten zu können. Er wirft den Demonstrierenden vor, durch ihre Anwesenheit und ihren Protest die Versorgungsbemühungen der Organisation für die am meisten gefährdeten Flüchtenden zu verunmöglichen. Dem widersprechen die Flüchtenden klar und werfen dem UNHCR im Gegenzug vor, sie alleine zu lassen. Seit Wochen demonstrieren sie täglich vor Ort, mit Sprechchören und Bannern in vier verschiedenen Sprachen. Mit Twitter- (@RefugeesinLibya) und Facebookaccounts (@refugeesinlibya) sowie einer Website haben sie eigene Kommunikationskanäle aufgebaut, durch die sie die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit zu erreichen versuchen. Sie fordern ein, endlich gehört zu werden und stellen klare politische Forderungen: Die Befreiung aller in den Lagern festgehaltenen Flüchtenden, sowie sichere Unterbringung und baldmögliche Evakuierung aus Libyen. Sie verurteilen die Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache und des Lagersystems durch die Europäische Union und die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft inklusive der Afrikanischen Union. Besonders scharfe Kritik üben sie am UNHCR, jener Organisation, deren Mandat es ist, sie zu schützen – und die nun, statt sich hinter sie zu stellen, die Protestierenden zu Sündenböcken erklärt.

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Geschichte der Proteste in Libyen

Der aktuelle Protest ist nicht der erste seiner Art in Libyen. Immer wieder organisierten sich Flüchtende in den letzten Jahren, um gegen ihre verzweifelte Lage anzukämpfen. Im März 2019 etwa wurde ein Protest in dem Lager Sikka gewaltsam von der Polizei niedergeschlagen. 50 Menschen wurden dabei verletzt. Im Juni 2019 veröffentlichte die Journalistin Sally Hayden Bilder aus dem Lager Zintan, in dem im halben Jahr zuvor 22 Menschen an Unterversorgung gestorben waren. Die Gefangenen demonstrierten, die Hände zu Fäusten, überkreuzt über dem zum Boden geneigten Kopf. Auf Plakate hatten sie mit Tomatensauce geschrieben: „Warum ignoriert der UNHCR unsere Tränen in Libyen?“. Vor ihnen, in der Halle, in der sie Tag und Nacht verbrachten, ein riesiger Haufen Müll, von dem Fliegen aufstiegen. Auch die Flucht zu Gebäuden des UNHCR in der Hoffnung auf internationale Aufmerksamkeit und Sicherheit ist nicht neu: Nachdem im Juli 2019 bei einem Luftangriff auf das Lager Tajoura 53 Gefangene ums Leben kamen, der UNHCR später aber nur 55 der verbleibenden 360 Menschen aus dem Lager evakuierte, kam es zu einem Hungerstreik. 350 Menschen wurden schließlich freigelassen. Sie suchten Schutz bei einer Einrichtung des UNHCR, in der diejenigen der extrem gefährdeten Flüchtlinge temporär untergebracht waren, die vom UNHCR für Evakuierungsprogramme ausgewählt waren. Zunächst gewährte der UNHCR den Neuankommenden Unterschlupf, aber als immer mehr Menschen kamen und sich die Sicherheitslage wegen des herrschenden Bürgerkriegs dramatisch verschlechterte, wurde die Einrichtung geschlossen.

Diejenigen, die nun heute vor dem UNHCR Community Day Center in Tripoli ausharren und demonstrieren, zeigen großes Durchhaltevermögen und Mobilisierungsfähigkeiten. Aber dennoch sieht es so aus, als würde ihr Aufschrei wieder einmal ausgesessen werden. Die Situation ist verfahren. Anfang Dezember kündigte das UNHCR an, das Gebäude zu Jahresende aufzugeben. Wohin die Demonstrierenden gehen sollen, wenn die Flaggen der Vereinten Nationen am Community Day Center eingeholt sind und sie erneuten Festnahmen schutzlos ausgeliefert sind, darauf hat niemand eine Antwort.

Libyen als rechtsfreier Raum für Flüchtende

Die Lage für Flüchtende in Libyen ist seit Jahren katastrophal. Überlebende berichten von einem endlosen Kreislauf aus willkürlichen Verhaftungen, Lagern, Folter und Zwangsprostitution. Ein unlängst veröffentlichter Bericht der UN stellte fest, dass die Flüchtenden mit Ziel Europa einer endlosen Folge von Misshandlungen ausgesetzt seien, sobald sie libyschen Boden betreten.

Im libyschen Gesetz gibt es kein Recht auf Asyl, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht. Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet und handelt im klaren Widerspruch zu ihren Inhalten. Regelmäßig werden Flüchtende aus Libyen abgeschoben, ohne Überprüfung ihres Anspruchs auf Schutz. Und das libysche Recht geht noch weiter: Das Gesetz No. 19 von 2010 illegalisiert jede irreguläre Einreise, jeden Aufenthalt und jede Ausreise und sieht unbegrenzte Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit und anschließender Abschiebung für alle „illegalen Migrant:innen“ vor. Es besteht somit faktisch keine Möglichkeit für Flüchtende, sich legal im Land aufzuhalten, egal wovor sie fliehen. Sie sind rechtslose Menschen, ohne Handhabe gegen Verhaftung und Ausbeutung. Und in dem von jahrelanger Diktatur, internationaler Intervention und Milizenkrieg gebeutelten Land gibt es Menschen, die aus ihrer verzweifelten Lage Profit schlagen.

Ein Blick zurück: Libyen als Knotenpunkt der Migration - und der Migrationsabwehr

Die aktuelle Situation in Libyen lässt sich nur verstehen mit Blick auf die Praxis der Auslagerung der Migrationskontrolle, wie sie Europa bis weit in die Staaten Afrikas hinein praktiziert.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Libyen ein Zielland für Migrant:innen aus verschiedenen Ländern des Kontinents. Die Wirtschaft wuchs befeuert von gefundenen Ölvorkommen, und Langzeit-Diktator Muhammar al Gaddafi hegte pan-afrikanische Ansichten, was sich unter anderem in liberalen Regelungen zur Arbeitsmigration niederschlug.

Doch im Zuge von Sanktionen der internationalen Gemeinschaft kam es zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung. Migrant:innen wurden zunehmend zu Sündenböcken erklärt und für die Situation verantwortlich gemacht. Die Stimmung wurde radikaler, es kam vermehrt zu rassistischen Angriffen. Visavergabe und Aufenthaltsgenehmigungen wurden erschwert. Im Jahr 2000 wurden bei Pogromen in Tripoli und Zawayia130 Migrant:innen getötet. Tausende weitere wurden festgenommen und deportiert, oft mitten in der Wüste an der Grenze zum Tschad und Niger abgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Libyen wurde zunehmend unsicherer, und die Flucht übers Mittelmeer naheliegender. Das wiederum brachte Italien auf den Plan, wo die Menschen nach der gefährlichen Überfahrt ankamen. Die Berichte über Gewalt, Deportationen und Internierungslager hinderten Berlusconi nicht daran, Gespräche mit Gaddafi über die Rücknahme der Menschen aufzunehmen. Mit Marokko und Tunesien bestanden bereits ähnliche Abkommen, in denen sich die Länder zum Zurückhalten und Zurücknehmen von Migrant:innen verpflichteten. Der vorläufige Höhepunkt der Kooperation zwischen Italien unter Berlusconi und Libyen unter Gaddafi war das sogenannte Freundschaftsabkommen im Jahr 2008, welches Italien unter anderem erlaubte, im Mittelmeer abgefangene Flüchtende zurück nach Libyen zu bringen – eine Praxis, die 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig eingestuft wurde. Nur kurz nach Abschluss des Freundschaftsabkommens, im Jahr 2010, wurde außerdem das bereits erwähnte Gesetz No. 19 verabschiedet, das tausendende Ausländer:innen schlagartig zu illegalen Migrant:innen machte, denen die Internierung drohte.

Industrie der Migrationsabwehr von Europas Gnaden

Die Folgen des Arabische Frühlings veränderte die Lage in Libyen dramatisch. Bis heute gibt es keine einheitliche, stabile Regierung. Aktuell steht das Land wieder einmal am Scheideweg, nachdem die für den 24. Dezember 2021 angesetzten Wahlen nicht zustande kamen. In dem Zustand der Rechtlosigkeit, verbunden mit von Milizen geführtem Krieg und dem Zusammenbruch der Wirtschaft, wurden die Ausbeutung von Flüchtenden durch Menschenhandel für manche eine lukrative Einnahmequelle. Über die Jahre entwickelte sich regelrecht ein eigener Wirtschaftszweig, in dem Milizen die offiziell dem Ministerium für Inneres und dem Department zur Bekämpfung von Illegaler Migration zustehenden Aufgaben übernahmen. Dies betraf sowohl das Betreiben von Lagern als auch das Abfangen fliehender Menschen auf See. In dem zerrütteten Land lässt sich nicht unterscheiden zwischen staatlichen Institutionen, Milizen und Menschenhändlern. Unhinterfragt von der libyschen Küstenwache zu sprechen ist deswegen ebenso irreführend, wie Beruhigung aus dem Umstand zu ziehen, dass die „offiziellen“ Lager dem Department des Innenministeriums unterstehen. Der Übergang zwischen staatlichen Institutionen und Menschenhändlern sind fließend.

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Protest im Zintan Detention Center 2019 (Credit: Sally Hayden)

Der Kreislauf der Gewalt beginnt für viele damit, dass ihr Boot auf der Flucht Richtung Europa von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen wird.

Die libysche Küstenwache stellt sicher, dass niemand das Land gen Europa verlässt: Entweder, indem sie Fliehende abfängt, oder im Fall von Schiffsbrüchen nicht reagiert – und die Menschen ertrinken lässt. 2021 wurden 32.425 Menschen auf der Flucht aus Libyen abgefangen, mindestens 1500 verloren ihr Leben. Diejenigen, die überleben und abgefangen werden, werden in die berüchtigten Lager verschleppt, die offiziell dem sogenannten Department für die Bekämpfung Illegaler Migration unterstellt sind. Laut UNHCR gibt es aktuell 27 dieser Lager. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Berichte, die Informationen über weitere, inoffizielle und geheime Lager enthalten, in denen die Zustände noch dramatischer sein dürften.

Laut dem bereits zitierten Bericht der UN sind die Bedingungen in den Lagern gezielt darauf ausgerichtet, Leiden zu verursachen. Weiter heißt es, dass „Menschen auf unbestimmte Zeit inhaftiert sind, ohne die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung prüfen zu lassen. Die einzige praktikable Fluchtmöglichkeit besteht darin, den Wärtern große Geldsummen zu zahlen oder innerhalb oder außerhalb des Lagers Zwangsarbeit und sexuelle Gefälligkeiten zu leisten“. Aktuell befinden sich circa 7000 Menschenin diesen Lagern. In den allermeisten herrscht völlige Überbelegung, es gibt keine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, kein Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Toiletten und Duschen sind kaputt, Krankheiten allgegenwärtig. Gewalt, Folter und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Mit Blick auf die Verbrechen, denen Flüchtende in Libyen ausgesetzt sind, geht der UN Bericht so weit, von „systematischen und ausgedehnten Attacken“ zu sprechen, „die der staatlichen Politik entsprechen“. Entsprechend könnten diese Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Doch trotz dieser erdrückender Bestandsaufnahme hält die EU an ihrer Politik der Auslagerung der Migrationsabwehr ungehindert fest. So etwa im Rahmen des Emergency Trust Funds for Africa, einem seit 2015 bestehenden Fördertopf, durch den afrikaweit Projekte zur Migrationseindämmung finanziert werden. In Libyen zielen die Projekte maßgeblich darauf ab, die sogenannte libysche Küstenwache auszubauen (für Einzelheiten siehe auch hier und hier). So fließen europäische Steuergelder direkt in die Hände von Milizen. Große Summen wurden zum Beispiel bereitgestellt, um ein Zentrum zur Koordinierung von Seenotfällen einzurichten, wie es in jedem an Seenotrettung beteiligten Land existieren muss. Bisher existierte das Zentrum aber nur auf dem Papier, Anrufe in Seenotfällen wurden schlicht nicht entgegen genommen oder auf den nächsten Tag vertröstet. Seit kurzem nun hat die Italienische Marine ein eigenes Schiff in Tripoli, auf dem das Zentrum in Containern eingerichtet werden soll (Tagesschau 14.12.21). Gleichzeitig arbeitet Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, direkt mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen. Journalistische Recherchen legten offen, dass Frontexmitarbeiter:innen Informationen über Boote mit Flüchtenden per Whatsapp an die sogenannte libysche Küstenwache schickten – selbst wenn Schiffe von NGOs näher waren und schneller hätten retten können.

Die Rolle des UNHCR in Libyen

Die Rolle des UNHCR in dieser Situation ist alles andere als einfach. Aufgabe der Agentur ist es, die Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention voranzubringen. Wenn Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, Flüchtende zu schützen, versucht die Agentur, diese Lücke zu füllen, in dem sie direkte Unterstützung für Menschen unter ihrem Mandat bereitstellt. Aber das Verhältnis zwischen Libyen und dem UNHCR ist angespannt. 2010 warf Gaddafi die Organisation ohne große Umstände aus dem Land. Mittlerweile ist der UNHCR zwar wieder aktiv, allerdings ohne klar definiertes rechtliches Abkommen. Immer wieder kommt es zu Problemen bei der Visavergabe an Mitarbeitende.

Das Mandat des UNHCR erstreckt sich, neben Binnenvertriebenen, auf Flüchtlinge und Asylsuchende. Ganz im Sinne der Bürokratisierung müssen sich Menschen beim UNHCR als Asylsuchende registrieren, um basale Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen zu können. Doch die Registrierung hilft den Menschen nur wenig. Das Zertifikat, das sie als Asylsuchende vom UNHCR ausgestellt bekommen, wird von den libyschen Behörden nicht anerkannt. Es schützt entsprechend nicht vor Verhaftung und Inhaftierung. Viele derer, die sich in den Lagern befinden, sind beim UNHCR registriert. Und Feststellungsverfahren über den tatsächlichen Flüchtlingsstatus werden nur in den wenigen Fällen durchgeführt, in denen Menschen bereits als besonders gefährdet eingestuft und für die wenigen Plätze in Umsiedlungs- oder Evakuierungsprogrammen ausgewählt wurden. Die Plätze in diesen Programmen sind sehr begrenzt, die von den Staaten bereitgestellten Kontingente völlig unzureichend. Aktuell sind über 40.000 Menschen als Asylsuchende beim UNHCR in Libyen registriert. 2021 konnten nur knapp 1300 Menschen durch Evakuierung oder Umsiedlungsprogramme das Land verlassen. Das Auswahlkriterium ist extreme Verwundbarkeit – alte Menschen und Menschen mit Kindern haben die besten Chancen, aber auch hier reichen die Plätze nicht für aus.

Zugang zu den Lagern hat der UNHCR nur in extrem eigeschränktem Maße und oft nur durch Partnerorganisationen. Zwar sind IOM und UNHCR oft vor Ort am Hafen, wenn abgefangene Menschen von der sogenannten libyschen Küstenwache zurück gebracht werden. Sie können versuchen, Leben zu retten, ein wenig Wasser und Nahrung bereit zu stellen und Menschen zu registrieren – aber die Verschleppung in die Lager können sie nicht verhindern.

Und auch Möglichkeiten der sicheren Unterbringung für diejenigen, die den Lagern entfliehen konnten, kann der UNHCR nicht bereitstellen. In einem Interview erklärte eine Sprecher:in des UNHCR unlängst mit Blick auf die Situation vor dem UNHCR Community Day Center, keine alternativen Unterbringungen für die dort campierenden Menschen bereitstellen zu können. Auch private Unterkünfte kämen kaum in Frage. Viele Hausbesitzer wären nicht bereit, an Flüchtende zu vermieten, und wenn, dann nur zu horrenden Summen. Zugleich wurden in den jüngsten Festnahmewellen viele provisorische Unterkünfte zerstört. Als der UNHCR im November die Freilassung von 57 besonders schutzbedürftigen Menschen aus dem Lager Ain Zara feierte, kommentierten die Protestierenden den Zynismus, dass auch diese Personen zum Protestcamp dazu gestoßen seien, aus Mangel an Alternativen. Nach ihrer Freilassung hätten sie etwas finanzielle Unterstützung bekommen und wären ihrem Schicksal überlassen worden.

Alles, was dem UNHCR bleibt, ist regelmäßig zur Befreiung aller in den Lagern festgehaltener Menschen aufzurufen und die EU aufzufordern, die Kontingente für humanitäre Visa zu erhöhen und die Unterstützung für libysche Behörden an die Einhaltung von Menschenrechten zu knüpfen. Aber die Europäische Union ignoriert diese Worte, ohne mit der Wimper zu zucken. Der UNHCR kann kaum drastisch werden, denn die EU ist nach den USA der zweitgrößte Geldgeber des UNHCR. Verschiedene Projekte speziell in Libyen werden durch Sondermittel der EU finanziert. So wird der UNHCR zum stummen Zeugen mit minimalen Handlungsspielraum für die Schwächsten, in einer Situation, in der tausende Menschen unter seinem Mandat größtem Leid ausgesetzt sind. (Für mehr Einzelheiten bezüglich der Finanzierung von Internationalen Organisationen und NGOs in Libyen, siehe Paolo Cuttitta in diesem Blog).

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Die aktuelle Situation: Festnahmewelle und Ausbruch

Ohne sichere Unterbringung verschafft jede Flucht oder Freilassung nur eine kurze Verschnaufpause vor der nächsten Inhaftierung. Wie begründet die Angst vor Festnahmen ist, zeigt die letzte großangelegte Aktion des libyschen Innenministeriums Anfang Oktober, die letztlich den Auslöser darstellt für die aktuelle Situation am UNHCR Community Day Center. Im Stadtteil Gargaresh, in dem viele Flüchtende in behelfsmäßigen Unterkünften lebten, kam es in der ersten Oktoberwoche zu massiven Razzien. Tausende Flüchtende wurden festgenommen, zahllose Unterkünfte zerstört, Besitz gestohlen. Auf Bildern der Aktion sieht man schwer bewaffnete Männer mit Sturmhauben. Sie bewachen Menschen, die auf dem Boden liegen, die Hände hinter dem Rücken mit Kabelbinder fixiert, das Gesicht im Straßenstaub. Mindestens eine Person wurde bei der Razzia getötet, 5000 Menschen, darunter hunderte Kinder, wurden festgenommen und in die Lager verschleppt. Zu den ohnehin katastrophalen Zuständen in den Lagern kam absolute Überfüllung. Das Lager Al Mabani, in das die meisten der Festgenommenen kamen, war vierfach überbelegt. Eine Organisation, die zwischenzeitlich stark eingeschränkten Zugang zu den Lagern bekommt, berichtet, dass Menschen sich an Ort und Stelle auf dem Boden entleeren müssten, weil sie keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen hätten. Videos von Al Mabani, die auf Social Media kursierten, zeigen eine Halle voller Menschen, sie liegen Haut an Haut. Eine Person ist bewusstlos, einer anderen rinnt Blut über die Brust. Jemand zerreißt ein T-Shirt, um Wunden zu verbinden. Fliegen schwirren durchs Bild, man hört Weinen, Schreie und ein Hämmern gegen eine Metalltür.

Am 8. Oktober kam es dann zum Aufstand in Al Mabani. Die genauen Umstände sind unklar, ein Zeuge berichtet, ein Aufseher habe ein Kind geschlagen, woraufhin die Gefangenen kollektiv rebelliert hätten. Am Ende des Tages waren sechs Menschen tot, erschossen von den Betreibern der Lager. 3000 Menschen hingegen gelang die Flucht. Aber wohin fliehen, wenn überall die nächste Verhaftung droht und das letzte provisorische Zuhause keine Sicherheit bot? Die Menschen wandten sich an den einen Ort, der minimale Hoffnung auf Sicherheit und Unterstützung versprach: Den UNHCR Community Day Center in Tripoli. Kurzfristig erhofften sich die Flüchtenden sichere Unterbringung und Schutz vor einer neuen Verhaftung. Langfristig wollen sie nichts als weg aus Libyen. Aber seitdem sind mehr als zwei Monate vergangen, ohne dass der UNHCR sich ihrer angenommen hätte.

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Das Vertrauen in den UNHCR ist gebrochen

Das Verhältnis zwischen UNHCR und Protestierenden ist angespannt, um es vorsichtig auszudrücken. Statt Unterstützung kamen vom UNHCR nur harte Worte: Durch ihre Präsenz und ihren Protest würden die Protestierenden die Evakuierungsmöglichkeiten für besonders schutzbedürftige Menschen aufs Spiel setzten. Immer wieder ruft Jean Paul Cavalieri die Menschen über Social Media dazu auf, zu gehen.

Am 2. Dezember dann die Hiobsbotschaft: Der UNHCR werde den Community Day Center zum Jahresende schließen. Die Nachricht wurde zunächst auf dem offiziellen Twitteraccount von UNHCR Libyen veröffentlicht, doch kurz darauf wieder gelöscht. Auf einer weniger auf Öffentlichkeitswirksamkeit und mehr der auf direkte Kommunikation mit Flüchtenden ausgerichteten Seite auf Facebook ist sie nach wie vor zu finden. Zwar sind die Unterstützungsangebote in Zentrum bereits seit Beginn der Proteste Anfang Oktober zeitweilig ausgesetzt. Aber noch ist das Gebäude offiziell ein UN-Gebäude. Es wird von der Diplomatic Police bewacht, einer Sondereinheit, die für den Schutz diplomatischen Einrichtungen zuständig ist. Von ihr und der minimalen Wirkung, die von der Präsenz der internationalen Organisation ausgeht, erhoffen sich die Protestierenden ein klein wenig Schutz vor erneuten Festnahmen. Auf die Ankündigung der Schließung hin tragen die Demonstrierenden ihren Protest zum Hauptsitz des UNHCR im Stadtteil Sarraj, wo es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit dem Sicherheitspersonal des UNHCR kommt. Wieder unterscheidet sich die Darstellung des UNHCR stark von der der Flüchtenden. Beide sprechen von drei Verletzten, jeweils auf ihrer Seite. In einer Videobotschaft an die Flüchtlings-Community erklärt Jean Paul Cavalieri, es handele sich bei den Protestierenden größtenteils um Menschen, die nicht unter dem Schutzmandat des UNHCR ständen. Durch ihren Protest würden sie die Arbeit des UNHCR behindern. Dem wiedersprechen die Protestierenden in einem ebenfalls veröffentlichten Video, in dem sie die vom UNHCR ausgestellten Zertifikate in die Kamera halten, die sie als Asylsuchende auszeichnen. Sie beklagen, dass die Papiere ihnen keinerlei Schutz bieten. Unter ihnen sind viele Frauen und Kinder. Zugleich veröffentlichen die Demonstrierenden Videos, die schwer bewaffnetes Sicherheitspersonal zeigen, das gewaltsam gegen die aufgebrachten Menschen vorgeht. Am 20. Dezember dann werden auch die Aktivitäten am UNHCR Center in Sarraj vorübergehend eingeschränkt.

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Refugees showing their certificates to the camera

Die Allianz zwischen dem libyschen Lagersystem und der internationaler Gemeinschaft, allen voran die Europäische Union, ist derweil ungebrochen. José Sabadell, Botschafter der Europäischen Union in Libyen, verdeutlichte die Prioritäten unlängst auf Twitter: Man sei beunruhigt von der aktuellen Situation vor dem UNHCR, davon, dass der UNHCR an seiner Arbeit gehindert werde. Man rufe die libyschen Behörden dazu auf, die Sicherheit zu gewährleisten und Mitarbeitende und Gebäude zu schützen. Kein Wort an die Protestierenden, kein Wort davon, dass es gerade die libyschen Behörden sind, die das Leben dieser Menschen tagtäglich zur Hölle auf Erden machen.

Es sieht also ganz danach aus, als würde sich nichts ändern an der Situation der Flüchtenden in Libyen. Viel wahrscheinlichsten ist, dass für sie alles von vorne losgeht: Behelfsmäßige Notunterkunft, dann wieder eine Festnahme, an Land oder bei der Flucht auf See. Wenn das Boot nicht sinkt, dann Lager, Zwangsarbeit, Folter, mit Glück erneute Flucht und so weiter und so fort. Die Welt wird sie wieder vergessen. Solange die Europäische Union an ihrer Politik der Auslagerung der Migrationsabwehr und der Unterstützung des Lagersystems festhält, wird sich nichts ändern. Es wäre an der Zeit, dass der UNHCR das erkennt und den Mut findet, sich hinter diejenigen zu stellen, die zu schützen er gegründet wurde. Er sollte die Welt endlich wissen lassen, was Yambio David Oliver Yasona fordert: dass er nicht in der Lage ist, die Menschen unter seinem Mandat in Libyen zu schützen.