EU-Grenzregime

October 30th, 2021 - written by: eberhard

Eine neue Broschüre der Linken im EU-Parlament, herausgegeben von Özlem Alev Demirel MdEP in Kooperation mit der IMI ist erschienen:

EU-Grenzregime. Profiteure von Entmenschlichung und mythologisierten Technologien; von Jacqueline Andres

Wir dokumentieren Auszüge aus dem 4. Kapitel dieser Broschüre


Technologien und ihre Versprechen

Die kostspielige Technologisierung der Grenz- und Migrationsüberwachung baut auf der Überzeugung auf, mit Sensoren, Wärmebildkameras, Drohnen, Satelliten und Biometrie an den Außengrenzen der EU ein Situationsbewusstsein bzw. ein Lagebild in Echtzeit erstellen zu können. Doch die verheißungsvollen Technologien verfügen über Schwachstellen und können die Versprechen, für die sie stehen, oftmals nicht halten. Darüber hinaus sind die Grenzüberwachungstechnologien häufig elektronische Systeme und als solche von ähnlichen Anfälligkeiten betroffen wie unsere elektronischen Alltagsgeräte: leere Akkus, abgebrochene Verbindung, Fehler in der Bildschirmdarstellung oder in der Bedienung sowie fehlende Adapter. Alle elektronischen Geräte gehen auch mal kaputt und müssen repariert oder ersetzt werden. Ganz banal kann eine nicht gezahlte Stromrechnung zum zwischenzeitlichen Aussetzen der elektronischen Systeme führen: So wurde der Strom an der bulgarisch-türkischen Grenze im Jahr 2015 abgeschaltet, „mitten in der Schengen Krise, weil der Strom nicht mehr bezahlt werden konnte“. Ein kritischer Blick auf die eingesetzten Technologien bricht mit ihrem vermarkteten Image der Zuverlässigkeit, Effizienz und Objektivität. Auch wenn sie nicht fehlerfrei funktionieren, so führen sie in ihrem Zusammenspiel durchaus zur Entmenschlichung von people on the move und drängen sie dazu, immer gefährlichere Wege wählen, um auf ihrer Reise weiterzukommen. Michela Pugliese, eine Migrations- und Asylforscherin von Euro-Med Monitor, fasste die Rolle der Technologien wie folgt zusammen:„Hochrisikotechnologien sind die neuen Waffen, die von den EU-Regierungen eingesetzt werden, um sichbei der Kontrolle der Grenzen und der Steuerung der Migrationsströme entschlossen, effizient und stark zu geben, während sie gleichzeitig von einer weiteren Verletzung des legitimen Rechts der Migranten auf Asyl profitieren, die nichts weiter als nutzlosen Schmerz zur Folge hat. [...] EU-Gelder werden in beunruhigende experimentelle Technologien gesteckt, die Migranten als Diebe kriminalisieren und sie an den Grenzen wie Tiere jagen, anstatt in nützliche Realitäten, die sichere und legale Routen, faire Asylverfahren und Integration fördern.“

Abgehandelt werden dann Sensoren, Biometrie, Satteliten und Drohnen. Das Kapitel schließt mit einem Abschnitt zu den „Turbulenzen der Datenmobilität“:

Im Rahmen der EUropäischen Grenzüberwachung erstellte Daten, die durch Drohnen, Satelliten oder auch Berichte von Grenzschutzbeamt*innen produziert werden, werden in den „Informationsinfrastrukturen“ ausgewertet. Hierzu zählen u.a. Eurosur und die Joint Operation Reporting Application (JORA), die seit 2011 „Frontex und seinen internen und externen Stakeholdern (Mitgliedsstaaten, andere EU-Institutionen) Fähigkeiten zur Übermittlung, Verwaltung und Analyse von Daten im Zusammenhang mit Vorfällen während des gesamten Zyklus der von Frontex koordinierten Operationen zur Verfügung [stellt]“.
Silvan Pollozek weist auf „Turbulenzen in der Datenmobilität hin“ und „problematisiert die Selbstverständlichkeit einer reibungslosen und echtzeitfähigen Datenverarbeitung, die allzu oft die Grundlage sowohl enthusiastischer als auch dystopischer Visionen einer Echtzeit-Governance von Migrant*innenmobilitäten durch technologische Mittel bildet.“ So betont Pollozek: „Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass Daten reibungslos wie eine „globale Bewegung von schwerelosen Bits mit Lichtgeschwindigkeit“ fließen und alles und jeden durch undurchsichtige Algorithmen und eine gigantische Masse an Informationen „immer und überall verfügbar“ machen. In Anbetracht der komplexen und heterogenen Landschaft der europäischen Grenzkontrolle, all der Geräte, Informationssysteme, Sensoren, Plattformen und anderen Technologien, die miteinander verbunden werden müssen, und all der Kommunikations- und Informationskanäle zwischen den Behörden, die installiert werden müssen, scheint das Projekt einer „gemeinsamen Überwachungs- und Informationsaustauschumgebung“ ein komplexes und herausforderndes Unterfangen zu sein, das mit Überlastungen, Reibungen und anhaltenden Kontroversen belastet ist.“ Nach Schätzungen von Pollozek kann das Hochladen eines Berichts auf JORA ganze 24 Stunden oder sogar noch länger dauern. Die Berichte der Frontex-Beamt*innen müssen zunächst verfasst und von drei Kontrollinstanzen überprüft werden – ein Prozess, der Zeit kostet. Eine Schwierigkeit besteht in dem hakenden Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme. Wenn Daten jedoch nicht als Lagebild in „Echtzeit“ genutzt werden können, dienen sie zumindest auch zur Erstellung einer Risikoanalyse für die Zukunft, um die Migrationsbewegungen besser einschätzen zu können.