Die IOM in Nordafrika

December 22nd, 2022 - written by: migration-control.info

Buchbesprechung von E.J., Editorial Team des Migration-Control-Infoprojekts

Dieses Buch von Inken Bartels ist für alle interessant, die sich für die Externalisierungspolitik in Nordafrika interessieren, speziell für die Rolle der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Marokko und Tunesien. Das Buch beschreibt (auf Englisch) die Aktivitäten der IOM zwischen 2005 und 2015, also in der Zeit starker Expansion der IOM und in einer Zeit, zu der die transmediterrane Migration gegenüber den (weitgehend ausgebliebenen) Migrationsbewegungen aus dem Osten für die EU zunehmend an Bedeutung gewann. Inken Bartels stellt den Zusammenhang der Ereignisse vor Ceuta und Melilla (2005) und der tunesischen Revolution (2011) mit dem “Durchbruch” der IOM überzeugend dar und untersucht die Praxis der IOM auf den Feldern der Informationskampagnen, der “freiwilligen” Rückkehrprogramme und der Politik gegen den “Menschenhandel”.

IOM

Intro: Die IOM-Kampagne von 2002

Bevor ich mich diesem Buch zuwende, möchte ich an eine No-Border-Kampagne gegen die IOM erinnern, die inzwischen 20 Jahre zurückliegt und in der eine grundsätzliche Kritik und Ablehnung dieser Organisation formuliert wurde:

  • “Freedom of Movement against Global Migration Management”
  • Gegen die von der IOM verwalteten Internierungs- und Todeslager (in Afghanistan, 2001)
  • Gegen die Zerstörung der Migrationswege durch Anti-Trafficking-Aktivitäten
  • Gegen die “freiwillige” Rückkehr als “sanfte” Deportation
  • Gegen die Dominanz der IOM in der Forschung und gegenüber abhängigen NGOs.

All diese Punkte sind auch heute noch aktuell, obwohl die IOM gelernt hat, vielfältig zu agieren und eine humanitäre und an den Menschenrechten orientierte Sprache zu pflegen. Damals wurde vom ARAB Bremen eine Broschüre herausgegeben, die auf diesem Info-Portal im Archiv zu finden ist – nicht nur aus Gründen der Sentimentalität, sondern weil viele Texte darin nach wie vor aufschlussreich sind. Die Kampagne gipfelte im Sommer 2003 darin, dass, ausgehend von den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Evian, drei tausend Menschen durch das “UNO-Viertel” in Genf zogen, um vor dem IOM-Gebäude für “Freedom of Movement” zu demonstrieren. Sie protestierten gegen Abschiebeprogramme und Internierungslager, gegen die Zerstörung von Fluchtrouten und die Rekrutierung billiger migrantischer Arbeitskräfte. Die Demonstration zog weiter zu den internationalen Agenturen WTO und WIPO – gegen den Anspruch auf eine kapitalistische Durchdringung der Welt, gegen das globale Migrationsregime und gegen “Global Governance”.[1] Die Kampagne wurde damals auf der No Border Homepage fortgesetzt, insbesondere mit einem IOM Counter-Bulletin, in dem die IOM ausführlich beschrieben und als “Spies and Migrant Hunters” bezeichnet wurde .

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der IOM kam indes nur langsam in Gang. Die IOM lässt forschen und dominiert die Forschung, indem sie die Daten und Diskurse liefert, aber sie lässt sich nicht gern beforschen und hält ihre Archive verschlossen. Die Dissertation von Susanne Schatral (2012)[2] blieb inmitten einer Reihe von kleineren Publikationen eine Ausnahme. Schatral beschrieb die Aktivitäten der IOM in der Russischen Föderation und der BRD (vor 2005 glaubten alle, auch die No Border Aktivist:innen, dass die nächsten großen Migrationsbewegungen aus dem Osten kommen würden). Die einleitenden, methodologischen Teile dieser Dissertation sind auch aufgrund einer Begriffswelt, die aus der Vorzeit der heute gängigen Ansätze der kritischen Grenzregimeforschung (wie sie im Zusammenhang des "Kritnet" entwickelt und verbreitet wurden) stammen, durchaus lesenswert: Schatral schreibt über Bürokratie, Framing und Wissensregime, und ihre Beschreibung von “Praxisregimen” entspricht dem von Inken Bartels entwickelten, an Bourdieu orientierten “praxeologischen” Ansatz in mancher Hinsicht.

Sieben Jahre später, 2019, kam das Buch von Fabian Georgi heraus, 2020 die Bücher von Megan Bradley sowie von Martin Geiger und Antoine Pécoud.[3] Zu den Büchern von Georgi und Bradley gibt es auf HsozKult eine informative Besprechung, in der bereits die Dissertation von Inken Bartels als „Geschichte der IOM von unten“ angekündigt wird. Diese Dissertation liegt dem hier besprochenen Buch zugrunde. Das wichtigste Verdienst dieses Buches ist, dass es den Fokus auf Nordafrika, nämlich Marokko und Tunesien, richtet und damit die Rolle der IOM bei der Externalisierung der EU-Flüchtlingsabwehr im Konkreten beschreibt.

Ausgangspunkte des Buchs

Anders als die eingangs erwähnte No Border Kampagne analysiert Inken Bartels die teils widersprüchlichen Interventionen der IOM nicht als Top-Down-Prozess, sondern sie versucht, durch die Analyse konkreter Interventionsfelder zu einem besseren Verständnis der Externalisierung der europäischen Migrationskontrolle und der Rolle der Internationalen Organisationen aus der Perspektive der nordafrikanischen Grenzregionen zu kommen. Ihre qualitativen Daten gewann sie durch teilnehmende Beobachtung, halbstrukturierte Interviews und Dokumentenanalyse während einer Feldforschung in Marokko und Tunesien zwischen 2013 und 2015.

Schon seit den 1990er Jahren hatte die IOM in Nordafrika Fuß fassen wollen, wie Bartels in ihrer Einleitung schreibt. Und schon lange hatten sich EU Akteure bemüht, den beiden Ländern, durch welche die Hauptmigrationswege aus Afrika in die EU verliefen, ihre Kooperation aufzudrängen. Endlich, 2004, wurde in beiden Ländern, in Erwartung von EU-Geldern, die unerlaubte Ausreise unter Strafe gestellt und Marokko kooperierte beim Bau der Zäune um Ceuta und Melilla. Die IOM spielte bei diesen Vorgängen noch keine Rolle.

Es waren zwei “Migrationskrisen” nötig, um die Regierungen in Marokko und Tunesien wie auch die Geldgeber in der EU davon zu überzeugen, auf die Dienstleistungen der IOM zurückzugreifen:

  • 2005 kam es an den schwer bewachten Zäunen von Ceuta und Melilla zu hundertfachen kollektiven Grenzübertritten
  • und 2011 überkreuzten nach der Tunesischen Revolution zehntausende das Mittelmeer. Und nach dem Sturz Gaddafis flohen hunderttausende über die tunesisch-libysche Grenze.

In Marokko war das EU Grenzregime an einem seiner höchst militarisierten Orte gescheitert. Und mit der Tunesischen Revolution hatte sich die Kooperation mit dem repressiven Ben Ali - Regime als nichtig herausgestellt. Die Akteure in der EU mussten nach neuen Wegen suchen – und neue Akteure traten auf den Plan, die weichere, weniger repressive Formen der externalisierten Migration-Control versprachen.

Als Reaktion auf diese Krisen und Konflikte des europäischen Grenzregimes wurden Marokko und Tunesien zu Laboratorien für neue Akteure, ihre Mittel und Methoden der Migrationskontrolle,

schreibt Bartels (S. 6).[4]

Heute sind sie die am stärksten integrierten nordafrikanischen Länder im expandierenden transmediterranen Grenzregime. Während viele Migrant:innen nach neuen Routen suchen und ihre Reisewege in Richtung Libyen umleiten, sind Marokko und Tunesien vergleichsweise stabile und verlässliche Kooperationspartner in der internationalen Migrationspolitik geworden. Diese Situation macht sie zu idealen Schauplätzen, um die entstehende Politik der internationalen Migrationssteuerung zu untersuchen.

Für diese Untersuchung sucht Inken Bartels ihr Rüstzeug zum einen im Repertoire der Literatur zum europäischen Grenzregime und zur “Autonomie der Migration” – darüber hinaus beschreibt sie einen praxeologischen Ansatz, der sich auf Bourdieu bezieht und der auf den Büchermarkt zu diesen Themen sicherlich einen Mehrwert darstellt. Sie schreibt (S.31):

Eine von Bourdieu inspirierte Sichtweise auf die Politik der internationalen Migrationssteuerung rückt die Kämpfe, Verhandlungen und Erfahrungen der Akteure in den Vordergrund der Analyse von Grenzregimen. Während ich diese Perspektive in erster Linie verwende, um die institutionelle Maschinerie zu untersuchen, die die Politik des internationalen Migrationsmanagements in die Praxis umsetzt, untersuche ich sie auch in Bezug auf die Kämpfe der Migration und die wiederkehrenden Krisen und Instabilitäten ihrer Kontrolle […]. Die Integration einer praxeologischen Perspektive in den Rahmen des Grenzregimes ermöglicht es mir, die Mikropolitik des Migrationsmanagements in Tunesien und Marokko als einen kontingenten und umstrittenen Prozess empirisch zu untersuchen, der durch globale Dynamiken, historische und geografische Kontexte sowie den praktischen Sinn und das implizite Wissen der Beteiligten geprägt ist.

Bourdieu’sche Perspektiven werden später im Buch, zum Beispiel für die Analyse konkreter und symbolischer Machtverhältnisse, in überzeugender Weise genutzt. Für die nicht-wissenschaftlichen Leser:innen sind die theoretischen und methodologischen Ausführungen vielleicht weniger interessant, aber Inken Bartels hat diese auf 25 Seiten erfreulich kurz und übersichtlich zusammengefasst.[5]

Der theoretischen und methodologischen Einleitung folgt ein Überblick über die Rolle der IOM im transmediterranen Migrationsmanagement.[6] Es folgen weitere Kapitel über die von der IOM inszenierten Informationskampagnen zur Verhinderung der Migration aus Marokko und Tunesien, über die Programme „freiwilliger“ Rückkehr in beiden Ländern, und ein Kapitel darüber, wie die IOM die Politiken gegen den Menschenhandel benutzt, um die Unterschiede zwischen Fluchthilfe, Menschenschmuggel und Menschenhandel gezielt zu verwischen und den Schutz missbrauchter und misshandelter Menschen für die Schließung der Migrationsrouten generell in Szene zu setzen.

Die IOM in transmediterranen Kontext

Das zweite Kapitel stellt die Rolle der IOM auf dem Feld des transmediterranen Migrationsmanagements informativ und übersichtlich dar. Diese Organisation ist der Rolle als Transporteur und Lagerverwalter längst entwachsen. Schon Fabian Georgi hat die “Neoliberalisierung” der IOM beschrieben, die seit den 1990er Jahren praktisch alle Aufträge annahm, die sich irgendwie verwerten ließen. Die IOM erlangte noch vor ICMPD und GIZ die Führungsposition in der Akquise von Aufträgen, die überwiegend von den USA und der EU finanziert wurden. Seit 2016 ist die IOM eine Unterorganisation der UN, hat aber anders als der UNHCR kein rechtliches Mandat und ist insbesondere nicht den Rechten der Migrant:innen verpflichtet, sondern allein ihren Auftraggebern.

Durch eine unternehmerische Projektorientierung sind die regionalen Niederlassungen der IOM von konkreten Aufträgen abhängig und prekär, während die Zentrale in Genf auf wechselnde Ereignisse und Auftragslagen flexibel eingehen kann. Die IOM definiert die “Probleme” und bietet sogleich die Lösungen mit ihrer internationalen Autorität, der sich insbesondere die Regierungen kleinerer Staaten kaum entziehen können.

Die IOM nimmt eine zunehmend wichtige Position bei der Externalisierung der Migrationskontrolle ein. Obwohl die Organisation nicht direkt an der Befestigung der EU-Außengrenzen beteiligt ist, dient sie doch als Vorposten für die europäische Grenz- und Migrationskontrolle in neuen Gebieten,

schreibt Inken Bartels (S.61), und Nordafrika spielt dabei eine zentrale Rolle:

Aufgrund seiner geografischen Lage und der zunehmenden politischen Veränderungen bot Nordafrika der IOM in den frühen 2000er Jahren ein "unternehmerisches Feld" oder "Testgelände" für die Ausweitung ihrer Managementpraktiken. Seitdem haben anhaltende Unsicherheit und Willkür die Position der IOM in den nordafrikanischen Grenzgebieten gestärkt. (S.63)

Zusammengefasst auf 13 Seiten beschreibt Bartels dann denn Wandel von der massenhaften Arbeitsmigration der 1970er Jahre hin zu den Abwehrmaßnahmen, die mit der zunehmenden Integration der EU und den Schengen-Verträgen ergriffen wurden. Es folgte die “Versicherheitlichung” des Grenzregimes in den 2000ern, verbunden mit der zunehmenden Externalisierung der Grenzkontrollen. Die marokkanische “Migrationskrise” von 2005 induzierte den “Global Approach to Migration” (GAM), der für die Folgejahre zum “Rückgrat der EU-Migrationspolitik” wurde. Die dominanten Diskurse aus dieser Zeit werden in diesem Buch bündig dargestellt.

In Nordafrika hat die Privatisierung, Transnationalisierung und sogar "NGOisierung" der Migrationspolitik neben den bestehenden institutionellen Strukturen neue Akteure auf den Plan gerufen. Neben die Regierungsstellen und Ministerien, Polizei und Militär traten internationale Experten, Privatunternehmen, IOs und NGOs – ein schwer entwirrbares Geflecht von Akteuren und Interessenlagen. Zugleich entwickelte sich hier und jenseits des Mittelmeers ein spezieller Arbeitsmarkt, ein Gemisch aus NGOs, Datensammlung und Forschung, der einer besonderen Untersuchung bedürfte. Die allermeisten Beschäftigten in diesem Sektor (mehr als 90%) sind keine Afrikaner:innen, sondern kommen aus der EU und anderen Kontinenten und stülpen den lokalen Akteuren den Hut der „Governance“ über.

Ein Unterkapitel widmet sich der Frage, auf welche Weise die Regierungen in Marokko und Tunesien versucht haben, in diesen Szenario eigene Interessen, insbesondere in Fragen der Visavergabe und der Arbeitsmigration, durchzusetzen. Für Marokko spielte natürlich immer auch die Westsaharafrage eine Rolle. Letztlich führten finanzielle Zusagen der EU dazu, dass 2004 in Tunesien und dann auch in Marokko die Ausreise unter Strafe gestellt wurde und sich die Regimes mit diesen Maßnahmen von den Bevölkerungen weiter entfremdeten. Dies war einer der Faktoren, die in der Arabischen Revolution eine wichtige Rolle spielten.

Es ist schade, dass der Zeitrahmen dieses Buches 2015 endet und dass die Radikalisierung des Externalisierungsregimes, seit dem Khartoum-Prozess 2014 und seit 2017 unter Missachtung der internationalen Rechtsnormen, keinen Eingang mehr in die Darstellung finden konnte. Inzwischen steht ja die Abwehr der Geflüchteten, um jeden Preis und unter Umgehung der einschlägigen Gesetze, ganz im Vordergrund und das Humanitäre dient vor allem der Akzeptanzregulation in Europa selbst. Der „New Pact on Migration and Asylum“ und die Aktionspläne zur “Operationalization of the Pact” sprechen eine ganz andere Sprache als sie zu Zeiten des GAM üblich war. Die IOM hat sich in diesen Prozess entsprechend eingeschaltet und verwaltet die meisten der EU-Gelder, die derzeit ungeschminkt für die Externalisierung der Flüchtlingsabwehr eingesetzt werden.

Informationskampagnen

Das dritte Kapitel ist den “Informationskampagnen” der IOM gewidmet, die in Marokko und in Tunesien lanciert wurden. Während diese Länder eindeutig lieber eine Kombination von Bildung, Entwicklung und (geförderter) Migration gesehen hätten, ging es den Geldgebern, allen voran Spanien und Italien, um “more development for less migration” oder, schlichter ausgedrückt, um “projects to make them stay”.

Inken Bartels untersucht ein Projekt in Marokko, das für Jugendliche in “benachteiligten Zonen” aufgelegt wurde. Zwei Drittel des IOM-Budgets für Marokko gingen in dieses Projekt, mit überschaubarem Erfolg. Von den 95.000 Jugendlichen, die in Frage gekommen wären, wurden 500 gefördert und letztlich konnten 50 in ein stabiles Arbeitsverhältnis vermittelt werden, das sie vielleicht zum Bleiben veranlasst haben könnte.

In Tunesien wurden mit großem Aufwand und unter Beteiligung einiger Jugendlicher 20 Videos produziert, um die Jugendlichen vom Besteigen der Boote abzuhalten. Auch diese Videos waren, wie Bartels schreibt, nicht sehr erfolgreich, gemessen an den niedrigen Klickraten auf den einschlägigen Kanälen.

Inken Bartels bezeichnet die Forderung nach Selbstoptimierung der Jugendlichen, bei fehlenden materiellen und strukturellen Veränderungen, als „neoliberal“, „individualisierend“ und disziplinierend“; und das vor dem Hintergrund einer repressiven, tödlichen Migrationspolitik. Sie analysiert die Situation mit den Bourdieu’schen Begriffen der symbolischen Ordnung und Gewalt und schreibt (S. 115):

Durch die Erstellung von Profilen solcher Risikogruppen und die gezielte Anwendung von Disziplinierungstechniken auf ihre Mitglieder übt die IOM eine symbolische Gewalt aus, die darauf abzielt, die Verantwortung für die Migrationskontrolle zu individualisieren und auf potenzielle Migrant:innen und ihre Gemeinschaften zu übertragen. Durch die Klassifizierung von Menschen und Regionen in rational und irrational, informiert und uninformiert, bevorzugt und missbilligt usw. greift die IOM in die symbolischen Ordnungen und Hierarchien der nordafrikanischen Gesellschaften ein. Während diese symbolischen Eingriffe von den Angesprochenen oft unerkannt bleiben, wirken sie sich auf die moralischen Ordnungen aus, wer erzogen werden muss und wessen Verhalten akzeptabel ist.

Vielleicht wäre es realistischer, zu sagen, dass die IOM ohne viel Erfolg versuchte, in die symbolischen Ordnungen einzugreifen. Die Kooperation mit den Projektpartnern wie auch mit den Jugendlichen selbst war, wie Bartels schreibt, schwierig. “Jeder will weg” – Bartels zitiert eine von der IOM in Auftrag gegebene Umfrage unter marokkanischen Jugendlichen aus dem Jahr 2010 (S. 92):

Ein "Index der Migrationsbereitschaft marokkanischer Jugendlicher" erklärt beispielsweise die Auswanderungswünsche junger Menschen aus Marokko als Ergebnis rationalen Denkens, individueller Entscheidungsfindung und Kosten-Nutzen-Analyse bestehender Möglichkeiten einerseits und ihrer Gefühle sozialer Marginalisierung, erfahrener Ablehnung und mangelnden Selbstwertgefühls andererseits. Nimmt man potenzielle Migrant:innen als rational handelnde, sensible, aber fähige Subjekte, so zeigt der Index, dass ihre Auswanderung nicht passiv oder unvermeidlich ist, sondern immer das Ergebnis einer aktiven Entscheidung für eine Option unter anderen. Symbolische Elemente wie das Glück, das mit der Freizügigkeit und dem Erwerb postmoderner Kompetenzen verbunden ist, sind Ziele für die Jugend von heute. Diese Elemente machen marokkanische Minderjährige zu potenziellen Bürger:innen einer vernetzten Welt, die bereit sind, "um jeden Preis" zu migrieren.

Ja, d’accord. Allergings war diese Studie von der IOM in Auftrag gegeben worden, um den Bedarf nach Informationskampagnen bei möglichen Geldgebern überhaupt erst zu wecken und deren Potentiale hervorzuheben: potentielle Migrant:innen werden als rational agierende, durch gezielte Projekte (der IOM) steuerbare Subjekte dargestellt. Ziehen wir die MENA-Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung (2016) hinzu, ergibt sich ein zusätzlicher Akzent: In Tunesien wollen mehr als die Hälfte der befragten Jugendlichen emigrieren – aber wem vertrauen sie? 90% von ihnen vertrauen der Familie und Freunden, aber nur 13% den UN und 13% der Regierung. Das Vertrauen in die IOM-Programme dürfte in dieser Größenordnung liegen.

Programme „freiwilliger“ Rückkehr

Marokko

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Militarisierung der Außengrenzen der Europäischen Union (EU) sowie zahlreicher rassistischer Übergriffe und repressiver Abschreckung von subsaharischen Migrant:innen in den nordafrikanischen Grenzgebieten suchten viele nach Möglichkeiten, ihre Migrationsrouten und -projekte zu ändern. Aus ihrer Sicht war die Teilnahme am AVRR-Programm (Assisted Voluntary Return and Reintegration - Unterstützte freiwillige Rückkehr und Reintegration) der IOM eine willkommene Alternative zur gefährlichen, spontanen Rückkehr sowie zu den staatlich erzwungenen Abschiebungen zu dieser Zeit. Infolgedessen machte die steigende Nachfrage unter den Migrant:innen, die an dem Programm teilnehmen wollten, die freiwillige Rückkehr zu einem florierenden Geschäft für die IOM in Marokko. (S.123)

Wie lief dieser Prozess ab? Bartels schildert ihn auf S. 131, im vierten Kapitel ihres Buchs:

Um die Prioritäten festzulegen, befragen die IOM-Mitarbeiter:innen potenzielle Rückkehrer:innen zu ihrer sozialen, wirtschaftlichen und physischen Situation in Marokko. Im Büro in Rabat sind es vor allem junge, ausländische Mitarbeiter:innen, die die Migrant:innen in Empfang nehmen, sie befragen, die Dokumente ausfüllen und den Transfer zur Botschaft organisieren. Sie bereiten auch die Reise vor und organisieren sie. Gemäß den standardisierten Verfahren müssen sie den potenziellen Rückkehrer:innen die Regeln des AVRR erklären und während des ersten Gesprächs Informationen für das Verwaltungsdossier der Person sammeln. Sie befragen die Migrant:innen zu ihrer Reiseroute, ihrem zivilen und sozialen Status und ihrer Motivation, zurückzukehren. In einem zweiten Gespräch muss der potenzielle Rückkehrer:in ein Wiedereingliederungsprojekt vorschlagen, das von der IOM finanziert wird und sechs Monate nach der Rückkehr beginnt.

Mit dem Programm wurden, wie Bartels schreibt, zwischen 2005 und 2016 etwa 6.800 Migrant:innen zurückbefördert – den finanzierenden Staaten war das zu wenig angesichts der 25-40.000 Menschen, die sich 2013 „illegal“ in Marokko aufgehalten haben sollen. Zweifellos gab es einen Nutzen für eine Reihe von Menschen, die in Marokko gestrandet waren: als 2010 und 2012 das Programm wegen Geldmangels vorübergehend unterbrochen wurde, gab es Proteste von Seiten vieler Migrant:innen. Seit 2013 beteiligte sich dann auch Marokko selbst an der Finanzierung.

Von „Freiwilligkeit“ konnte bei alledem allerdings nicht die Rede sein. Die IOM diktierte die Bedingungen. Vor allem aber funktionierte dieses Programm nur vor dem Hintergrund des alltäglichen Rassismus und des gewaltsamen Vorgehens der marokkanischen Behörden gegen die Migrant:innen, der wiederholten Razzien in den provisorischen Lagern vor Ceuta und Melilla, den Evakuierungen aus dem Norden in den Süden Marokkos, und auch den Deportationen über die Grenze hinweg nach Algerien.

Tunesien

Anders als in Marokko, wo die IOM sich Schritt für Schritt festsetzte, war die Organisation in Tunesien 2011 Teil einer umfassenden internationalen Intervention. Mehr als 350.000 Menschen flohen aus dem libyschen Kriegsgebiet nach Tunesien – unter ihnen 100.000 Tunisier:innen und noch mehr Libyer:innen, aber auch 10.000 Migrant:innen aus mehreren afrikanischen Ländern. Die IOM sprach, wie Bartels schreibt, von „einer der größten Migrationskrisen der Geschichte der Moderne“ und der „Tunesischen Migrationskrise“. Diese sogenannte „mixed migration crisis“ verlangte laut IOM nach außergewöhnlichen Maßnahmen. Die Organisation versprach, „den Notstand in Tunesien unter Kontrolle zu bringen und die Ausweitung der humanitären Krise zu verhindern“ (S.148), womit insbesondere die transmediterrane Ausweitung der Migrationsbewegungen gemeint war.

Die IOM tat nun als humanitäre Organisation im internationalen Krisenmanagement auf und verstärkte dadurch, wie Bartels schreibt, ihre symbolische Macht und ihr kulturelles Kapital.

Die humanitäre Präsentation ihrer Arbeit verlieh der Organisation eine neue moralische Autorität, die dazu beitrug, sich von anderen Dienstleistern zu unterscheiden. Darüber hinaus legitimierte diese humanitäre Wende ihr Eingreifen gegenüber tunesischen Akteuren: Da man glaubte, die Krise sei "zu groß, um von den direkt Betroffenen bewältigt zu werden", schien sie "außergewöhnliche Maßnahmen" und "Interventionen von außen" zu erfordern. Die Macht, zur symbolischen Gestaltung einer humanitären Krise beizutragen, ermöglichte es der IOM, eine dringende, unhinterfragte Nachfrage nach ihren Dienstleistungen zu schaffen und ihre Aktivitäten auf neue Handlungsfelder auszuweiten. (S.150)
Die Produktion und Verbreitung von Wissen war ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses. Auf der Grundlage des Screenings von Menschen, die die Grenze überquerten, und der Registrierung persönlicher Informationen erstellte die IOM Statistiken, Visualisierungen, Karten und Profile der Bewegungen, Bedürfnisse und Zukunftswünsche von Migrant:innen und erschuf durch die Kombination dieser Formate die Realität der "Tunesischen Migrationskrise", die sie an die Weltöffentlichkeit und die europäische Politik übermittelte. (S.149)

Die IOM positionierte sich mit diesen Mitteln als unverzichtbar im Krisenmanagement. Zusammen mit dem UNHCR und transnationalen NGOs errichtete sie mehrere Lager auf der tunesischen Seite des Grenzgebiets zu Libyen und war in diesen Lagern für die Logistik zuständig. Außerdem lagen die Selektionsprozesse an der Grenze und das Transportwesen in ihrer Zuständigkeit. Am Ende des Jahres 2011 waren 4.000 Menschen als Flüchtlinge anerkannt und vom UNHCR in andere Länder umgesiedelt worden. Die IOM hatte 6.000 Menschen bei der „freiwilligen“ Rückkehr unterstützt. Viele weitere hatten Tunesien auf eigenen Wegen verlassen.

Bei der Selektion wurden die Menschen aus als unsicher eingestuften Herkunftsländern an den UNHCR überwiesen, die anderen wurden zum Gegenstand der IOM-Prozeduren. Mit dem Kriterium der Vulnerabilität wurde eine neue Kategorisierung geschaffen:

Durch die Kategorisierung von Migrant:innen im Transit zieht die IOM eine "Grenze zwischen denjenigen, die als zugehörig gelten und besonderen Schutz genießen, und denjenigen, die außerhalb der moralischen Gemeinschaft stehen, um die sich eine bürokratische Ethik kümmert". Für die meisten Migrant:innen [...] war die Kategorie der Flüchtlinge und Asylbewerber:innen jedoch kaum anwendbar. Bei diesen Migrant:innen wurde das Konzept der Verwundbarkeit zum entscheidenden Sortierkriterium, auf dem die Aufnahme in und der Ausschluss aus dem Programm der IOM beruhte. Um die Unterstützung der IOM zu erhalten, mussten die Migrant:innen nicht nur eine überzeugende Geschichte erzählen, sondern auch "ihre Pathologie beweisen". (S. 153)

Bartels spricht von einem „Devide, Rule and Return-Approach“, der, mit Michel Agier gesprochen, zu einer „Hierarchie des Unglücks“ unter den Migrant:innen führte.

Choucha

Choucha war im Februar 2011 als erstes Lager in Tunesien seit dem Krieg in Algerien errichtet worden. In der Wüste gelegen, 9 km entfernt von der Grenze nach Libyen, stand es unter der Leitung des UNHCR und wurde von der IOM und dem Danish Refugee Council betrieben. Mit zeitweise 20.000 Menschen war die Kapazität weit überschritten und es mangelte an Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Zwischen den unterschiedlichen Communities kam es zu Spannungen.

Dennoch galt Choucha als „Luxuscamp“ und wurde ausländischen Politiker:innen, VIPs und Journalist:innen immer wieder vorgeführt. Inken Bartels schreibt:

Aus Angst, dass Konflikte und Krisen von Libyen [auf Tunesien] übergreifen könnten, das als Musterland des Arabischen Frühlings galt, wollten die internationalen Akteure unbedingt, dass die Intervention der internationalen Organisationen zu einer Erfolgsgeschichte wurde. [...] Zwischen langen Reihen rasch aufgestellter Zelte brachten sie das Mitgefühl und das Engagement der internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck, "dauerhafte Lösungen" für die verzweifelten Menschen zu finden. (S.154)

Bereits im Herbst 2011 fuhr der UNHCR jedoch die Versorgung des Lagers zurück und drehte, Anfang 2013, auch den Strom ab und reduzierte die Wasserversorgung, um die Menschen für das IOM-Rückkehrprogramm zugänglich zu machen. Von der internationalen Agenda war das Lager längst gestrichen. Zurück blieben etwa 1.000 Menschen, die im Lager von Choucha weiter auf eine Lösung warteten. “Choucha does not exist anymore. Those who are still there are only nomads in the desert,” soll jemand aus der IOM 2014 gesagt haben. (S. 161)

Aber die letzten Verbliebenen weigerten sich, das Camp zu verlassen. Es entwickelte sich eine aktivistische Gruppe, die Rejected Refugees of Choucha, die auf ihr Recht auf Resettlement bestanden und auf eine akzeptable Lösung hofften.[7]

"Das Lager ist nicht geschlossen. Wir leben immer noch dort", betonte ein abgewiesener Flüchtling (Gespräch mit einem Flüchtling aus Choucha, Tun. 2015) und korrigierte damit das vorherrschende Narrativ. Im Gegensatz zum "Choucha existiert nicht"-Konsens und der "Geisterstadt"-Rhetorik der internationalen Organisationen und der tunesischen Behörden lehnten sich die als abgewiesen bezeichneten Personen gegen ihre Klassifizierung auf. Sie begannen, für ihre Sichtbarkeit und für Choucha als einen Ort ihres unvollendeten Kampfes zu kämpfen, um internationale Anerkennung und Schutz zu erhalten. Aus diesem Grund zogen sie es vor, in dem inzwischen selbstorganisierten Lager in der Wüste zu bleiben - oder sogar dorthin zurückzukehren. [...] In den südtunesischen Städten, in denen sie lokal integriert werden sollten, erlebten sie rassistische Diskriminierung und konnten weder formale Arbeitsplätze noch bezahlbare Schlafplätze finden. (S.163)

Die IOM Mitarbeiter:innen

Interessant sind auch die Anmerkungen, die Inken Bartels zum Personal in den Lagern macht. Angestellte aus Sub-Sahara Afrika gab es dort nicht, auch keine Übersetzer:innen für afrikanische Sprachen.

Viele junge, manchmal unerfahrene Helfer:innen, hoch motiviert und sehr engagiert, wurden schnell geschult und mussten sich bei ihrer Arbeit auf internationale Leitfäden für humanitäres Krisenmanagement stützen. Wir haben "on the job" gelernt", erklärte einer von ihnen stolz. Trotz einer starken Identifikation mit ihrer Arbeit und einem eher unhinterfragten Glauben an den Nutzen des Einsatzes lässt sich der individuelle Habitus dieser jungen Helfer:innen als hochgradig karriereorientiert, mobil und motiviert charakterisieren, bereit, zur nächsten Krise weiterzuziehen, sobald sie ihren Auftrag in Südtunesien erfüllt hatten. (S. 154)

Ähnliche Beobachtungen machte Bartels im IOM Büro in Tunis:

Die IOM-Mitarbeiter:innen haben ihre persönliche und emotionale Sorge um diese Menschen aufrichtig zum Ausdruck gebracht. Sie stehen in engem Kontakt mit den Migrant:innen, denen sie helfen. Sie sind mitfühlend und versuchen, die bestmöglichen Lösungen zu finden.

Aber, so fährt Bartls fort,

Dennoch scheinen die Kriterien und Kategorisierungen derjenigen, die ihrer Hilfe würdig sind – und derjenigen, die es nicht sind – tief verinnerlicht zu sein und werden selten in Frage gestellt. Während meiner Interviews war es offensichtlich, dass die IOM-Mitarbeiter:innen lieber über das "Leiden und Mitgefühl statt über Interessen und Gerechtigkeit" sprachen. In ihrem festen Glauben an den moralischen Wert ihrer Arbeit stellten sie die Regeln, Annahmen und routinierten Verfahren, die ihren Auftrag definieren, nur selten in Frage. (S. 157).

Bartels beschreibt die Beziehung zwischen der Entrechtung der Geflüchteten, dem „humanitarian government“ und der Disposition der IOM-Mitarbeiter:innen in den Lagern und Büros:

Auf diese Weise trägt die IOM aktiv zur Externalisierung der "humanitären Grenze" in die Transit- und Herkunftsländer bei. […] [Das humanitäre Programm] entspricht auch dem Selbstverständnis und der Identifikation ihrer Mitarbeiter:innen als humanitäre Helfer:innen. Mit einer Kombination aus institutioneller Taktik und persönlichem Mitgefühl konzentrieren sie sich bei ihrer Arbeit auf die Linderung des Leids und des Unglücks von Migrant:innen und nicht auf die Gewalt und Ungerechtigkeit, denen diese im Transit ausgesetzt sind. (S.173)

Die Politik gegen den „Menschenhandel“

Das fünfte Kapitel dieses Buches ist der Art und Weise gewidmet, wie sich die IOM des Themas Menschenhandel annimmt und es als Vehikel benutzt, um Einfluss zu gewinnen auf wissenschaftliche Debatten, politische Diskurse und nicht zuletzt auf marokkanische und tunesische Institutionen und Entscheidungsträger.

In den sich ausweitenden internationalen politischen Diskursen wird der Menschenhandel vor allem als Problem internationaler krimineller Netzwerke, illegaler Prostitution und der Grenzsicherung dargestellt. Diese Probleme machen eine verstärkte transnationale Strafverfolgung, den Schutz von Frauen und restriktivere Migrationskontrollen erforderlich. So wurde die Bekämpfung des Menschenhandels gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem heißen Thema der internationalen Grenz- und Migrationspolitik. Die IOM ist seit Mitte der 1990er Jahre an der Politik zur Bekämpfung des Menschenhandels beteiligt. Die Organisation entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Akteur in diesem Bereich […]. (S. 186)

Als die EU versuchte, ihre Außengrenzen zu schließen, und die Migrant:innen damit auf zunehmend unsichere Routen zwang und die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer anstieg, wurde dieses Thema propagandistisch in Szene gesetzt, um Schmuggler und Menschenhändler als für die Todesfälle Schuldige zu präsentieren.

Die IOM förderte aktiv das vorherrschende Narrativ der bösen Schmuggler und kultivierte eine diskursive Verbindung zu dem zunehmenden Phänomen des Menschenhandels. Darüber hinaus reagierte die Organisation auf die europäische Migrationspolitik, indem sie anbot, Projekte zur Bekämpfung des Menschenhandels in Transit- und Herkunftsländern durchzuführen. (S.187)

Zwar unterscheiden die Protokolle von Palermo aus dem Jahr 2000 ausdrücklich zwischen Menschenhandel und Menschenschmuggel,[8] aber der IOM war, im Einvernehmen mit ihren Financiers, daran gelegen, diese Grenzen diskursiv zu verwischen. Letztlich ging es, wie Bartels es an vielen Punkten deutlich macht, um die Zerstörung der Migrationsrouten unter dem Vorwand der Sorge um missbrauchte Frauen und Kinder.

Marokko war 2008 das erste nordafrikanische Land, in dem die IOM eine entsprechende Kampagne auflegte. Bartels beschreibt, dass der „Menschenhandel“ in Marokko eigentlich kein Thema war – es ging um „Menschenschmuggel“ und um Grenzkontrollen. Auch in Tunesien war dieses „Problem“ weitgehend unbekannt, bevor es zum Thema einer der wichtigsten IOM-Interventionen nach 2011 wurde. (S. 189) Für diese Zwecke musste zunächst "Wissen" geschaffen werden. Zwar gab es nur sehr wenige bekannte Opfer von Menschenhandel (S. 193 f.) – vor allem Frauen aus Benin City, aber sowohl in Marokko als auch später in Tunesien konstruierte die IOM einen „empirischen Link“ zwischen Migration und Menschenhandel, indem sie „diskursiv beides mit Menschenschmuggel und organisierter Kriminalität in Zusammenhang brachte“. (S.191) Geschichten und Bilder von passiven, hilflosen Frauen standen im Zentrum der IOM-Diskurse gegen den Menschenhandel in Nordafrika. (S. 204 ff) Es ging nun schon lange nicht mehr darum, eventuell asylberechtigte Personen auszufiltern, sondern die „vulnerablen“ Personen zu identifizieren und zurückzuführen.

Die internationalen Konferenzen

Das „Spiel der Internationalen Konferenzen“, das Inken Bartels in einem Unterkapitel beschreibt, ist aufschlussreich in Hinsicht auf die Schicht der Agent:innen der „Governance“ und ihrer lokalen Adepten. Diese immer gleichen Treffen an den Buffets in teuren Hotels, die Power-Point Präsentationen mit den immer gleichen Stichworten, die „best practices“ und die „lessons learnt“.

Auf den ersten Blick scheinen Europa, die EU und ihre Mitgliedstaaten keine besonders prominente Rolle zu spielen; die bei solchen Anlässen vorherrschenden Diskurse weisen jedoch auf ihren symbolischen Einfluss hin. Der globale politische Diskurs zur Migrationssteuerung, der sich durch alle Präsentationen, Diskussionen und Veröffentlichungen zieht - und der überwiegend in französischer Sprache geführt wird - ist mit europäischen Konventionen, Standards und Definitionen kompatibel. (S.197)

Marokkanische bzw. tunesische Vertreter:innen scharen sich um die IOM, auf der Suche nach Anbindung und Renommee. (S.201) Die IOM wird nicht direkt für die Externalisierungspolitik der EU beschuldigt, sie ist nicht Frontex, sie tötet nur indirekt und bewegt sich auf dem Terrain der Soft Power. Letztlich geht es dabei um „Building Capacities and Negotiating Laws“, wie Bartels in einem Unterkapitel schreibt.

Fortsetzung

Das in vieler Hinsicht spannende Buch von Inken Bartels sei hiermit allen empfohlen, die sich mit der IOM über klare Abgrenzungen hinaus beschäftigen wollen. Klar, die IOM ist Lagerverwalterin, sie betreibt ein Wissensregime und zerstört Migrationswege. In erster Näherung mag diese Charakterisierung ausreichend sein. Aber es gibt ja wirklich diese Vulnerabilitäten, IOM betreibt das Missing-Migrants-Projekt, und wir können über Soft Power nicht sprechen, wenn wir in diese Ambivalenzen nicht eintauchen. Über die IOM in den Jahren nach 2015 hat Inken Bartels auf diesem Info-Portal geschrieben.

Inken Bartels hat uns mit diesem Buch sehr wertvolle Hinweise zur Entstehung dieser IOM-Welt aus „Wissen“ und zur Produktion von Praktiken und Diskursen des Migrationsmanagements geliefert. Gegen dieses „Wissen“ brauchen wir eigenes Wissen, das nur aus unmittelbarer Erfahrung kommen kann, aus dem engen Kontakt mit Geflüchteten und Migrant:innen, aus einem „Worlding from Below“,[9] an dem wir teilhaben und das nicht an internationale Organisationen wie die IOM verkauft werden darf.

Inken Bartels (2021): The International Organization for Migration in North Africa. Making International Migration Management. London and New York (Routledge), 248 Seiten

https://www.routledge.com/The-International-Organization-for-Migration-in-North-Africa-Making-International/Bartels/p/book/9781032068541

Footnotes

  1. Einzelheiten sind der erwähnten Broschüre auf S. 31 zu entnehmen.

  2. Susanne Schatral (2012): Menschenrechte und der Kampf gegen Trafficking. Projekte der Internationalen Organisation für Migration in der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Universität Bremen)

  3. Georgi, Fabian (2019): Managing Migration?. Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Berlin; Bradley, Megan (2020): The International Organization for Migration. Challenges, Commitments, Complexities. London; Geiger, Martin, and Antoine Pécoud (2020): The International Organization for Migration: The New ‘UN Migration Agency’ in Critical Perspective. Basingstoke

  4. Übersetzungen der Zitate durch den Rezensenten

  5. Es gibt eine Reihe von englischsprachigen, in Buchform veröffentlichten Dissertationen, die ihre methodologischen Bestandteile im Text auflösen und so das Lesen leichter machen. Meine Favorites sind Natasha King (2016): No Borders. The Politics of Immigration Control and Resistance, London (Zed Books) und Isabella Alexander-Nathani (2021): Burning at Europe’s Borders. An Ethnography on the African Migrant Experience in Morocco, Oxford (Oxford University Press)

  6. Eine Inhaltsangabe und Kurzbeschreibung des Buchs findet sich unter https://www.routledge.com/The-International-Organization-for-Migration-in-North-Africa-Making-International/Bartels/p/book/9781032068541

  7. Vgl. https://chouchaprotest.noblogs.org/; siehe auch die Dokumentationen unter https://www.borderline-europe.de/search/node/choucha und https://archiv.ffm-online.org/?s=choucha&id=56410

  8. https://en.wikipedia.org/wiki/Protocol_to_Prevent,_Suppress_and_Punish_Trafficking_in_Persons,_Especially_Women_and_Children; https://en.wikipedia.org/wiki/Protocol_Against_the_Smuggling_of_Migrants_by_Land,_Sea_and_Air

  9. Dieser Begriff stammt von AbdouMaliq Simone, On the Worlding of African Cities, in: Peter Geschiere / Birgit Meyer / Peter Pels (Hg.), Readings in Modernity in Africa, London 2008. Der Begriff „worlding“ wurde von G. C. Spivak (1985) eingeführt, um die Kolonisierung des Raums in Indien zu beschreiben.