Vom Horn von Afrika zum Mittelmeer
February 21st, 2023 - written by: Marwan Osman und Ibrahim Al Jirefawi
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Artikeln über Migrationsbewegungen in den, im und aus dem Sudan. Diese Zusammenstellung ist dem 4. Jahrestag der sudanesischen Revolution gewidmet und ist ein Gemeinschaftswerk von Sudan Uprising Germany und dem Migration-Control.Info-Projekt.
Wir wollen einen Beitrag zum Wissen über die Situation der prekären Bevölkerungsgruppen im Sudan leisten - Flüchtlinge, Vertriebene und verarmte Menschen in den großen Städten und in der Peripherie. Wir begleiten Menschen auf der Flucht und beleuchten das Unglück dieser Menschen, die durch die EU-Migrationspolitik so stark belastet werden. Die Mördermilizen der Janjaweed wären niemals so stark geworden, wie sie es heute sind, ohne europäische Duldung und Unterstützung, parallel zur Unterstützung der libyschen Milizen, die vorgeben, eine Küstenwache zu sein.
Wir werden die Artikel in 3 Sprachen gleichzeitig veröffentlichen: AR, EN und DE. Die nächsten Artikel, die wöchentlich erscheinen werden, befassen sich mit
- Situation weiblicher Flüchtlinge im Sudan,
- Äthiopische Flüchtlinge in Khartum,
- die Erfahrungen der sudanesischen Einwanderer in Libyen,
- einen Überblick über Migrationsbewegungen, staatliche Politik und Vertreibung,
- die europäische Unterstützung für die Janjaweed,
- zwei Artikel über Flüchtlingslager,
- Flüchtlingswiderstand in Nordafrika,
- die Situation der sudanesischen Flüchtlinge in Europa.
Vom Horn von Afrika zum Mittelmeer
von Marwan Osman und Ibrahim Al Jirefawi
Abdou Karims lange Reise
Wir trafen uns eines Abends Ende Juli 2022 im Innenhof des Erstaufnahmezentrums in Eisenhüttenstadt. Er war Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig, und sprach auf angenehme Weise Arabisch, wobei er Standardarabisch mit sudanesischen, tschadischen und libyschen Dialekten mischte. Vielleicht war das ein Ausdruck dessen, was Linguisten als "Aufbau und Umbau der Identität“ von Migrant.innen bezeichnen (Al Khair 2021). Er begann das Gespräch mit mir mit den Worten: "Sind Sie neu hier?". Ich antwortete: "Ja, ich bin erst heute angekommen". Daraufhin wurden wir in einer Flut von Fragen mitgerissen, um uns gegenseitig kennen zu lernen.[1]
Bist Du über Ägypten oder Libyen nach Europa gekommen?
Er antwortete: "Über Libyen, natürlich!"
Und warum natürlich?
"Weil die meisten, die über das Mittelmeer nach Europa wollen, von der libyschen Küste aus starten, weil die Entfernung zwischen den beiden Küsten nicht so groß ist."
Dann musst Du den Sudan durchquert haben?
"Ja, ich bin von Somalia nach Äthiopien gefahren, dann in den Sudan, in den Tschad und schließlich nach Libyen."
Welch eine lange Reise machen die Menschen, um der Hölle von Kriegen, Hungersnöten und Katastrophen zu entkommen und ihren Träumen von Sicherheit, Freiheit und einem erträglichen Leben nachzugehen! Das Horn von Afrika ist seit Jahrzehnten von Unruhen und Instabilität geprägt. In Somalia herrscht ein Bürgerkrieg, der nun in sein viertes Jahrzehnt geht, während Äthiopien von einem der längsten Kriege in der Geschichte des Kontinents heimgesucht wurde, der 1991 zur Unabhängigkeit Eritreas führte. Der Osten Äthiopiens wurde von mehreren Dürren heimgesucht, die das Leben von mehr als 10 Millionen Menschen bedrohten, und nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen herrscht am Horn von Afrika derzeit die schlimmste Dürre seit vierzig Jahren, die sich von Eritrea im Norden über Äthiopien und Dschibuti bis in die südlichen Randgebiete Kenias und Somalias erstreckt (Pressemitteilung, Juni 2022). Überschwemmungen, ein weiteres Naturphänomen, verursachten ebenfalls Ernteverluste in Zentral- und Südäthiopien, die zum Bürgerkrieg in den Regionen Tigray, Oromo und Benishangul-Gumuz hinzukamen. Der Sudan, dessen zufällige geografische Lage den Osten des Kontinents mit dem Westen, dem Norden und dem Süden verbindet, leidet seit dem Vorabend der Unabhängigkeit im Jahr 1955 immer wieder unter Bürgerkriegen.
War es schwierig für Dich, in den Sudan einzureisen?
"Nein, es war nicht schwierig.“
Wie lange warst Du im Flüchtlingslager?
"Ich bin nie im Flüchtlingslager gewesen, weil ich nicht über die offiziellen Grenzübergänge zwischen dem Sudan und Äthiopien eingereist bin. Vielmehr wurde ich über die Grenze geschmuggelt und kam in nur einem Tag in Khartum an."
Abdou Karim hat Recht: Die rund 1 600 km lange sudanesisch-äthiopische Grenze gilt aufgrund ihrer Gebirge als eines der komplexesten Gebiete und hat sich seit Jahrhunderten der staatlichen Kontrolle und dem Aufstieg von Eliten widersetzt (Gonzalez 2012: 67). Seine Bewohner haben sich gegen alle Arten von staatlicher Ungerechtigkeit und politischer Ungleichheit gewehrt. Die Region war ein Zufluchtsort für diejenigen, die sich dem Staat widersetzten oder vor seiner Unterdrückung flohen, wie z. B. kulturelle Minderheiten, Warlords oder Rebellen und Banditen (Triulzi 1981). Allgemein gilt die sudanesisch-äthiopische Grenzeregion mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte als Aufnahmeland für Menschen, die dauerhaft oder vorübergehend saisonal migrieren. Der größte Teil der heutigen Bevölkerung kam in den letzten siebzig Jahren in diese Region. Neben der vorübergehenden Ausdehnung der Staaten (Äthiopien oder Sudan) und den Migrationsbewegungen, die diese Region erreichet haben, ist das Grenzgebiet auch mit drei wichtigen Phänomenen verbunden. Das erste ist der Konflikt zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften sowie Stammeskonflikte. Das zweite ist, dass dieses Gebiet auch als Raum für kulturelle Begegnungen zwischen dem Staat und seinen Ablegern auf der einen Seite und horizontal organisierten Gesellschaften auf der anderen Seite fungiert. Das dritte Phänomen, das mit diesen Grenzen verbunden ist, ist die Entstehung neuer Kulturen (Ethnogenese) und ihr Gegenteil - die Ausrottung oder der Ethnozid von Menschen (Hall 2000: 241).
Diese Einführung in die sudanesisch-äthiopische Grenze ist notwendig, um die Realität der Migrationsbewegungen über diese Grenze zu verstehen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Menschen, die an den offiziellen Grenzübergängen ankommen, in sechs Lagern zusammengepfercht sind:
Quelle: COR registration database
In diesen Lagern fehlt es an den grundlegendsten Dingen des Lebens und sie ähneln eher Gefängnissen, deren Bewohner das Lager nicht verlassen dürfen. Sie bekommen weder eine Arbeitserlaubnis noch finanzielle Unterstützung.
Ich habe Abdo Karim gefragt:
Wie hast Du das Leben in Khartum erlebt?
"Abgesehen von der wirtschaftlichen Not werden die Flüchtlinge von den sudanesischen Behörden schikaniert und von der sudanesischen Polizei erpresst."
Auch hier hat Karim Recht, denn seit 2016 haben die sudanesischen Behörden vielen Geflüchteten die Registrierungskarte entzogen und die Polizei kann sie unter dem Vorwand festnehmen, dass sie keine solche Karte und keine Arbeitserlaubnis haben. Die Geflüchteten sind gezwungen, alles, was sie in der Tasche haben, als Bestechungsgeld auszugeben, und in eine solche Situation kann eine Person mehr als einmal geraten.
Der höllische Weg nach Libyen
Nach dem Sturz von Al-Bashir im Jahr 2019 und dem Amtsantritt der Übergangsregierung haben sich die Bedingungen für die Flüchtlinge nicht geändert. Aus Protest gegen diese Bedingungen und um ihre Rechte einzufordern veranstaltete eine Gruppe äthiopischer und eritreischer Flüchtlinge im November 2020 ein Sit-in vor dem Gebäude des UNHCR. Die Übergangsregierung reagierte mit Repressalien, nahm eine große Gruppe der Geflüchteten fest und brachte die anderen in den Süden von Khartum. Nachdem die Übergangsregierung Maßnahmen zur Streichung von Subventionen und zur Liberalisierung der Preise ergriffen hatte, verschärfte sich die Wirtschaftskrise und die Lage der Sudanesen im Allgemeinen und besonders auch der Geflüchteten, was viele von ihnen veranlasste, die Reise durch die Wüste nach Libyen anzutreten.
Ich sagte zu Abdo Karim: Erzähl mir von dem Weg nach Libyen.
"Nachdem wir einen der Schmuggler bezahlt hatten, verlangte er von uns, auch das Essen und Getränke zu bezahlen, und dann nahmen sie uns in einem Auto von West-Omdurman in Richtung Wüste mit. Es dauerte vier Tage, bis wir auf eine Militäreinheit in der Nähe der Grenze stießen. Wir dachten, es sei die libysche Grenze, aber dann kam eine andere Einheit mit offenen und bewaffneten Land Cruisern. Nach einem mehrstündigen Fußmarsch wurden wir aufgefordert, auf die Fahrzeuge zu steigen. Zu unserer Verwunderung erfuhren wir, dass wir uns im Tschad befanden, und dass wir an eine tschadische Miliz verkauft worden waren, die an der Grenze zwischen Tschad und Libyen operierte (Karim konnte den Namen dieser Miliz nicht genau nennen). Diese Gruppe forderte uns auf, erneut zu bezahlen, um uns nach Qatroun in Libyen zu bringen. Sie teilten uns eine Kontonummer mit, auf die wir das Geld einzahlen sollten, und baten uns außerdem, diejenigen zu kontaktieren, die für uns zahlen könnten. Wir blieben etwa zehn Tage lang unter einem Baum und warteten auf die Überweisungen. Schließlich brachten sie diejenigen von uns, die in der Lage waren zu zahlen, nach Al-Qatroun, und ich gehörte zu den Glücklichen, denn mein Onkel, der in Schweden lebt, zahlte das Geld.“
Karims Geschichte deckt sich in einigen Teilen mit den beiden Geschichten von M.M., 16 Jahre alt, und A.A., 18 Jahre alt, die von der Safe Road Initiativeim Januar 2021 im Stadtteil Al-Daim in Khartum interviewt wurden.[2] Die beiden wurden in einem offenen Geländewagen der Rapid Support Forces vom Libya Market westlich von Omdurman abgeholt. Als sie Maliha erreichten, wurden sie in ein anderes Auto verfrachtet. Ein weiteres Auto mit einer bewaffneten Besatzung folgte ihnen - man sagte ihnen, es sei ein Auto zu ihrem Schutz. Diese beiden Personen hatten nicht so viel Glück wie Karim. Sie bekamen Libyen überhaupt nicht zu Gesicht, sondern wurden mehr als sechs Monate lang von der Miliz der Schnellen Eingreiftruppe festgehalten wurden gezwungen, für die Miliz zu arbeiten - kochen, das Lager reinigen, Wäsche waschen und Munitionskisten tragen. Nachdem sich der Zustand von M.M.s Hand, die ihm ein Milizionär mit einem Stock gebrochen hatte, verschlimmert hatte, wurde M.M. arbeitsunfähig, woraufhin seine Mutter kontaktiert und ein Lösegeld von ihr verlangt wurde. Seine Mutter musste viele Menschen um Hilfe zu bitten, bis sie den geforderten Betrag zusammen hatte und das Geld einem der Milizionäre auf dem Libya Market übergab. Die Familie wurde gewarnt, nicht über die Angelegenheit zu sprechen, andernfalls, so wurde ihnen gesagt, würden sie ihren Sohn nicht wiedersehen. Man würde sich seiner entledigen, auch nach seiner Rückkehr, wenn diese Angelegenheit öffentlich bekannt würde.
Einem mit den Wüstenwegen vertrauten Experten zufolge brechen die Migranten über einen der folgenden Punkte auf: El Fasher, An Nahud, Mellit, Umm Kadada, Umm Ujaija, Um Badir, Jabal Maydoub und Al Mashroo' - das sind die Straßen, auf denen es Wasserbrunnen gibt. Die meisten der heimlichen Grenzübertritte nach Libyen werden mit Kamelen durchgeführt, um das Problem des Treibstoffmangels zu umgehen. Die Reise beginnt mit der Vorbereitung der Lebensmittelvorräte, die in der Regel aus trockenem Brot oder Kisra [fermentiertem Fladenbrot], Mehl, Zwiebeln, Zucker und Tee sowie großen Mengen Wasser bestehen, die in Kanistern aus Ziegenhaut transportiert werden. Ein Kamel trägt sechs Kanister.
Die Karawane besteht in der Regel aus zehn bis vierzehn Kamelen. Die Menschenschmuggler entscheiden sich oft dafür, nachts durch das Wadi Howar in Nord-Kordofan zu ziehen, weil es dort Wasserquellen gibt – eine raue, karge Wüste ohne Leben. Nach Wadi Howar gibt es keine Wasserquellen mehr, außer im Gebiet des Uwainat-Dreiecks an der sudanesisch-libyschen Grenze, von wo aus die klandestinen Migrant:innen nach Kufra aufbrechen (etwa sieben Tage auf dem Kamel und vierundzwanzig Stunden mit dem Auto). Die Reise von El Fasher nach Benghazi dauert siebenunddreißig Tage auf dem Kamel und fünf Tage mit dem Auto, wenn es keine Pannen oder andere Notfälle gibt.
Manche Reisende verirren sich in der Wüste und verdursten, weil sie immer die abgelegenen Wüstenpfade wählen, weit weg von den Augen der sudanesischen Milizen und der libyschen Grenzwächter. Aufgrund der Entfernung und die hohen Temperaturen verbrauchen sie die gesamte Wassermenge, die sie besitzen, innerhalb weniger Tage. Ein Überlebender, der auf dem Rücken eines Kamels unterwegs war, berichtete, dass die 41 Reisenden (zu denen er gehörte) ihr gesamtes Wasser verbraucht hatten, bevor ein anderer Konvoi sie in der Gegend von Jubail Al-Deira fand. Nur zwei von ihnen waren noch am Leben, die anderen waren tot, ihre Körper waren steif und ihre Haut von der Hitze abgepellt. Einer der Überlebenden erzählte, dass sie in Wad Banda in Nord-Kordofan aufgebrochen waren und achtundzwanzig Tage lang durch die Wüste gereist waren, um die Stellungen der Milizen zu umgehen, bis die Kamele erschöpft waren und nicht mehr weiterlaufen konnten. Da den Reisenden das Wasser ausging, schlachteten sie die Kamele und tranken ihr Blut. Er glaubt, dass dies sein Leben gerettet haben könnte, da die anderen sich weigerten, das Blut der Kamele zu trinken. Der Augenzeuge berichtet, dass sie in der Gegend von Shajar Bidi, etwa 150 km nördlich von Wadi Howar, auch sechzehn menschliche Skelette gefunden hätten. In der Nähe eines von ihnen habe sich ein Reisepass und ein Personalausweis auf den Namen Abdullah Ahmed Jidu gefunden. Außerdem fanden sie eine Liste der Toten in der Nähe der Leiche ihres Führers.[3]
Die schnellen Eingreiftruppen (RSF)
Diese Reisenden starben wie viele andere bei ihrem Versuch, den von der Europäischen Union unterstützten Schnellen Eingreiftruppen und den libyschen Grenzschutzmilizen auszuweichen.
Der Name "Schnelle Eingreiftruppe" wurde offiziell für die Janjaweed-Miliz verwandt, als sie im Jahr 2013 als eine dem Nationalen Nachrichten- und Sicherheitsdienst angegliederte Truppe legalisiert wurde. Muhammad Hamdan Dagalo wurde zum Anführer ernannt und erhielt den Rang eines Brigadegenerals. Hauptaufgabe dieser Truppen war die Bekämpfung der Rebellion in Darfur, Süd-Kordofan und Blauer Nil. Zahlreiche Verbrechen, die von den Schnellen Eingreiftruppen in diesen Gebieten begangen wurden, sind dokumentiert worden. Hinzu kam ihre Rolle als Grenzschutz im Dreiländereck zwischen Libyen und Sudan (Jebel Al-Uwainat) zur Bekämpfung der Migration.
Nach den berühmten Protesten im September 2013 in Khartum, Wad Medani und anderen sudanesischen Städten kündigte der Sicherheitsapparat die Einführung dieser RSF in Khartum an, die in erster Linie für die Tötung von mehr als 200 Demonstranten verantwortlich gemacht wird. Zwischen 2014 und 2018 gab es Entwicklungen, die RSF zu einem großen Machtfaktor und Paralleltruppe zur Armee zu machen. Im Juni 2016 wurde sie direkt dem Präsidenten der Republik unterstellt. Infanteristen und Kämpfer der RSF wurden in den Krieg im Jemen und zum Schutz der saudischen Grenzen entsandt, wobei schätzungsweise mehr als 5 000 Söldner im Einsatz waren.
Als Folge der Bewegung, die aus der Revolution vom Dezember 2018 hervorging, setzten die RSF am 11. April 2019, zusammen mit einigen Führern der sudanesischen Streitkräfte, Präsident Al-Bashir ab und nahmen ihn fest. Sie bildeten einen Militärrat mit General Abdel Fattah Al-Burhan an der Spitze und Mohamed Hamdan Daglo als seinem Stellvertreter und forderten dann die Anführer der Proteste auf, eine neue verfassungsrechtliche Regelung für die Übergangszeit auszuhandeln. Diese Verhandlungen dauerten zwei Monate, wobei sich die Demonstranten, die den Platz vor dem Generalkommando besetzt hatten, weigerten, die Bedingungen des Militärs zu akzeptieren. Das Militär löste das Sit-in am Morgen des 3. Juni 2019 blutig auf. Dies ist als Massaker von Khartum bekannt. Die RSF gelten als wichtigste militärische Kraft, die das Verbrechen der Auflösung des Sitzstreiks begangen hat.
Mehr als einen Monat lang war das Internet im Sudan abgeschaltet, und die RSF waren in den wichtigsten Städten im Einsatz, um die Proteste zu unterdrücken, bis die Massen am 30. Juni mit "Millionyat" (Millionenprotesten) in allen Städten des Sudan auf die Straße gingen. Daraufhin wurden die Verhandlungen zwischen dem Militär und den Kräften für Freiheit und Wandel (dem politischen Gremium, das die Demonstranten damals vertrat) wieder aufgenommen. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war ein Verfassungsdokument für die Übergangszeit, das zu einer partnerschaftlichen Regierung aus Zivilisten und Militärs führte. In dieser Regierung übernahm Muhammad Hamdan Dagalo das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des Souveränitätsrates.
Es muss erwähnt werden, dass das Verfassungsdokument für die Übergangsperiode 2019 - 2020 die RSF legitimierte und sie als eine parallel zu den sudanesischen Streitkräften agierende Kraft bezeichnete, die dem Oberbefehlshaber und der souveränen Autorität unterstellt ist, während gleichzeitig ihre Unabhängigkeit gewahrt blieb.[4]
Am 25. Oktober 2021 putschte der Befehlshaber der Armee, General Al-Burhan, mit Hilfe der RSF gegen die Übergangsregierung und verhinderte die Umsetzung der Artikel des Verfassungsdokuments. Trotz des heftigen Widerstands der Bevölkerung gegen den Militärputsch, der nun schon über ein Jahr andauert, kontrollieren die Putschisten nach wie vor die staatlichen Institutionen, wobei die RSF eine wirksame Rolle beim Schutz der Putschisten spielen.
Sofort nach dem Militärputsch warnte Muhammad Hamdan Dagalo seine europäischen Verbündeten, dass sein Land eine Quelle für Flüchtlingsströme nach Europa werden könnte, wenn die EU nicht mit seiner neuen Militärregierung zusammenarbeiten sollte. In einem Interview mit Politico sagte er, die Regierung werde sich bemühen, die Lage der Flüchtlinge vorerst zu stabilisieren, und bat um Zusammenarbeit und Anerkennung der neuen Regierung. Er fügte per Videoanruf aus Khartum hinzu: "Aufgrund unserer Verpflichtung gegenüber der internationalen Gemeinschaft und dem Gesetz behalten wir diese Menschen bei uns." "Wenn der Sudan die Grenzen öffnet", fügte er hinzu, "wird es auf der ganzen Welt ein großes Problem geben".
Kurz darauf bildeten die RSF die Desert Shield Forces und setzten sie in der Grenzregion des Dreiecks ein. Es handelt sich um Truppen mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung im Bereich der Einwanderungskontrolle und des Grenzschutzes. Die Verabschiedung fand im Rahmen einer offiziellen Zeremonie statt, die im nationalen Fernsehen und auf Medienplattformen der RSF übertragen wurde.
Foto Credit Maimoon Yusuf
Die RSF verfügen über eigene Plattformen, Websites und Konten in den sozialen Medien, um für ihre Kräfte zu werben und ihr Image zu verbessern, indem sie sich als wichtige humanitäre Helfer bei der Bekämpfung des Menschenhandels, der Rettung von Migranten in der Wüste, der psychologischen Betreuung und der Unterstützung von Migranten bei der Rückkehr in ihre Heimatländer darstellen. Die Beobachtungsstelle Beam Reports, die sich auf die Entlarvung gefälschter Inhalte in sozialen Medien spezialisiert hat, stellte fest, dass die RSF große Anstrengungen unternehmen, um ihr Image über ausländische Medienschnittstellen zu verbessern, die sie zur Verbreitung irreführender Informationen nutzen. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Miliz mit europäischen Agenturen und Zentren in Frankreich zusammenarbeitet, um ihr Image zu verbessern, insbesondere in Bezug auf die Einwanderungsproblematik.
Muhammad Hamdan Daglo erklärte in einem Fernsehinterview mit der BBC im August 2022, dass es derzeit keine Zusammenarbeit zwischen seinen Streitkräften und der Europäischen Union gebe, mit Ausnahme von Italien, dem er für seine Zusammenarbeit und die kontinuierliche Unterstützung dankte, die es seinen Streitkräften seit zwei Jahren gewähren würde. Außerdem haben die elektronischen Medien der RSF seit Oktober letzten Jahres Dokumentarfilme in verschiedenen europäischen Sprachen über ihre offiziellen Plattformen ausgestrahlt. Sie betreffen die Rolle der Miliz bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung.
Offenbar wurden diese Inhalte mit großem Aufwand und in Zusammenarbeit mit auf Öffentlichkeitsarbeit spezialisierten Einrichtungen produziert, die mit den europäischen Verbündeten ausgerichtet sind. All dies verdeutlicht die strategische Position der RSF in Bezug auf ihre Beziehungen zur Europäischen Union und zeigt, dass diese Kräfte ihre Rolle bei der Bewachung der europäischen Grenzen in der Wüste so lange nicht aufgeben werden, wie sie diese als ständige Finanzierungsquelle und als Mittel zur internationalen Erpressung betrachten.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das gefährlichste Problem der Migranten aus dem Sudan nach Libyen nicht der Durst und das Verirren in der Wüste ist. Sondern das größte Problem ist der breite Einsatz dieser Milizen, die an Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und am Menschenhandel beteiligt sind – mit Unterstützung der Europäischen Union. Die EU arbeitet mit Hochdruck an der Ausdehnung ihrer Grenzen ins afrikanische Landesinnere, um die Migration zu bekämpfen, ohne die Verbrechen der RSF-Miliz zur Kenntnis zu nehmen. Sie finanziert und unterstützt diese Miliz unter eklatanter Missachtung der Grundsätze der Menschenrechte und anderer menschlicher und moralischer Werte.
Literatur
Al-Khair, Suliman (2020): Identity construction among Ethiopian Migrants in Sudan [AR]
Baldo, Suliman (2017): Border Control From Hell, How the EUs Migration Partnership Legitimizes Sudan's Militia State. Published by Enough Project
Gonzalez-Ruibal, Alfredo (2012): Generations of Free Men: Resistance and material culture in Western Ethiopia, in: T. L. Kienlin and A. Zimmermann (eds.): Beyond Elites. Alternatives to Hierarchical Systems in Modelling Social Formations. Bonn, pp. 67-82.
Hall, Stuart (1996): Critical Dialogues in Cultural Studies, Routledge
Triulzi, Alessandro (1981): Salt, gold and legitimacy: prelude to the history of no-man’ s land, Belū Shangul, ii al-laggā, Ethiopia (ca.1800–1898).
Footnotes
-
Interview mit Abdou Karim, Juli und August 2022, Eisenhüttenstadt, Deutschland.
↩ -
Interview mit M.M. und A.A., Januar 2021, Al-Daim, Khartum. Sudan.
↩ -
Interviews geführt durch Al-Taj Othman, Al-Rai Al-Aam Zeitung, 2021.
↩ -
Official Gazette of the Republic of Sudan: Constitutional Document for the Transitional Period, Chapter Eleven - Regular Forces.
↩