Das Gemetzel an der Grenze zwischen Nador und Melilla, 24. Juni 2022

August 5th, 2022 - written by: Ca-minando Fronteras

Übersetzung des Reports "Masacre Frontera Nador-Melilla 24J" von Ca-minando Fronteras. Die englische Fassung des Reports gibt es hier als Upload. Wir haben Material zu diesem Ereignis (EN) unter dem Titel Europe Killing Migrants in diesem Blog zusammengestellt.

Eine Todesfalle: Zwei Monate andauernde Repression

Seit Mai dieses Jahres sind die Lager in den Wäldern um Melilla zu einem Kriegsgebiet geworden. Militärische Übergriffe mit immer aggressiveren Strategien und militärischer Ausrüstung haben zwei- bis dreimal jede Woche stattgefunden. Dabei wurden Menschen und Eigentum erheblich geschädigt.

Die Sicherheitskräfte greifen die Lager der Migrant*innen in den frühen Morgenstunden an. Zunächst umstellen Gruppen von Soldaten die Ghettos (mit diesem Begriff werden informelle Lager bezeichnet, die aus behelfsmäßigen Unterkünften aus Holz und Plastik bestehen), während die Menschen schlafen, und überrumpeln sie. Dann kommen Hubschrauber und beginnen Gas zu versprühen, das nach Aussagen von Migranten*innen dazu dienen soll,  sie auf der Flucht vor den Hilfstruppen zu ersticken.

Diese Operationen dauern Stunden und enden damit, dass die Lager dem Erdboden gleichgemacht werden. Bei jeder Razzia verlieren die Menschen die wenigen materiellen Besitztümer, die sie noch besitzen. Sie berichten auch von einer Verschlechterung ihrer körperlichen und psychische Gesundheit als Folge dieser Praktiken.

Die von unserer Organisation befragten Opfer/Überlebenden beschrieben die Auswirkungen der Razzien auf ihr Leben:

"Wir haben alles verloren, auch unsere Kleider und Schuhe, und das wieder und wieder. Nach zwei Monaten hatten wir nichts mehr zu verlieren, weil sie uns auch unsere Gesundheit geraubt hatten. Aber wir haben nie die Hoffnung verloren, dass wir aus dieser Situation herauskommen, denn Zurückgehen ist für uns keine Option."
"Wir wurden immer wieder geschlagen; wir hatten Wunden, die nicht heilen konnten. Es war sehr schwierig, medizinische Versorgung zu finden. Das Schlimmste  sind die Knochenbrüche, weil sie dich so schlagen, dass du nicht gehen oder weglaufen kannst. Wenn man sich nicht bewegen kann, ist man zu nichts zu gebrauchen, denn oft ist es unsere einzige Möglichkeit, uns zu verteidigen, wegzulaufen."
"Sie haben alles gestohlen, was sie nicht verbrannt haben: unsere Telefone, damit wir nicht um Hilfe rufen konnten, die wenigen Dirham, die wir in unseren Taschen hatten. Die Soldaten nahmen alles mit, und wenn noch etwas übrig war, nahmen es die Schläger, die sie bei den Razzien begleiteten."
"Es kann einen verrückt machen, nicht zu schlafen, immer in Alarmbereitschaft zu sein, darauf zu warten, dass sie dich angreifen, immer bereit zu sein, um dein Leben zu rennen. Viele von uns haben den Krieg erlebt und wir wissen, was diese militärischen Übergriffe bedeuten, wie sie funktionieren und wie sie dich nach und nach zerstören."

Die Razzien veranlassten die Migrant*innen, ihre Lager in Richtung Melilla, in unzugänglichere Teile des Gebirges zu verlegen. Drohnen spielten eine wichtige Rolle bei der Ortung von Menschen, die sich versteckt hielten oder auf der Suche nach sichereren Orten waren. Diese unbemannten Roboter werden zunehmend in der Migrationskontrolle eingesetzt, wo sie Ziele identifizieren und Bilder für die Planung militärischer Angriffe liefern.

Nach Angaben der Migrant*innen wurde die Situation von Ende Mai bis Anfang Juni zunehmend unerträglich. Am 7. Juni gab es eine größere Razzia mit mehr Hubschraubern und mehr Gas als üblich. Bei dieser Razzia wurden vier sudanesische Geflüchtete schwer verletzt: "They broke their bodies", in den Worten von Zeugen.

Die Tatsache, dass die Migrant*innen in der Überzahl sind, ist ihr einziger Schutz. Sie  werden nicht alle auf einmal verletzt und/oder festgenommen. Am Montag der Woche, in der sich das Blutbad an der Grenze zwischen Nador und Melilla ereignete, umstellten etwa 500 Soldaten das Flüchtlingslager. Erneut wurden die Migranten mit Gas angegriffen und Dutzende von ihnen wurden verwundet.

Am Dienstag ließen die Angriffe nach, doch am Mittwoch und Donnerstag nahmen sie wieder zu. Von den frühen Morgenstunden bis zum Abend jagten die Soldaten die Flüchtlinge aus dem Lager. Während der Razzia am 23. Juni brach in den Wäldern ein Feuer aus, das Menschen und Umwelt gefährdete.

An diesem Tag wurde eine klare Botschaft ausgesandt: Die Migrant*innen hatten 24 Stunden Zeit, das Gebiet zu verlassen, sonst würde die nächste Razzia noch brutaler ausfallen.

Am Freitag, dem 24. Juni, drohte ein weiterer Angriff. Mit schwindenden Kräften und in der Hoffnung, der Gewalt zu entkommen, beschlossen die Menschen im Lager, in Richtung Grenzzaun zu fliehen. Die Razzia hatte früh am Morgen begonnen.

Diesmal hatten sie weder Haken noch Leitern, um den Zaun zu erklimmen. Jeder war auf sich allein gestellt. Es gelang ihnen, sich eine Motorsäge und eine Metallschere zu beschaffen und sie beschlossen, eines der Tore im Zaun aufzubrechen, um sicherzustellen, dass niemand zurückblieb und weiteren Angriffen durch die Soldaten ausgesetzt wäre. Die Menschen waren sich bewusst, dass viele von ihnen die Grenze ihrer körperlichen Kraft erreicht hatten und nicht in der Lage sein würden, den sechs Meter hohen Zaun zu überwinden.

Schmerzen, Blut und Tod

Eine Gruppe von rund 1.800 Menschen ging  in der Region Beni Enzar an der Grenze zu Melilla zum Grenzzaun. Einige trugen Gegenstände bei sich, die sie gefunden hatten, um sich vor den Angriffen zu schützen, wie sie in den Tagen zuvor in den Lagern stattgefunden hatten. Die Soldaten griffen erneut an und verfolgten sie.

"Nicht jeder hatte Stöcke dabei. Einige, wie ich, hatten nur unsere Beine zum Laufen. Aber ich kann verstehen, dass sie nach dieser Zeit das Gefühl hatten, dass ein Stock ihr Leben retten könnte. Ich glaube, wir waren uns bewusst, dass sie uns töten würden. Die ganze Woche über hatten wir das Gefühl, dass sie diese Grenze überschreiten würden und wir nirgendwo mehr sicher waren. Es ging um Leben und Tod, es gab keinen anderen Ausweg".

Die Menschen in der Gruppe kamen aus dem Sudan, Südsudan, Tschad, Mali, Jemen, Kamerun, Nigeria, Senegal, Niger, Guinea, Burkina Faso und Liberia. Mehr als 80 % der Menschen, die versuchten, den Grenzzaun zwischen Nador und Melilla zu erreichen, kamen aus dem Sudan und Südsudan.

Am 24. Juni kam es zwischen 08:00 und 14:00 Uhr zu Zusammenstößen zwischen Migrant*innen und Soldaten. In den ersten Stunden beschränkten sich diese Zusammenstöße auf Handgemenge. Später wurden die Stöcke, die Steine, die Verzweiflung und Angst der Migrant*innen mit Drohnen, Überwachungskameras, Tränengas und Schusswaffen beantwortet.

Die erste Gruppe, die den Grenzzaun erreichte, versuchte mit der Motorsäge die Drähte zu durchtrennen, aber Zeugen erklärten, dass ihnen schnell die Batterie ausging und sie mit der Schere nicht mehr viel ausrichten konnten. Einige Leute schafften es die andere Seite des Zauns zu erreichen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Soldaten die Menschen bereits von hinten eingekreist und diejenigen, denen es nicht gelungen war die andere Seite zu erreichen, wurden umzingelt. Sie saßen in der Falle; die Menschen fielen einer nach dem anderen zu Boden, erhielten aber keine Hilfe.

Es gab keine koordinierte Unterstützung aus Spanien oder Marokko für die Menschen am Zaun, die unter den Auswirkungen des von den Soldaten verursachten Drucks am Boden lagen. Im Gegenteil, Zeugen berichten, dass die marokkanischen Streitkräfte die Körper der zu Boden Gefallenen zertrampelten.

Diejenigen, die nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen, wurden weggeschleppt und in die Sonne geworfen, ohne dass versucht wurde, das Ausmaß ihrer Wunden zu beurteilen. Wenn sie sich bewegten, wurden sie geschlagen, bis sie sich nicht mehr bewegten.

"Ich war schon einige Male an der Grenze, aber so gewalttätig waren sie noch nie. Die letzten Male waren sehr schwierig. Es war eine Katastrophe. Es war, als hätten sie alles im Voraus vorbereitet. Sie zwangen uns, nach vorne zu gehen, und als wir das taten, kamen sie von hinten. Wir waren umzingelt".
"Wenn du geweint hast, haben sie dich wieder geschlagen, bis sie dir die Beine gebrochen haben oder du ohnmächtig wurdest".

Die koordinierte Gewalt, die an diesem Tag eingesetzt wurde, führte zu Todesfällen und Hunderten von Verletzten. Anhand von Zeugenaussagen wurde eine Reihe verschiedener Ursachen für Todesfälle und Verletzungen ermittelt. In einigen Fällen trafen mehrere dieser Ursachen auf einmal zu:

  • Erstickung durch Gas
  • Quetschungen durch Sturz auf den Boden
  • Quetschungen durch Stiefel der Soldaten
  • Schläge mit traditionellen und elektrischen Schlagstöcken
  • Schussverletzungen
  • Verweigerte medizinische Hilfe und Versorgung
  • Zwangsweise Transporte von Verletzten
  • Abschiebung von Verwundeten aus Melilla, ohne medizinische Behandlung

Der Kreis um die Umzingelten wurde noch enger, indem marokkanische Soldaten auf das Gebiet Melillas vordrangen. In Zusammenarbeit mit den spanischen Sicherheitskräften konnten sie die Migrant*innen weiter angreifen und sie nach Marokko zurückdrängen. Diese Praktiken wurden unter gemeinsamer Abstimmung von spanischen und marokkanischen Sicherheitskräften angewandt.

Den mündlichen Aussagen der Opfer und Überlebenden zufolge hat der spanische Staat Dutzende von potenziellen Geflüchteten und unbegleitete Minderjährige am 24. Juni nach Marokko zurückgedrängt. Diese Abschiebungen erfolgten unter der Beobachtung spanischer Behörden, welche die Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung direkt mit ansahen.

Die spanischen Behörden sahen, was geschah und nutzten diese Informationen, um die repressiven Militärstrategien Marokkos zu unterstützen. Keines der beiden Länder unternahm Anstrengungen, um den Opfern zu helfen und die schrecklichen Folgen der Tragödie zu lindern.

Überwachungsinstrumente wie Drohnen und Kameras wurden ausschließlich für militärische Manöver eingesetzt und nicht, um das Ausmaß der Notlage zu beurteilen und koordinierte Hilfe zu mobilisieren. Infolgedessen lagen tote, verwundete und erschöpfte Menschen, die von Schmerzen und Angst geplagt waren, bis zu acht Stunden lang unter der prallen Sonne auf dem Boden und Soldaten schlugen sie von Zeit zu Zeit willkürlich zusammen. Das Gebiet um die Grenze war übersät mit leidenden, leblosen Körpern, bis Busse und ein paar Krankenwagen eintrafen.

Die Migranten, die mehr Glück hatten, erhielten eine medizinische Behandlung ihrer Wunden. Doch was in den Krankenhäusern geschah, bleibt ein Rätsel, da die marokkanische Polizei sozialen Organisationen und Familienangehörigen der Opfer die Kontaktaufnahme verwehrte.  Das Innenministerium verschärfte die Sicherheitsvorkehrungen in den Krankenhäusern der Städte Nador und Oujda.

Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Nach welchen medizinischen Kriterien erfolgte die Entscheidung, einige Verwundete zu verlegen und andere nicht? Welche Hilfe haben sie erhalten und wann? Haben sie Unterstützung für Operationen und medizinische Behandlung? Konnten sie ihre Angehörigen kontaktieren? Warum und wie sind einige der eingelieferten Menschen im Krankenhaus gestorben? Haben sie mit ihren Familien sprechen können, bevor sie starben?

Inzwischen wurden 65 Personen wegen Straftaten im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 23. und 24. Juni angeklagt.

Die Angeklagten wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe wurde vom Berufungsgericht in Nador wegen schwerer Verbrechen angeklagt und soll mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft werden. Die andere Gruppe ist unter anderem der  Erleichterung der illegalen Ein- und Ausreise von Personen nach Marokko beschuldigt. Alle Beschuldigten befinden sich in Gewahrsam und werden von von Anwälten sozialer Organisationen unterstützt.

Die übrigen Migranten wurden innerhalb des Landes zwangsumgesiedelt, ihres gesamten Besitzes beraubt und ihrem Schicksal überlassen. Unsere Organisation dokumentierte auch die Abschiebung von 132 Menschen in ein als Niemandsland bekanntes Gebiet an der Grenze zu Algerien.

Die Zahl der Todesopfer ist nach wie vor unbekannt. Nach Zeugenaussagen, die unsere Organisation gesammelt hat, ist die Zahl der Toten 62. Wir bestätigen den

Tod von 37 Menschen am Tag des Gemetzels und drei weitere Todesfälle, die zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund der am 24. Juni zugefügten Verletzungen auftraten. Damit erhöht sich die Zahl der Opfer nach Zählung unserer Organisation auf 40. Mögen sie in Frieden ruhen.

Wieder einmal hinderte der Mangel an Transparenz Organisationen und Familien daran, die Toten zu besuchen und sie zu identifizieren. Es ist unklar, ob Autopsien durchgeführt wurden, um die Todesursachen zu klären. Deshalb wurden nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch die Rechte der Verstorbenen und ihrer Familien verletzt: Das Recht, identifiziert zu werden, über die wahren Todesursachen informiert zu werden und ein würdiges Begräbnis zu erhalten.

Die Rechte der Opfer und Überlebenden des Gemetzels und ihre Familienangehörigen wurden nicht nur am 24. Juni verletzt, sondern seither immer wieder neu.

Die humanitäre Krise nach dem Gemetzel

Unser Kollektiv organisierte ein Team von Menschenrechtsaktivisten, um den Verwundeten und denen, die nach dem Massaker verschleppt wurden, Hilfe zu leisten.

In vier humanitären Einsätzen wurden 862 Menschen in verschiedenen Städten unterstützt. Dabei wurden die folgenden Aufgaben durchgeführt:

  • Medizinische Versorgung von Verwundeten.
  • Ausgabe von Kits mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung und Schuhen.
  • Erstellung einer Liste mit vermissten Personen, die von Verwandten und Freunden aus ihren Gemeinden gesucht wurden, mit Hilfe der Opfer/Überlebenden.
  • Einholung von Zeugenaussagen, um einen Bericht zu erstellen, der sich auf die Rechte der Opfer/Überlebenden fokussiert.

In den letzten Wochen unserer Arbeit vor Ort wurden wir Zeugen einer echte humanitäre Krise, die die marokkanischen Behörden mit politischer Unterstützung der spanischen Regierung zu vertuschen versucht haben. Wir haben versucht, das schreckliche Leid, das durch das Gemetzel verursacht wurde, zu lindern, indem wir mit führenden Personen der Communities zusammengearbeitet haben. Außerdem konnten wir an einer gemeinsamen Bewertung der Auswirkungen der Militarisierung der Grenzen auf die Flüchtlinge arbeiten.

Hauptmerkmale der humanitären Krise:

80 % der betreuten Personen erlitten am 24. Juni Verletzungen unterschiedlicher Größe und Schweregrades. Die meisten Verletzungen wurden durch Gewalt und Schläge verursacht: gebrochene Beine, Arme und Schädelverletzungen wurden bei den betroffenen Menschen beobachtet.

"Sie schlugen uns sogar, als wir auf dem Boden lagen. Wir hatten keine Kraft, wir waren völlig erschöpft."

Wir halfen Menschen, die an Orten, zu denen sie trotz der Schwere ihres Zustands verschleppt worden waren, auf Operationen in Krankenhäusern warten mussten.

Wir wurden Zeuge, dass  eine Schusswunde operiert werden musste, um das Projektil zu entfernen.

Ein anderer junger Mann, der mit dem Bus verschleppt worden war, musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden, weil er während der Haft ins Koma fiel. Er blieb drei Tage lang im Koma und und konnte sich nach dem Aufwachen kaum bewegen und kaum sprechen, aufgrund der Schläge auf seinen Kopf.

Die Verwundeten musste operiert werden, und für einige dieser Operationen wurden Materialien benötigt, die von den Gesundheitsbehörden nicht kostenlos zur Verfügung

gestellt werden. Die Tatsache, dass die Polizei den sozialen Organisationen und den Familienangehörigen den Zugang zu den Krankenhäusern in den Tagen nach der Tragödie verweigerte, verschärfte die Notlage. So führte zum Beispiel eine Operation, die sich wegen Materialmangels verzögerte, dazu, dass einer Person ein Fuß amputiert werden musste, die von Soldaten gebrochen worden war.

Körperliche und psychische Zustände, die mit posttraumatischem Stress verbunden waren. Über Panikattacken, Alpträume, Schmerzen am ganzen Körper und Angst berichteten die meisten der Personen während unserer humanitären Missionen.

Mit nichts zurückgelassen. Nach den Gewalttaten hatten die Flüchtlinge, die wir trafen alles verloren. Nach ihren Zeugenaussagen hatten die Soldaten das Wenige gestohlen, das ihnen geblieben war: Mobiltelefone, kleine Geldbeträge und sogar Schuhe, um sie am Gehen zu hindern. Die schreckliche Situation, in der sich die Menschen in den Tagen nach dem Massaker befanden, verschärfte sich durch die Schwierigkeiten, die soziale Organisationen und Community Leader hatten, humanitäre Hilfe zu leisten.

Verfolgung der sudanesischen Geflüchteten-Community. Nach den gesammelten Aussagen und Beobachtungen vor Ort zielten die Polizeikontrollen in den Tagen nach dem 24. Juni speziell darauf ab, Personen sudanesischer Herkunft zu identifizieren. In den folgenden Wochen war die sudanesische Community besonders harten Repressionen ausgesetzt. Diese Stigmatisierung hat auf die gesamte Gesellschaft übergegriffen, und wir müssen den Tod eines Sudanesen nach einem Streit mit einem marokkanischen Staatsbürger bestätigen.

Minderjährige Migranten. 30 % der Opfer/Überlebenden des Gemetzels sind junge Menschen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. 5 % waren Kinder im Alter zwischen 11 und 14 Jahren.

Das Narrativ

Die Konstruktion einer legitimierenden Erzählung: eine Pornographie der Gewalt.

Der Diskurs der Behörden in Bezug auf das Gemetzel betonte die Externalisierung und die Rolle Marokkos als Gendarm der Europäischen Union. Die Stellungnahmen des spanischen des marokkanischen Staats stützten sich auf dieselben drei diskursiven Säulen: den Kampf gegen Menschenschmuggler, die Verantwortung Algeriens für die Organisation der versuchten Zaunüberquerung und die Unterstützung Spaniens und der EU für die militärische Ausrüstung, die bei dem Gemetzel eingesetzt wurde.

Das von den beiden Ländern geschaffene Szenario, einschließlich der Bilder, die die Gewaltanwendung zeigen, sollen die Notwendigkeit dieser Art von Interventionen gegen Migranten bestätigen.

Es hat eine Verschiebung stattgefunden von einer Pornographie des Schmerzes zu einer Pornographie der Gewalt, wobei die Gewalt als Kollateralschaden der notwendigen Grenzkontrollmaßnahmen dargestellt wird. In diesem Szenario werden zivile Opfer des Grenzkrieges gezeigt.

Es ist paradox, dass Journalisten aus EU-Ländern ihre Arbeit in Marokko relativ 'frei'  durchführen konnten, sogar ohne offizielle Erlaubnis der marokkanischen Behörden, während soziale Organisationen mit lizenzierten Projekten, die zur Unterstützung von Migranten zugelassen sind, ernsthafte Schwierigkeiten hatten, den Opfern/Überlebenden der Tragödie zu helfen.

In der offiziellen Darstellung sind die Geflüchteten, die in das Gemetzel verwickelt sind, nichts weiter als eine anonyme Masse von Menschen. Dies stellt eine zunehmend gewalttätige Strategie dar, um das "Anderssein" der Migranten darzustellen und sie als Menschen zeigen, die Gewalt und Tod verdienen.

Wir fragen uns, ob das Gemetzel an der Grenze zwischen Nador und Melilla ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Normalisierung der gewaltsamen Militärstrategien ist, die von den marokkanischen und spanischen Streitkräften gemeinsam durchgeführt werden.

Berichte von Opfern/Überlebenden

Seit Jahren erzählen die migrantischen Communities ihre Geschichten von der Grenze in einem Narrativ, das den Menschenrechten Vorrang einräumt und das Mensch-Sein der Menschen auf der Flucht anerkennt. Community Leaders und Angehörige von Menschen, die an der Grenze gestorben oder verschwunden sind, haben Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung geschaffen und Strategien entwickelt, um der entsetzlichen Gewalt, die als Teil einer Nekropolitik ausgeübt wird, zu widerstehen.

In diesem Fall sind sich die Mitglieder der sudanesischen Community, die vor Jahren aus einem schrecklichen, langwierigen Konflikts geflohen sind, ihrer Rechte als

Flüchtlinge durchaus bewusst. Sie haben ein starkes kollektives Bewusstsein und organisieren sich zusammen mit Opfern/Überlebenden anderer Nationalitäten, um mutig die Wahrheit über die Geschehnisse mitzuteilen.

"Die Hilfskräfte schlugen mich mit einem Knüppel und nannten mich einen dreckigen Nigger. Sie trampelten mit ihren Stiefeln auf mir herum und ich spürte, wie meine Knochen brechen. Ich habe die Leichen der Menschen gesehen, die gestorben sind. Es waren etwa 30. Sie riefen einen Krankenwagen, um uns abzutransportieren und die Leichen wurden in denselben Krankenwagen gelegt. Wir kamen im Krankenhaus an und sie ließen uns alle auf dem Boden liegen, sowohl die Toten als auch die Verletzten. Mein Freund lag vier Tage lang im Koma, bevor er wieder aufwachte. Er war von einer Kugel in den Kopf getroffen worden. Die Soldaten haben uns getötet, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich bin am Leben. Gott hat mich am Leben erhalten, aber ich habe fünf Freunde verloren. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen sterben sehen."
"Der Hass in der Bevölkerung ist geschürt worden. Menschen, die in Häusern wohnten, werden rausgeschmissen. An der Grenze zu Algerien gibt es einen ständigen Strom von Abgeschobenen. Sie alle haben Verletzungen am Körper, am Rücken und am Kopf. Es ist schwer, den Schmerz zu ertragen, wenn man sie sieht. Es bringt einen zum Weinen, wenn man sieht, wie Menschen so behandelt werden. Ich sage ihnen: "Sei stark, mein Bruder. Du musst stark sein." Aber es ist schwierig, wenn man die Situation sieht, in der sie sich befinden. Selbst das Trinken von Wasser birgt das Risiko von Krankheiten. Sie wollen die Wahrheit darüber verbergen, wie die Migranten leben, wie ihre Rechte zerstört werden, wie sie auf Asylbewerbern herumtrampeln und ihre Pässe und alle anderen Dokumente verbrennen."
"Wir haben die Hölle selbst erlebt. Unsere Hände sind geschwollen, weil die Hilfskräfte uns mit Eisenstangen auf die Knöchel schlugen, so dass wir nicht mehr gehen konnten. Wenn sie herausfinden, dass du aus dem Sudan oder Tschad kommst, foltern sie dich, wenn sie dich einsperren. In unserer Gruppe gibt es 13-Jährige Kinder. Sie kamen zu Fuß in der Nacht, auf der Flucht vor den Soldaten und den Menschen. Denn sie haben der  Bevölkerung gesagt, dass wir keine Transportmittel nehmen dürfen. Es gibt Soldaten und Polizisten in Zivil, und wenn sie dich in der Stadt sehen, kommen sie direkt zu dir, um nach deinen Papieren zu fragen. Wenn du aus dem Sudan oder dem Tschad kommst, auch wenn du Papiere hast, rufen sie den Transporter und bringen dich in die Arrestzelle oder deportieren dich an die Grenze."
"Während unserer Fahrt nach Nador wurden wir oft beleidigt, wenn wir ins Krankenhaus gingen oder Leute ansprachen. Sie [Polizisten in Zivil] fragten uns, was wir dort machten, und ich sagte ihnen, dass ich nach meinem vermissten Bruder suchen wollte. Dann sagten sie, dass sie schon bei den Botschaften gewesen seien und niemanden gefunden hätten, weil niemand vermisst würde. Ich zeigte ihnen meine Papiere und sie sagten mir, ich solle zurück in meine Stadt gehen, denn ich würde Probleme in Nador bekommen, wenn sie mich hier wieder sehen würden."
"Drinnen waren meine Freunde auf den Boden gefallen. Man kann nicht sehen mit dem Gas. Man muss die Augen schließen, weil es einen blendet, das ist besser so, aber man sieht nichts. Wenn du dann umfällst, durchsuchen sie dich von Kopf bis Fuß. Sie nehmen alles mit, was du hast, dein Geld, dein Telefon, und sie behalten es für sich selbst. Einer kommt und bestiehlt dich, dann ein anderer, und das tun sie, während wir verletzt sind. Ich hatte 24 Dirham, einer von ihnen hatte mir bereits mein Telefon. Ein anderer nahm den 20-Dirham-Schein, aber er ließ mir die 4 Dirham-Münzen. Aber dann kam ein anderer und nahm mir die auch. Jeder von ihnen verletzt dich auf die eine oder andere Weise, sie haben keine Gnade."
"Sie kamen zwei Tage hintereinander. Sie haben die Leute verprügelt; sie wollen keine Leute im Wald haben. Sie kamen am Mittwoch und griffen uns an. Am Donnerstag haben sie uns wieder verprügelt. Und am Freitag beschlossen wir, zur Grenze zu fliehen. Als wir dort waren, schlugen sie uns schwer. Viele Sudanesen starben, viele Sudanesen wurden verletzt. Sie schlugen die Menschen mit Schlagstöcken und versprühten Gas. Von 08:00 bis 14:00 Uhr schlugen sie auf die Menschen ein. Viele Menschen sind gestorben, aber wir können nichts tun, wir sind nur Reisende. Jetzt wissen wir nicht einmal, was wir essen werden oder was wir tun werden. Sie haben uns geschlagen, auch nachdem wir zur Abschiebung geschickt wurden. Die Marokkaner behandeln uns wirklich schlecht. Ich möchte, dass alle wissen, dass viele Menschen tot sind und dass wir Hilfe brauchen."
"Ich stand unter Schock, sie haben mich schwer geschlagen. Ich kann mich jetzt nicht mehr an viel erinnern. Sie schlugen meinen Bruder auf den Kopf, sie schlugen mich auf den Kopf und auf den Unterleib. Sie trugen sehr, sehr große Schuhe, um mich zu schlagen, um uns zu schlagen. Viele, viele Menschen lagen auf dem Boden. Es war wirklich hart. Viele, viele Menschen starben. Viele, viele Menschen. Sogar mein Bruder, der mich gerettet hat. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Sie verpassten mir diese wirklich große [Wunde], bevor sie mich nach Oujda transportierten. Die Polizei schlug uns und sagte uns, wir seien Hunde und dumm."
"Hallo, wie geht es dir? Ich hoffe, es geht dir gut. Ich schicke dir diese Nachricht wegen der Situation, um dir zu sagen, wie wir zurechtkommen. Hier haben die Flüchtlinge viele Probleme. Sie haben viele Probleme, wenn sie die Grenze zu Marokko überqueren. Einige wurden verletzt, als sie in das Loch im Hügel kamen. Andere wurden verletzt als sie versuchten, den Grenzzaun zu überqueren. Sie wurden dort verletzt und sie sind jetzt in einem sehr schlechten Zustand... Niemand kann verstehen was passiert ist. Sie versuchen durchzuhalten, aber sie können es nicht. Wir sind sehr dankbar für die Hilfe, die wir erhalten haben und für das, was für uns getan wurde. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns ein wenig helfen könnten. Ich versuche, diesen Leuten zu helfen, sie sind meine Leute. Ich vertrete sie, ich bin der Leader ihres Clans. Sie haben mich gebeten, Ihnen diese Nachricht zu schicken. Wir wünschen Ihnen alles Gute. Möge Gott mit Ihnen sein."